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DAS TURNIER/004: Eine Nasenlänge besser - Rapidweltmeisterschaft der Herren in Doha (SB)


Der Erfolg hat viele Väter


Als Magnus Carlsen einen Tag nach seiner erfolgreichen Titelverteidigung in New York gegen Sergey Karjakin im Ritz-Carlton Hotel am Battery Park ausgewählten Journalisten ein viertelstündiges Interview gab, in dem er sich, seine Vorbereitung und Willensstärke rühmte, mag er die Schnellschach- und Blitzweltmeisterschaften in Doha (Katar) wohl im Hinterkopf gehabt haben. Große Sorgen dürften ihn allerdings nicht umgetrieben haben. Im Tiebreak gegen den Russen schien Carlsen unter Beweis gestellt zu haben, daß ihm auch rund um den Globus in einem Wettkampf mit eingeschränkter Bedenkzeit niemand das Wasser reichen könnte. An Selbstbewußtsein mangelt es dem Norweger jedenfalls nicht, wenngleich sein WM-Kampf alles in allem sicherlich nicht zu den Glanzpunkten seiner Karriere zählt. Ein Sieg und eine Niederlage in den regulären Partien, gefolgt von zwei Gewinnpartien im Rapid-Stechen, sprechen eher für ein knappes Gelingen denn für weltmeisterliche Souveränität.

Carlsen hatte im Oktober 2015 in Berlin den Titel als Blitzweltmeister an den Russen Alexander Grischuk abgeben müssen, konnte sich aber als Champion im Rapidschach bestätigen. Nicht mehr der Meister aller Klassen zu sein, kratzte dennoch an seinem Selbstbild. Mit Niederlagen umzugehen gehört nicht unbedingt zu den Stärken des 26jährigen. Als er in Berlin in der überaus wichtigen Partie gegen den Ukrainer Vassily Ivanchuk eine einfache Mattfolge übersah und sich so endgültig aller Chancen auf den Blitztitel beraubte, rastete er aus, fuchtelte wild mit den Armen in der Luft und feuerte den Kugelschreiber auf den Tisch. Zornesausbrüche dieser Art und andere Peinlichkeiten begleiteten immer wieder seine junge Karriere. Auch Doha sollte da keine Ausnahme bilden.

Vom 26. bis 28. Dezember fand über 15 Runden die Schnellschachweltmeisterschaft mit einer Bedenkzeit von 15 Minuten plus 10 Sekunden für jeden Zug statt. Am 29. und 30. Dezember wurde dann über 21 Runden geblitzt bei einer Bedenkzeit von drei Minuten plus zwei Sekunden pro Zug. Parallel zum Männerwettkampf trugen auch die Frauen ihre Blitz- und Rapidweltmeisterschaft über 17 bzw. 12 Runden aus. Daß die Geschlechteremanzipation im Schach noch nicht so weit vorangeschritten ist, zeigt sich auch daran, daß der Gesamtpreisfonds bei den Männern 400.000 US-Dollar betrug und der Sieger jeder Meisterschaft 40.000 US-Dollar erhielt, während bei den Frauen nur insgesamt 80.000 US-Dollar ausgelobt waren mit jeweils 10.000 US-Dollar für die Siegerin in den einzelnen Disziplinen.

Charmant und zugleich interessant an Doha war insbesondere, daß die beiden WM-Finalisten Carlsen und Karjakin ebenfalls am Wettkampf teilnahmen. Sie sollten nicht gegeneinander antreten, weil sie nach dem Schweizer System nicht zugelost wurden, aber dennoch konnte man sich ein Bild von ihrer mentalen Verfassung machen, so kurz nach dem großen Ereignis in New York. Auch andere ehemals gekrönte Häupter wie der Inder Viswanathan Anand, der Blitzweltmeister von 2006, 2012 und 2015 Alexander Grischuk, Vassily Ivanchuk (2007), Leinier Dominguez Perez (2008), Levon Aronian (2010), der Rapid-Champion 2013 Shakhriyar Mamedyarov und eine lange Reihe weiterer Top-Spieler der Schachszene gaben sich im Wüstenstaat die Ehre. Doha lockte halt mit hohen Preisgeldern, aber Vladimir Kramnik mußte man dennoch vermissen. Nicht zufällig fiel die Wahl auf Katar, weil dort in den letzten Jahren etliche internationale und regionale Sportveranstaltungen aufs hervorragendste ausgerichtet wurden und in den nächsten Jahren weitere Sportgroßereignisse wie die World Artistic Gymnastics Championships 2018, die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2019 und natürlich die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2022 stattfinden werden.

