Schattenblick → INFOPOOL → SCHACH UND SPIELE → SCHACH


SCHACH-SPHINX/06055: Eine kleine Ironie (SB)


Grau ist alle Theorie, sagte schon Goethe und verwies auf das Studium der Natur. Auch der französische Philisoph und gern als Gesellschaftskritiker ausgegebene Jean-Jacques Rousseau kam zu dieser Erkenntnis. Hierzu machte er den Umweg über das Schachspiel, und das trug sich so zu: Er zählte bereits zwanzig Jahre, als ihm ein Freund namens Bagueret die Regeln des Königlichen Spiels beibrachte. Der Freund, ein nur leidlich guter Spieler, machte sich mit Rousseau einen Spaß und gab ihm einen ganzen Turm vor. Diese Großzügigkeit, mit einem Turm weniger zu spielen, bereute Bagueret an diesem Abend jedoch. Der lernbegierige Rousseau begriff rasch, worauf es in diesem Spiel ankam und konnte zuletzt seinerseits seinem gönnerhaften Freund einen Turm vorgeben. Das Fieber der Schachkunst hatte den jungen Philosophen voll und ganz gepackt. In den nächsten Wochen studierte er Tag und Nacht das Strategiebuch Philidors und übte sich in den Kombinationen mit dem Werk Stammas. Schließlich, seine Augen strahlten in der Überzeugung, es nun mit jedem Meister aufnehmen zu können, ging er ins Café de la Régence, wo seinerzeit die Elite der französischen Schachspieler verkehrte. Doch das Schicksal wollte es, daß der junge Rousseau vor größerer Unbill der Seele bewahrt wurde, denn er lief seinem Freund Bagueret direkt in die Arme. Und Rousseau sagte sich, 'ehe ich die großen Meister zum schachlichen Duell fordere, will ich mich erst ein wenig einstimmen'. Doch seine Enttäuschung war groß. Alle Kreativität, die einem jungen Spieler zuweilen auszeichnet, schien durch das Büffeln der Theorie ausgelöscht zu sein. Rousseau verlor an diesem Abend alle Partien, blieb zwar ein Freund des Königlichen Spiels, verdammte jedoch die Auswirkungen der Theorie, die seinen Geist so gänzlich hatte verdorren lassen. Zuletzt konnte ihm Bagueret sogar wieder einen Turm vorgeben. Mag sein, daß dieser Anstoß bei Rousseau zu ebenjenen berühmtgewordenen Worten 'zurück zur Natur' führte. Im heutigen Rätsel der Sphinx konnte Rousseau dagegen auch schachlich aufglänzen. Mit den weißen Steinen zwang er dem Prinzen Conti nach nur 16 Zügen zur Aufgabe. Also, Wanderer, ob diese kleine Anekdote die Wahrheit spricht oder nicht, befinde selbst! Jedenfalls hatte unser allzu waghalsiger Prinz zuletzt 12...e5xd4 gespielt.



SCHACH-SPHINX/06055: Eine kleine Ironie (SB)

Rousseau - Prinz Conti
Paris 1759

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
1...Ke7xf8? hätte 2.Sd4-e6+ zur Folge gehabt, schied also aus. 1...Ke7- d7 verbot sich wegen 2.Tf8-f7+ und auch das Roß konnte nicht in die Schachlinie springen, weil es den Turm auf b7 decken mußte. Die vierte Möglichkeit verhalf Botwinnik jedoch zu einem Sieg: 1...Th4-e4! 2.f3xe4 Tb7xb2+ 3.Kb1xb2 Dc5-b6+ 4.Kb2-c2 Ke7xf8 und Schwarz gewann.


Erstveröffentlichung am 29. Dezember 2003

20. Dezember 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang