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SCHACH-SPHINX/05534: Der Rabbi und der Armenier (SB)


Eine kleine Schachphantasie, und doch ist vieles wahr daran. Ein dunkler Raum, von Myrrhe durchräuchert. Nur schwaches Licht fällt im hinteren Teil auf einen grob gehobelten Tisch. Kisten, Kartons, alte Schränke, Teppiche, alles zusammengewürfelt, verschluckt die andere Hälfte des Raumes. Atemlos still ist es hier. Am Tisch, die Köpfe vornübergebeugt: zwei Schachspieler. Seit Stunden brüten sie über dem Brett, nur gelegentlich durchbrochen von raschen Handbewegungen, die einzelne Figuren mal hierhin, mal dorthin bugsieren. Der eine Spieler ist in einem Kaftan gekleidet; über den Schläfen kringeln sich lange Locken. Er hat gerade einen Zug gemacht. Da zischt der andere: "Mistzug! Habe ich gar nicht gesehen!" Der Rabbi, denn um einen solchen handelt es sich beim anderen, bleibt ruhig und entgegnet nur einsilbig: "Nitschewo!" Seine Eltern kommen aus Rußland. Nun sitzt er mit seinem Schachfreund, einem Armenier, in einem New Yorker Keller, Rückzugsstätte für beide vor der blinden Wut der städtischen Kulisse. Der Armenier zieht, grummelt und kaut wieder an einen Fingernagel. Der Rabbi hingegen bleibt wie ein Felsen unbewegt. Nur unter seinen müden Lidern flackert ein unbeständiger Blick hervor. Nach einer Weile zieht er. Mühsam ringt er das Lächeln nieder, das auf seine Lippen huschen will. Doch der Armenier hat es trotzdem gesehen, ruckt auf dem Stuhl herum, legt das rechte Bein über das linke Knie, vertieft sich wieder in die Stellung. Endlich scheint er einen Weg gefunden zu haben. Er zieht, aber das Lächeln stirbt ihm auf den Wangen, als der Rabbi ohne Verzögerung Schach bietet. "Ein Ganeff, bist du", spricht er den Rabbi unverhohlen an. "Findest du solche Züge, wenn du in deiner Thora liest?" Der Armenier hatte sich eigens für diesen Tag eröffnungstheoretisch schlau gemacht, allein der Rabbi fand dennoch die richtigen Entgegnungszüge. Nun wiegt dieser den Kopf, grinst und murmelt unter seinem Bart hervor: "Mag sein, daß mich der Gott der Bücher geleitet hat ...", und hält einen kleinen, aber bedeutungsschweren Augenblick lang in seiner Rede inne, ehe er seine Zähne zu einem offenen Lächeln bleckt und fortfährt, " ...als ich heute morgen in einem Schachbuch nachsah, was man in dieser Variante noch spielen kann." Der Armenier flucht in sich hinein und verliert zehn Züge später. Vielleicht war zwischen beiden zuletzt eine ähnliche Stellung entstanden wie im heutigen Rätsel der Sphinx zwischen Boleslawski und Keres. Ersterer, materiell im Nachteil, hatte 1.f2-f4 gezogen und Keres die Falle 1...Td8xd3? gestellt. Also, Wanderer, machte Keres den Fehlzug, und wenn nein, wie siegte er dann?



SCHACH-SPHINX/05534: Der Rabbi und der Armenier (SB)

Boleslawski - Keres
Zürich 1953

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Die stärkste Figur im schwarzen Lager war der Läufer auf e3. Also zog Marshall 1.Lb2-c1!, tauschte den Störenfried ab und zog nach 1...Le3xc1 2.Ta1xc1 Sf7-h8 3.c4-c5! mit der Drohung 4.Le2-c4+ nebst g5- g6 und Dh4-f6, worauf Nimzowitsch, um nicht schmählich unterzugehen, lieber gleich aufgab.


Erstveröffentlichung am 02. August 2002

13. Juli 2015


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