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SCHACH-SPHINX/05510: Großzügigkeit der Gesten (SB)


Nachdem der amerikanische Meister Paul Morphy bei seiner Rundreise durch Europa zur Herausforderung aller namhaften Schachmeister in England mit den Siegen über Löwenthal und Owen mit keinem ernsthaften Gegner mehr rechnen konnte, wendete er sein Gesicht Paris zu, setzte im Winter 1858 über den Kanal und eroberte in der französischen Seine- Metropole das berühmte Café de la Régence, wo seinerzeit die fähigsten Meister der Schachkunst ein und aus gingen. In dieser temperamentvoll schwülen Atmosphäre aus Halbwelt und Amüsement, aus künstlerischer Avantgarde und politischen Hitzköpfen fühlte sich Morphy an seine Heimatstadt New Orleans erinnert. Von seinem Ruf angelockt, kam im Dezember 1858 der deutsche Mathematikprofessor aus Breslau, Adolf Anderssen, nach Paris, um mit Morphy einige "Ehrenpartien" zu spielen. Die strenge winterliche Nässe hatte den an heiße Klimate gewohnten Amerikaner jedoch malade gemacht, so daß er im Krankenbett lag, als Anderssen an seine Tür klopfte. Anständigerweise sah der Breslauer Meister von einem Wettkampf unter diesen Umständen ab. Leider war er vom Friedrichs-Gymnasium, wo er unterrichtete, nur für zwei Wochen beurlaubt worden. Als Morphy davon erfuhr, straffte und raffte er sich hoch und trat, die Schwäche seiner Glieder ignorierend, zum schachlichen Duell an. Anderssen verlor zuletzt mit 8:3, war jedoch der Bewunderung voll für die tiefe strategische Durchdringung, die in Morphys Partien nur allzu lebendig zum Vorschein kam. Bedenkt man die zuweilen haßgeröteten Gesichter auf den Weltmeisterschaftskämpfen von heute, so wünscht man sich allen Ernstes etwas von Anderssens Großzügigkeit gegenüber seinem Sieger und ein wenig von der Vornehmheit Morphys für die heutigen Meister. Aber solange Artur Schopenhauer recht behalten wird mit seiner Sentenz, dürfte der Wunsch kinderlos bleiben: "Niemand weiß soviel Schlechtes von uns wie wir selbst. Und trotzdem denkt niemand so gut von uns wie wir selbst." Jedenfalls konnte Meister Hertneck im heutigen Rätsel der Sphinx seinen Kontrahenten Pirrot die Qual eines langen Siechtums ersparen, was durchaus als Höflichkeit deklariert werden muß. Also, Wanderer, welche Manieren zeigte Hertneck mit den schwarzen Steinen?



SCHACH-SPHINX/05510: Großzügigkeit der Gesten (SB)

Pirrot - Hertneck
Antwerpen 1989

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der Schein trügt, nichts ist gleich auf dieser Welt, und seien die Ähnlichkeiten noch so verblüffend, und so konnte Meister Trias mit 1...Se5-g4! 2.Se7xg6 Kf3-f2! 3.Sg6-f4 Kf2-g1 4.Sf4-d3 Kg1-h1 - tödlicher Zugzwang - den feinen Unterschied zwischen Sieg und Niederlage hervorheben. Die Drohung 5...Sg4-f2# war nicht zu entkräften.


Erstveröffentlichung am 10. Juli 2002

19. Juni 2015


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