Der Rapidwettkampf der Herren in der weiträumigen Ali Bin Hamad Al Attiya Arena ging über drei Tage mit je fünf Partien pro Tag. Die meisten Spielern kennen sich aus zahlreichen Begegnungen auf allen Kontinenten, und über die Jahre wächst auch die zerstreuteste Großmeistergilde zu einem Dorf zusammen. 106 Akteure gingen an den Start, viele Gesichter hatte man schon zuletzt in Berlin gesehen. Zwischen den Tischen herrschte rege Betriebsamkeit. Wer seine Partie zu Ende gespielt hatte, suchte den Austausch mit anderen. Schachspieler sind ein geschwätziges Volk, sie können nichts für sich behalten; stets neugierig auf modische Trends und Varianten durchstreifen sie die Gänge und begutachen die Stellungen auf den Brettern. Turniere sind immer auch Informationsbörsen. Und natürlich hing das Auge des norwegischen Staatssenders unentwegt am Nationalhelden Carlsen, daß ja keine seiner Mimiken oder Zuckungen, wie grotesk sie auch sein mögen, verlorenginge. Auch in Doha bekam Carlsen wie zuletzt in der deutschen Bundeshauptstadt über die ganze Veranstaltung hinweg ein festes Brett zugewiesen, das von summenden Kameras förmlich umzingelt war. Filmrechte sind in Norwegen eine heißumkämpfte Branche, vor allem, wenn sie den einen und einzigen Carlsen zum Sujet haben.

Doch ganz anders als erwartet gestaltete sich der Auftakt für viele der Favoriten recht holprig bis teilweise niederschmetternd. Einen sprichwörtlichen Pannenstart legte insonderheit Weltmeister Carlsen hin. Gleich in seiner ersten Partie gegen Surya Shekhar Ganguly konnte er sich nur mit Ach und Krach ins Remis retten, weil der Inder, vielleicht irritiert von den glotzenden Objektiven, ein Matt in drei Zügen übersah und dem Norweger in der Folge ein Dauerschach erlaubte. Doch in Runde 2 kam Carlsen nicht mehr so glimpflich aus der Misere heraus und mußte sich dem Georgier Levan Pantsulaia nach 46 Zügen geschlagen geben. Nach diesem Weckruf legte Carlsen sein bis dahin ziemlich ideenloses Spiel ab und erzielte in den drei folgenden Partien gegen Cristobal Henriquez Villagra, Diego Flores und Ernesto Inarkiev jeweils gut herausgespielte Siege, so daß er sich mit 3.5/5 zwar ramponiert, doch mit einigem Anstand vom Starttag verabschieden konnte.

Seinen New Yorker Kontrahenten und Herausforderer Sergey Karjakin traf es noch bitterer. In seiner Auftaktpartie, ausgerechnet gegen den Schweden Nils Grandelius, der Carlsen in New York sekundiert hatte, kassierte er eine schreckensstarre Niederlage, weil er nach gutem Beginn die Stellung überzog und eiskalt dafür bestraft wurde. Auch Karjakin konnte sich wieder fangen und sein Malheur erst einmal mit zwei Siegen über den Russen Pavel Potapov und den Kroaten Marin Bosiocic wettmachen, aber ein weiteres Unheil erwartete ihn dann in Runde 4 in der Gestalt des Vietnamesen Nguyen Ngoc Truong Son. Auch die letzte Partie des Tages gegen den Inder Debashis Das hätte in einem Fiasko enden können, wenn Karjakin den drohenden Verlust nicht dank einer großartigen Defensivleistung noch ins Unentschieden umgebogen hätte. Mit 2.5/5 machte Karjakin dennoch nicht den Eindruck eines putzmunteren Vize-Weltmeisters. Ganz offensichtlich lag auf seinen Schultern noch die Bürde seines Scheiterns in New York, die ihm wohl stärker an die Nieren gegangen war als vermutet.

