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SCHACH-SPHINX/05947: Jungfräulicher Wind in alten Stuben (SB)


Wenn Einfachheit Fragen aufwirft, dann nennen wir sie Tiefe und entledigen uns so der Mühe einer klärenden Auseinandersetzung. Die Schachkunst hat viele Legenden gestrickt; und der kubanische Weltmeister José Raoul Capablanca gehört mit Abstand zu den am meisten mythologisierten Figuren auf der 64feldrigen Weltbühne. Sein Erscheinen hatte etwas Kometenhaftes, und auch ein jungfräulicher Wind wehte wieder in den alten Turnierhallen des Königlichen Spiel. Europa war nahe dran, unter den Dogmen des Positionsspiels zu ersticken, die von Wilhelm Steinitz und vornehmlich Siegbert Tarrasch zu Papier gebracht worden waren, als mit Capablanca ein Talent auftauchte, das keiner Schule angehörte und Schach so natürlich und ungekünstelt spielte, daß viele, beispielsweise Richard Réti, in ihm einen Propheten des Wandels zu erblicken glaubten. Gradlinigkeit, wo zuvor allzu schablonenhaft gedacht wurde, Zweckreinheit in den Ausführungen, Sauberkeit des Plans, Präzision im Handwerk, klare Kombination auf einem engen verläßlichen Terrain statt schwindelerregender Wagnisse, all das zeichnete den Kubaner aus. Mit Sicherheit war er keine Wagnersche Sturmgestalt, doch auch keine Rokoko-Figur der Geziertheit. Das Feld, das er durchschritt und auch für andere begehbar machte, die Ideen, die er der Welt schenkte, und nicht zuletzt die Rückbesinnung auf einfache Denkstrukturen mit immenser Durchschlagskraft machte aus ihm die "Schachmaschine". Doch wozu soviel Worte verschwenden, wenn es Réti mit einem einfachen Satz so treffsicher formuliert hatte: "Schach ist seine Muttersprache." Im heutigen Rätsel der Sphinx aus dem WM- Kampf in Havanna zeigte sich Capablanca so souverän, daß selbst Lasker mit seinem gesunden Menschenverstand den kürzeren zog. Also, Wanderer, wie führte Capablanca die weißen Figuren zum Sieg? Lasker hatte zuletzt 1...Ta5-a4 gespielt.



SCHACH-SPHINX/05947: Jungfräulicher Wind in alten Stuben (SB)

Capablanca - Lasker
Havanna 1921

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Kortschnoj bewies, daß er von seiner alten Frische nichts eingebüßt hatte, als er auf 1.f6-f7 den niederschmetternden Zug 1...Lh6xf4!! fand. Wie tief diese Antwort durchdacht war, zeigte der Partieverlauf: 2.f7-f8D Lf4xe3+ 3.Kg1-h1 Le3-h6 4.Df8-f2 Lh6-g7 5.a5-a6 Tb3-f3 6.Df2- e1 Lb7xa6 7.Lf1-e2 Tf3-f7 8.Da7-c5 c4-c3 9.Dc5xc3 La6xe2 10.De1xe2 De6- f6 11.Dc3-c1 Lg7-h6 12.Dc1-b1 Df6-f5 13.Kh1-g1 Tf7-c7 und Karpow mußte trotz seiner beiden Damen die Segel streichen. Hinterher fanden die Analytiker in 2.f7-f8S+! den besseren Zug, wenngleich auch hier Kortschnoj nach 2...Kh7-h6 3.g3xf4 - bzw. 3.Sf8xe6 Lf4xe3+ 4.Kg1-h1 Tb3-b1 - 3...De6-f7 4.a5-a6 Df7xf4 5.Se3xd5 Tb3xg3+! 6.h2xg3 Df4xg3+ 7.Kg1-h1 Dg3-f3+ 8.Kh1-g1 h3-h2+ 9.Kg1xh2 g4-g3+ oder 4.Se3xg4+ Kh6-h5 5.Da7-b8 Kh5xg4 6.Lf1-e2+ Tb3-f3! gewonnen hätte.


Erstveröffentlichung am 15. September 2003

03. September 2016


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