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SCHACH-SPHINX/05768: Flut der Fragezeichen (SB)


Zu keinem anderen Aspekt gibt es in der Schachtheorie eine größere, schäumendere Flut der Fragezeichen als bei dem, was ein richtiger Zug sein soll. Paradoxerweise wird diesem zumeist mit einem lässigen Fingerwink ein erklärerischer Rahmen übergestülpt. Er ist richtig, weil alle anderen falsch oder weniger richtig sind. Ansonsten erfährt der eifrige Novize nur, warum dieser oder jener Zug positionswidrig und damit glattweg am strengen Lauf der Logik vorbeiführt. Lautet die Milchmädchenrechnung also, daß nach Abzug aller fehlerhaften Möglichkeiten das schillernde Kristall des richtigen Zuges übrigbleibt? In welchem Verhältnis steht dieses "richtig" auch sonst? Da werden bestimmte Züge jahrzehntelang wie Ikonen geheiligt und plötzlich taucht aus einer bisher unberücksichtigten Ecke der alles widerlegende Einfall auf. Ein Stimmengewirr hebt an, und hinterher schart sich die betrogene Schar der Theoretiker um den neuen "richtigen" Zug und behauptet, ihn nun endlich gefunden zu haben. Paradox? Keinesfalls, denn wir haben ja immer nur gelernt, nach dem dogmatischen Denkkonzept der richtigen und falschen Züge, wie übrigens im Leben auch, zu fragen. Daß richtig oft nur zeitgemäß bedeutet, und das Zeitgemäße später als falsch verworfen wird, belegt im Grunde auch die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit. Das Einzige, was stets überdauerte, war das Tabu, und gibt es etwas Tabuisierteres als die Behauptung eines richtigen Weges? Alexander Aljechin scherte sich offenbar wenig um diese begriffliche Schablone, spielte im Weltmeisterschaftskampf 1937 gegen Max Euwe ein zweifelhaftes Gambit und gewann dennoch. Mit seinem letzten Zug 1...Sf6-h5 lud Euwe das russische Kombinationsgenie zu einer eleganten Gewinnwendung ein. Also, Wanderer, an dich die Frage im heutigen Rätsel der Sphinx: Welchen "Fehler" hatte Euwe gemacht?



SCHACH-SPHINX/05768: Flut der Fragezeichen (SB)

Aljechin - Euwe
WM 1937

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Die Chance, mit einem Qualitätsopfer auf Angriff zu spielen, ließ sich Garry Kasparow natürlich nicht nehmen und so zog er nach 1...Sb4-c2 2.Le2-f3. Schließlich ist ein König mehr wert als ein Turm, wie Speelman noch erfahren sollte: 2...d6-d5 3.Lf3xd5 Sc2xa1 4.Sb5xa7+ Kc8- b8 5.Dd2-b4! und plötzlich drohte der schwarzen Majestät eine kombinatorische Hinrichtung. Um sich aus seiner Misere zu befreien, gab Speelman demütig die Dame her, aber die Schlinge saß schon zu fest um seinen Hals: 5...Dd7xd5 6.c4xd5 Sa1-c2 7.Db4-a5 Sc2xe3 8.f2xe3 Th8- e8 9.Sa7-b5 Td8xd5 10.Da5xc7+ Kb8-a8 11.Dc7-a5+ und Schwarz gab auf. Weitere Materialverluste waren unvermeidlich.


Erstveröffentlichung am 22. März 2003

07. März 2016


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