Strahlender Held des Tages war ohne Abstriche der Ukrainer Anton Korobov, der einen regelrechten Salonstart hinlegte und alle fünf Partien des Tages durch die Bank weg gewann. Nach dem Kasachen Rustam Khusnutdinov, dem Inder Baskaran Adhiban und dem Iraner Pouria Darini fegte er schließlich keinen Geringeren als den russischen Starspieler und noch amtierenden Blitzweltmeister Alexander Grischuk vom Brett und schonte auch den starken Chinesen Yu Yangyi nicht. Keine schlechte Leistung für die Nummer 21 der Setzliste. Am Ende des Tages führte Korobov die Tabelle mit einem halben Punkt vor Levon Aronian an, der nach seinem schlechten Abschneiden in Berlin wieder aus dem vollen schöpfte. Weit abgeschlagen für seine Verhältnisse auf Platz 20 rangierte dagegen Carlsen, jedoch an Punkten gleichauf mit Anand, dem US-Amerikaner Hikaru Nakamura, dem russischen Allrounder Ian Nepomniachtchi und dem Franzosen Maxime Vachier-Lagrave.

Ebenfalls solide mit 3.5/5 in die Meisterschaft gestartet war der Ukrainer Ivanchuk, der auf den Spitznamen Chucky hört und mit seinen 47 Jahren im Kreise der jungen Avantgarde die Veteranenrolle übernahm. Seit Jahrzehnten bereichert Ivanchuk die Schachwelt mit genialen, nicht immer leicht zu verstehenden Manövern und Neuerungen. Manche sagen ihm nach, daß sein Verständnis der Schachstrategie tiefer ginge als das von Garry Kasparow zu seinen besten Zeiten. In Doha langte der Ukrainer auf jeden Fall mit Siegen über Federico Perez Ponsa und Maxim Matlakov ordentlich zu, ehe er Evgeny Tomashevsky ein Remis gestattete, Gujrathi Vidit Santosh vom Brett fegte, aber dann in der Schlußpartie des Tages gegen Levon Aronian den kürzeren zog.

Karjakins Sekundant Shakhriyar Mamedyarov machte es besser als sein Chef. Zum Auftakt besiegte er den Chinesen Lu Shanglei mit einem gelungenen Damenopfer nach nur 24 Zügen. In Runde 2 bekam der Aserbeidschaner dann die Gelegenheit, Revanche zu nehmen für das Debakel seines Dienstherren in New York, als er auf Carlsens anderen Sekundanten Laurent Fressinet traf. Doch auch der Stellvertreterclinch endete wie in New York mit einer Niederlage des Karjakin-Lagers. Für Mamedyarov jedoch kein Beinbruch, da er die nächsten drei Partien gegen Ganguly Surya Shekhar, David Howell und Farrukh Amonatov im Handstreich für sich entschied.

Ob Carlsen die Nacht am Persischen Golf geruhsam verbrachte oder doch viele Stunden im Groll ob der Niederlage gegen Levan Pantsulaia und der knapp entronnenen Verlustpartie gegen Ganguly Surya Shekhar haderte, ist nicht bekannt. Seine bisherigen Partien im Rapid atmeten nicht unbedingt den Geist eines hohen Niveaus, hatten mehr den Charakter eines Hauens und Stechens. Einen weiteren Absturz konnte er sich nicht leisten, aber wer einmal in Caissas Ungnade fällt, wird die Symphatien der Schachgöttin nicht mehr so leicht zurückerringen.

