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SCHACH-SPHINX/04980: Trugbilder des Geistes (SB)


Immer wieder taucht der Fehler aus Gewohnheit auf. Selbst Großmeister von erlesenem Rang sind vor ihm nicht sicher. Beispielsweise wird eine Spanische Partie gespielt. Tausendmal kam sie schon vor seine Augen, und tausendmal stand der Königsturm auf e1. Wann je war es anders? Also, und weil das Gehirn ein Gewöhnungstier ist, arbeiten die Gedanken mit der Vorstellung, der Turm stünde auch jetzt auf e1, und ersinnen diese oder jene Kombination. Und plötzlich, sprachlos vor Schreck, erkennt der Meister zu spät, daß auf e1 nicht einmal der kleinste Schatten von einem Turm steht, daß die ganze Spanische Partie in anderen Bahnen verlaufen war, daß also auch die so sinntief ersonnene Kombination aufgrund ganz anderer Voraussetzungen wie ein Luftgespinst verweht. Hinterher tuschelt man sich hinter vorgehaltener Hand zu, schachblind sei er gewesen, der werte Großmeister. Davon ist nur die Hälfte wahr, die andere ist - die Macht der Gewohnheit verlangt ihr Recht. Das Auge ist bei einem eingeschworenen Meister zuweilen außerstande, die Vielheit der Gedanken und Kombinationen auf dem Brett in kurzer Zeit zu "überblicken", also behilft es sich mit einer Art Gewohnheitswissen, das abrufbar bereit steht, jedenfalls bis auf Widerruf. Und so kommt es häufiger vor, als der Laie gemeinhin denkt, daß die Meisterspieler das Opfer ihrer eigenen Spezialisierung werden. Das ewig Alte und Wiederkehre gewinnt irgendwann immer die Macht über die reflektierende Sicht der Dinge und plötzlich stehen Türme auf dem Brett, die längst geschlagen worden sind. Das ist die Spuk-auf-dem-Brett-Variante, die jeder Spieler fürchtet. Wie eine lichtscheue Erscheinung trat das Matt auch vor das Angesicht von Meister Oberle. Sein weißer König schien auf h1 im heutigen Rätsel der Sphinx sicher zu stehen, aber die Trugbilder des Geistes umwehten bereits die Bewußtseinsränder, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/04980: Trugbilder des Geistes (SB)

Oberle - Pfister
Würzburg 1958

Auflösung letztes Sphinx-Rätsel:
Mit typisch Najdorfscher Pose kam der Läufereinschlag 1...Lf4xh2+! - nämlich lächelnd. Und Meister Najdorf hatte guten Grund zur Freude, denn die Annahme 2.Kg1xh2 war erzwungen, aber nach 2...g4-g3+ stand sein Kontrahent Loiterstein vor der betrüblichen Wahl, entweder die Dame zu verlieren nach 3.f2xg3 Df3xf1 bzw. 3.Kh2xh3 g3-g2+ oder aber gleich mattgesetzt zu werden durch 3.Kh2-g1 h3-h2# Die Kapitulation entband ihn von der Qual.


Erstveröffentlichung am 20. Mai 2001

05. Januar 2014





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