Der Carlsen-Bezwinger Pantsulaia indes, der mit 4/5 aus dem ersten Spieltag hervorgegangen war, startete zunächst einmal mit zwei Remisen gegen Hrant Melkumyan und Maxime Vachier-Lagrave in die zweite WM-Etappe, ehe er in Runde 8 dem US-Spitzenspieler Hikaru Nakamura die erste Niederlage des Wettkampfs bescherte. Obwohl hoch gehandelt und sonst bekannt für seine schnellen und genialen Entschlüsse erzielte Nakamura in Doha deutlich mehr Remisen als Siege und mußte sich im weiteren Verlauf nochmals Vachier-Lagrave geschlagen geben. Beim Kampf um den Titel spielte er eine eher untergeordnete Rolle. Für Pantsulaia endete der Tag nach diesem sensationellen Erfolg allerdings trübe mit zwei Niederlagen gegen Ivanchuk und Grischuk, die am dritten Tag hinüberleiteten zu drei Verlustpartien in Serie und zwei turnierabschließenden Remisen, so daß er in der Endtabelle von der Säule seines Ruhms tief auf Rang 61 abrutschte.

Auch Korobov, der anfangs für Furore und Sprachlosigkeit unter den Experten gesorgt hatte, mußte Federn lassen. In Runde 6 gab er zunächst nach einer Niederlage im direkten Vergleich den Spitzenplatz an Aronian ab. Zwar gelang dem Ukrainer noch ein Achtbarkeitserfolg gegen den Kubaner Leinier Dominguez Perez in der darauffolgenden Runde, gefolgt von einem Remis gegen Ivanchuk, aber die Niederlage gegen Mamedyarov stutzte ihn dann auf sein eigentliches Format zurück. Am Ende des zweiten Tages remisierte Korobov noch gegen Anand, was aller Ehren wert war, aber sein Feuer hatte er damit weitestgehend verschossen. Höher stieg sein Stern in Doha nicht und so degradierte er nach und nach zum Nebenschauplatz. Sein 14. Platz in der Endtabelle mit 9/15 muß ungeachtet dessen als Erfolg gewertet werden, gingen doch etliche Favoritenstürze auf sein Konto.

Die Wachablösung stand aber schon bereit in der Gestalt von Vassily Ivanchuk, dem der zweite Spieltag ganz gehörte. Gut erholt von seiner Niederlage gegen Aronian aus Runde 5 begann der Ukrainer seinen Aufstieg mit einem Sieg über den Russen Aleksey Dreev, und er sollte noch mehr erreichen. Wenn ein Gespenst die Träume des Weltmeisters aufstört, dann trägt es im Gesicht die buschigen Augenbrauen von Ivanchuk. Carlsen, der mit einem Sieg über den Niederländer Benjamin Bok kraftvoll in die zweite Etappe hineingestürmt war, stolperte wie schon beim Kandidatenturnier 2013 und bei der letztjährigen Blitz-WM in Berlin über das ausgestreckte Bein des Ukrainers. Beim 19. Zug wartete Ivanchuk mit der Drohung einer Springergabel auf, gegen die der Norweger nahezu machtlos war. Ein Bauer ging verloren, ein zweiter folgte nach und ganz gelassen und anders als in Berlin, wo Ivanchuk nach seinem Sieg über Carlsen noch einen kleinen Freudenhüpfer aufgeführt hatte, brachte er die Partie mit stoischem Gleichmut und präziser Technik zum erfolgreichen Ende. Für Carlsen ein herber Rückschlag in seinen Hoffnungen auf die Titelverteidigung, aber für Ivanchuk erst der Anfang einer sagenhaften Erfolgsbilanz. Nach einem darauffolgenden Remis gegen Korobov gab Ivanchuk noch Pantsulaia eine Lehrstunde in der Kombinationskunst und sicherte sich schließlich in Runde 10 mit einem Siegpunkt über Mamedyarov die alleinige Tabellenführung.

So austernhaft verschlossen wie nach der Verlustpartie gegen Ivanchuk sah man den Norweger selten, aber resigniert war er keineswegs, vielmehr von Wut aufgestachelt machte Carlsen mit zwei aufeinanderfolgenden Siegen über die beiden Russen Dmitry Jakovenko und Grischuk wieder Boden gut, ehe er sich in der Schlußpartie des Tages mit einem Remis gegen Aronian zufriedengab. Den Anschluß an die Medaillenränge hatte sich der Norweger zurückerkämpft, aber die Konkurrenz schlief nicht. Ungeschlagen im Wettkampf waren bis dahin Ian Nepomniachtchi (7.5/10), Anand (7/10) und Teimour Radjabov (6.5/10), die bei der Siegesquote nicht so erfolgreich waren, aber Kraftreserven für den Endspurt aufgespart hatten.

Derweil enttäuschten die Nummern 2 und 4 der Setzliste, Hikaru Nakamura und Sergey Karjakin, außerordentlich mit je 5,5 Punkten aus 10 Runden und Platz 35 bzw. 36. Nakamura hatte in der zweiten Etappe keine einzige Partie gewonnen und gegen Pantsulaia eine Niederlage kassiert, während Karjakin gegen den Aserbeidschaner Rauf Mamedov, obgleich in Gewinnstellung, mit seinem 35. Zug alle investierten Mühen und komplexen Manöver aus dem Fenster warf und verlor. Seine Siege im zweiten Durchlauf über Carlsens Sekundanten Fressinet und Lu Shanglei konnten die in ihm gärende und sich auswachsende Betrübnis bei weitem nicht aufwiegen.

Die deutschen Vertreter in Doha stellten in ihrem Dornröschenschlaf nur eine Randnotiz des Geschehens dar und wurden zwischen den Degenspitzen weitaus erprobterer Streiter regelrecht niedergemäht. Falko Bindrich, Tobias Hirnreise (je 4/10), Rasmus Svane (3.5/10) und Jens Hirnreise (3/10) sammelten Erfahrungen, aber kaum Siege. Für die Kämpfe an der realen Front und das sich anbahnende Herzschlagfinale waren sie ohne Bedeutung.

Mit Ivanchuk an der Spitze, gefolgt von Mamedyarov und Nepomniachtchi mit je einem halben Punkt Rückstand, ging es in die letzte Etappe. Carlsen, Aronian, Grischuk und Anand waren die illustren Köpfe in einem breiten Verfolgerfeld mit 7/10. Daß es so eng, sinnverwirrend spannend und kapriziös werden würde, war angesichts des starken Teilnehmerfelds nicht weiter verwunderlich, aber Rapidweltmeisterschaften schreiben immer ihre eigene Geschichte, und wer zuletzt das Schicksal betrügt und seinen Namen in den Granit undurchsichtiger Kräfte einmeißelt, kann kein Geistesseher vorausahnen.

Spitzenreiter Ivanchuk beispielsweise kassierte in Runde 11 eine herbe Niederlage gegen Nepomniachtchi, der damit die Tabellenführung zumindest kurzfristig an sich riß. Aber auch Carlsen mußte Wegzoll leisten, als er bei seiner Aufholjagd im selben Durchgang von ebenjenem Anton Korobov desaströs gestoppt wurde, der zum WM-Auftakt Riesen der Schachkunst unter seinen Füßen zermalmt hatte. Auf tragische Weise sollte sich am Ende rächen, daß Carlsen in dieser Partie Komplikationen heraufbeschwor, die zu seiner Aufgabe nach nur 23 Zügen führten. Was dann geschah, kannte man aus früheren Begebenheiten. Wut und Enttäuschung, dies explosive Gemisch sich nicht vertragender Gefühle, kochten jäh in ihm auf, so daß er eiligen Schrittes die Turnierhalle verließ, nicht jedoch ohne noch kurz einen Blick auf das Brett von Nepomniachtchi zu werfen, der zu diesem Zeitpunkt im Glanz des neuen Champions zu strahlen schien.

Die Spitzenbegegnungen zwischen Mamedyarov und Anand, Aronian und Guyrathi Vidit Santosh als auch Grischuk und Dominguez Perez endeten jeweils mit einem Remis. Ivanchuk konnte auch in den beiden nächsten Runden gegen Grischuk und Dominguez Perez nur je einen halben Punkt einfahren und schien bereits aus dem Rennen um den Titel herausgefallen zu sein. Nepomniachtchi baute seine Führung mit einem Remis gegen Mamedyarov und einem Sieg über Korobov weiter aus, aber das Verfolgerfeld war ihm dicht auf den Fersen. So konnte Mamedyarov in Runde 13 Jakovenko bezwingen, während Aronian nach der Niederlage gegen Dominguez Perez in Runde 11 und dem darauffolgenden Remis gegen den Einbetonierer Anand deutlich an Fahrt und Biß verlor. Grischuk dagegen sicherte sich mit einem Sieg über Amonatov in Runde 13 noch Titelchancen. Aber auch Carlsen hatte die Niederlage gegen Korobov bereits verdaut, als er gegen Vidit Santosh und Alexander Riazantsev zwei Siege nacheinander einfuhr. Mitnichten dachte er daran, jetzt schon aufzustecken, ohne wenigstens zu versuchen, noch in den Titelkampf einzugreifen.

Ein überaus packendes Szenario zwei Runden vor Schluß: Mit einem halben Punkt vor Mamedyarov und einen ganzen Zähler vor einem vierköpfigen Pulk aus Verfolgern schien Nepomniachtchi bereits die Krone in der Hand zu halten. Doch die verflixte 14. Runde wurde zu einem Waterloo für den Schnellschachspezialisten, der, plötzlich mit dem Rachegott Carlsen konfrontiert, seine erste Niederlage in Doha einstecken mußte. Da auch Ivanchuk gegen Anand, wenngleich nur aufgrund eines bedauernswerten Patzers des Inders, zum Zuge kam, Grischuk Vachier-Lagrave überflügelte und Mamedyarov das Remis gegen Lenier Dominguez hielt, gab es auf einmal fünf Spitzenreiter um den Titel. Jedoch erschwerend für Carlsen und die anderen kam hinzu, daß laut Reglement im Falle eines Punktegleichstands die Zweitwertung, die den Eloschnitt der Gegner zum Kriterium hat, den Ausschlag gibt, und hier war Ivanchuk der klare Favorit.

Nepomniachtchi, noch unter dem Schock seiner Niederlage aus der Vorrunde stehend, sah durchaus die Gefahr, von Grischuk allmählich erdrückt zu werden, als er alles auf die Angriffskarte setzte und sich verschätzte, denn sein Landsmann konterte ihn geschickt aus. Zwei Niederlagen in den beiden Schlußrunden nach einem bis dahin hervorragenden Wettkampf waren für Nepomniachtchi niederschmetternd. So fiel er auf Rang 6 in der Schlußtabelle zurück, und außer der Erinnerung, beinah Rapidweltmeister geworden zu sein, nahm er nur das Wissen mit nach Hause, daß er seinem Ziel nie so nahe gewesen war.

Doch auch Carlsen mußte seine Lektion lernen. Während er in Berlin noch ohne Niederlage den Weltmeistertitel in dieser Disziplin errang, leistete er sich in Doha drei Niederlagen zuviel, und noch während er Mamedyarov in eine tödliche Umklammerung nahm, wußte er mit einem Blick auf Ivanchuk, der sich - sichtlich entspannt - von seinem Stuhl erhob und in der Halle andere Bretter beäugte, daß dieser Tag für ihn kein glückliches Ende finden würde. In der Tat hatte es Ivanchuk selbst in der Hand, sich mit einem Sieg über den armenischen Nationalspieler Hrant Melkumyan in die Annalen der Weltmeister einzuschreiben. Der Armenier war gewiß kein leichter Gegner, aber in der kritischen Stellung hatte dieser weniger als vier Minuten Bedenkzeit auf der Uhr, während Ivanchuk noch 13 Minuten zur Verfügung standen. Trotz energischen Widerstands mußte sich Melkumyan unter dem gleichzeitigen Druck der Stellung und der Uhr geschlagen geben.

Daß Carlsen schließlich auch seine Partie gegen Mamedyarov gewann, war nur ein geringer Trost gegenüber der Gewißheit, daß er seinen Titel als Rapidweltmeister an Ivanchuk weiterreichen und trotz seines starken 4/4-Endspurts nur mit der Bronzemedaille vorliebnehmen mußte, da er in der Feinwertung noch hinter dem Silbermedaillengewinner Grischuk zurückfiel. Ein feiner Zug von Trauer umspielte sein Gesicht, als ihm vollends zu Bewußtsein kam, daß er sich an diesem Tag von einem seiner beiden WM-Titel trennen mußte. Die Titelverteidigung im Rapid war ihm anders als in New York beim klassischen Schach nicht geglückt. Doch die Betrübnis wich bald schon der Aussicht, sich in den beiden folgenden Tagen in Doha beim Blitzmodus möglicherweise einen neuen zu holen.

Für Ivanchuk hingegen war die Rapidweltmeisterschaft in Doha ein voller Erfolg. Er hatte Tiefpunkte überwunden und in kritischen Momenten kühlen Kopf bewahrt. Daß er nur dank der Zweitwertung zum Champion aufstieg, spielt, gemessen an seinem unerschütterlichen Kampfwillen, nur eine marginale Rolle. In seiner jahrzehntelangen Karriere hat er nicht immer alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte, aber er hat stets alles gegeben. Die Zahl der offiziellen Titel hält sich in Grenzen. Er wurde 2004 Europameister, war viermal Olympiasieger - zweimal mit der Mannschaft der UdSSR und zweimal als Kapitän der Ukraine - und Blitzweltmeister von 2007. Der Titel jetzt in Doha war hart erkämpft und wäre ohne ein Quentchen Glück wohl nicht zu erringen gewesen. Garry Kasparow, der in New York lebt, schickte ihm eine Gratulation und rührende Worte. Ivanchuk habe ihn am Brett viele Male überrascht, doch nun sei er zum Lehrer einer neuen Generation geworden. Ja, in einer Zeit, wo Großmeister immer jünger werden und einen Titel nach dem anderen erobern, war es längst an der Reihe, daß ein alterprobter Schlachtenlenker und Senior wie Ivanchuk der jungen Garde Respekt einflößte. Magnus Carlsen war noch nicht geboren, als Ivanchuk schon Schachgeschichte schrieb. Er ist eben doch ein Genius. Einen Fehler wiederholte er in Doha jedenfalls nicht. Beim Rapid-Wettbewerb in Berlin hatte er gegen Radjabov in Gewinnstellung vergessen, die Uhr zu drücken.


 Endstand 
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Ivanchuk, Vassily
Grischuk, Alexander
Carlsen, Magnus
Mamedyarov, Shakhriyar
Yu, Yangyi
Nepomniachtchi, Ian
Anton Guijarro, David
Vidit Santosh, Gujrathi
Aronian, Levon
Dominguez Perez, Leinier
Nguyen Ngoc Truong, Son
Amonatov, Farrukh
Cheparinov, Ivan
Korobov, Anton
Li, Chao
Anand, Viswanathan
Jakovenko, Dmitry
Melkumyan, Hrant
Karjakin, Sergey
Volokitin, Andrei
Ganguly Surya, Shekhar
Banikas, Hristos
Bu, Xiangzhi
Riazantsev, Alexander
Henriquez Villagra, Cristobal
Vachier-Lagrave, Maxime
Bortnyk, Olexandr
Nakamura, Hikaru
Inarkiev, Ernesto
Howell, David
Mamedov, Rauf
Dreev, Aleksey
Wojtaszek, Radoslaw
Adhiban, Baskaran
Quparadze, Giga
Wei, Yi
Zhigalko, Sergei
Radjabov, Teimour
Akopian, Vladimir
Vitiugov, Nikita
Tomashevsky, Evgeny
Malakhov, Vladimir
Amin, Bassem
Matlakov, Maxim
Artemiev, Vladislav
Jumabayev, Rinat
Salem A.R., Saleh
Leko, Peter
Dubov, Daniil
Adly, Ahmed
Najer, Evgeniy
Naiditsch, Arkadij
Sanal, Vahap
Lu, Shanglei
Onischuk, Vladimir
Vallejo Pons, Francisco
Tari, Aryan
Moiseenko, Alexander
Grandelius, Nils
Lalith Babu, M.R.
Pantsulaia, Levan
Khusnutdinov, Rustam
Bok, Benjamin
Borisek, Jure
Mchedlishvili, Mikheil
Aleksandrov, Aleksej
Darini, Pouria
Firouzja, Alireza
Fressinet, Laurent
Debashis, Das
Jobava, Baadur
Ghaem Maghami, Ehsan
Halkias, Stelios
Perez Ponsa, Federico
Flores, Diego
Mareco, Sandro
Pichot, Alan
Atabayev, Yusup
Xu, Yi
Atabayev, Maksat
Bindrich, Falko
Svane, Rasmus
Belyakov, Bogdan
Kozul, Zdenko
Bosiocic, Marin
Tregubov, Pavel
Maghsoodloo, Parham
Salinas Herrera, Pablo
Gashimov, Sarkhan
Neelotpal, Das
Agdestein, Simen
Potapov, Pavel
Hirneise, Jens
Quintiliano Pinto, Renato
Saeed, Ishaq
Al-Sayed, Mohammed
Zhang, Zhong
Tissir, Mohamed
Hirneise, Tobias
Gholami, Aryan
Christiansen, Johan-Sebastian
Shytaj, Luca
Kayumov, Sergey
Stratonowitsch, Andre
Khayat, Abdullah
Mohamed Ali, Dima
UKR 11.0 Punkte
RUS 11.0 Punkte
NOR 11.0 Punkte
AZE 10.0 Punkte
CHN 10.0 Punkte
RUS 10.0 Punkte
ESP 10.0 Punkte
IND 9.5 Punkte
ARM 9.5 Punkte
CUB 9.5 Punkte
VIE 9.5 Punkte
TJK 9.5 Punkte
BUL 9.5 Punkte
UKR 9.0 Punkte
CHN 9.0 Punkte
IND 9.0 Punkte
RUS 9.0 Punkte
ARM 9.0 Punkte
RUS 9.0 Punkte
UKR 9.0 Punkte
IND 9.0 Punkte
GRE 9.0 Punkte
CHN 8.5 Punkte
RUS 8.5 Punkte
CHI 8.5 Punkte
FRA 8.5 Punkte
UKR 8.5 Punkte
USA 8.5 Punkte
RUS 8.5 Punkte
ENG 8.5 Punkte
AZE 8.5 Punkte
RUS 8.5 Punkte
POL 8.5 Punkte
IND 8.5 Punkte
GEO 8.5 Punkte
CHN 8.0 Punkte
BLR 8.0 Punkte
AZE 8.0 Punkte
ARM 8.0 Punkte
RUS 8.0 Punkte
RUS 8.0 Punkte
RUS 8.0 Punkte
EGY 8.0 Punkte
RUS 8.0 Punkte
RUS 8.0 Punkte
KAZ 8.0 Punkte
UAE 8.0 Punkte
HUN 8.0 Punkte
RUS 8.0 Punkte
EGY 8.0 Punkte
RUS 8.0 Punkte
AZE 8.0 Punkte
TUR 7.5 Punkte
CHN 7.5 Punkte
UKR 7.5 Punkte
ESP 7.5 Punkte
NOR 7.5 Punkte
UKR 7.5 Punkte
SWE 7.5 Punkte
IND 7.5 Punkte
GEO 7.0 Punkte
KAZ 7.0 Punkte
NED 7.0 Punkte
SLO 7.0 Punkte
GEO 7.0 Punkte
BLR 7.0 Punkte
IRI 7.0 Punkte
IRI 7.0 Punkte
FRA 7.0 Punkte
IND 7.0 Punkte
GEO 7.0 Punkte
IRI 7.0 Punkte
GRE 7.0 Punkte
ARG 7.0 Punkte
ARG 7.0 Punkte
ARG 7.0 Punkte
ARG 6.5 Punkte
TKM 6.5 Punkte
CHN 6.5 Punkte
TKM 6.5 Punkte
GER 6.5 Punkte
GER 6.5 Punkte
RUS 6.5 Punkte
CRO 6.5 Punkte
CRO 6.5 Punkte
RUS 6.0 Punkte
IRI 6.0 Punkte
CHI 6.0 Punkte
AZE 6.0 Punkte
IND 6.0 Punkte
NOR 6.0 Punkte
RUS 6.0 Punkte
GER 6.0 Punkte
BRA 6.0 Punkte
UAE 6.0 Punkte
QAT 6.0 Punkte
SGP 6.0 Punkte
MAR 5.5 Punkte
GER 5.5 Punkte
IRI 5.5 Punkte
NOR 5.5 Punkte
ITA 5.0 Punkte
UZB 4.5 Punkte
SEY 2.5 Punkte
KSA 1.0 Punkte
DJI 0.0 Punkte

6. Januar 2017


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