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DAS TURNIER/002: Sieger ohne Lorbeerkranz - Weltmeisterschaft in New York (SB)


Er kam, sah und enttäuschte


Haben Schachweltmeisterschaften ein Epizentrum? Wenn ja, dann gilt dies neben Moskau mit Sicherheit für New York. Dies schon deshalb, weil die Geschichte der Titelkämpfe in Big Apple am 11. Januar 1886 in Cartier's Tanzakademie an der Fifth Avenue ihren Anfang nahm, als Wilhelm Steinitz seinen Anspruch auf die Krone mit einem heißumkämpften Sieg über Johannes Herman Zukertort legitimatorisch unterstrich und damit eine Tradition einläutete, die trotz mancher Brüche und Hinterzimmerverschwörungen bis auf den heutigen Tag Bestand hat. Daß der erste offizielle WM-Kampf in den USA stattfand, kam nicht zufällig. Zwar konnten die Vereinigten Staaten nie mit Kohorten von illustren Meistern aufwarten wie Rußland und die spätere UdSSR, aber die Auswanderer aus der alten Welt hatten das Schachbrett samt Figurensatz als Kulturerbe in ihren Koffern und Truhen mitgenommen und insbesondere im 19. Jahrhundert mit der Gründung von Schachklubs entlang der Ostküste und in Kalifornien dem Königlichen Spiel eine neue Heimat gegeben. Einmal von Paul Morphy abgesehen, dem einsamen Polarstern am Nachthimmel des US-Schachs, der für eine kurze Episode den Meistern Europas in zahlreichen Zweikämpfen den Schneid abkaufte, hatten die Amerikaner bis zur Jahrhundertwende aus ihren eigenen Reihen keinen brillanten Schachdenker hervorgebracht. In ihrem unstillbaren Hunger nach Kulturleistungen besaßen sie jedoch etwas, das auf dem europäischen Kontinent in dieser freigebigen Üppigkeit nicht zur Verfügung stand: Geld.

Mit Hilfe amerikanischer und einiger englischer Schachliebhaber konnte so beginnend in New York, gefolgt von St. Louis und abschließend in New Orleans der erste WM-Kampf der Schachgeschichte ausgerichtet werden. Es ging über zehn Partien mit einer Siegesprämie von tausend Dollar. Auch das Demonstrationsbrett, das heutzutage unverzichtbar ist, damit die Zuschauer den Fortgang der Partien mitverfolgen können, feierte seinerzeit Premiere. Weil die gespielten Züge anders als heute noch geistiges Eigentum der am Brett agierenden Meister waren und Zeitungen sie daher nicht tagesaktuell veröffentlichen durften, wurden die Züge mittels Telegraphie zu den Schachklubs in den anderen amerikanischen und englischen Städten verschickt. Das Medienecho war gewaltig. Das Schach in den USA erlebte zwar keinen Boom der Superlative, fand aber eine zunehmend größer werdende Anhängerschaft mit New York als dem Schachmekka der neuen Welt. Noch für eine geraume Zeit war die Metropole am Hudson River Dreh- und Angelpunkt internationaler Wettkämpfe und WM-Duelle. So verteidigte Steinitz 1890 dort seinen Titel gegen den englischen Meister jüdisch-ungarischer Herkunft Isidor Arthur Gunsberg, unterlag aber vier Jahre später dem Deutschen Emanuel Lasker. Und ebenfalls in New York bestätigte sich Lasker 1907 in blendender Manier gegen den US-Amerikaner Frank James Marshall als Regent der Schachwelt. Bis erneut ein WM-Kampf in den Staaten organisiert wurde, verging eine lange Durststrecke. Erst 1990 kam es in New York wieder zu einem Titelkampf zwischen Garry Kasparow und seinem russischen Landsmann Anatoli Karpow, dem 1995 der Kampf um die Krone zwischen Kasparow und dem Inder Viswanathan Anand folgte. Große mediale Aufmerksamkeit erhielt das Schach auch 1997 in New York, als Kasparow, wenngleich nicht seinen Titel, so doch die "Ehre der Menschheit" gegen den IBM-Schachcomputer Deep Blue verteidigte.

Vom 11. bis zum 30. November rückte New York nun abermals in den Mittelpunkt des Schachgeschehens, als Magnus Carlsen seinem Herausforderer Sergej Karjakin aus Rußland im Fulton Market Building im Seaport District of Lower Manhattan die kühle norwegische Stirn bot. Viel ist im Vorwege über den Wettkampf geschrieben und prognostiziert worden. Mancher prophezeite ein in seiner Dramatik nicht zu überbietendes Duell der Gegensätze. Am Ende lagen nur Nuancen zwischen ihrem strategischen Kalkül. Der große Knall blieb jedenfalls aus. Weder gab es eine kritische Theoriedebatte noch zu Schlagzeilen avancierte Skandale. Auch der kleine Fauxpas, als Carlsen nach seiner ersten und einzigen Verlustpartie der obligatorischen Pressekonferenz fernblieb und allem Anschein nach mit einem Strafgeld von 60.000 Dollar belegt wurde, weil eine Teilnahme an den Presseterminen vertraglich vereinbart war, hat niemanden wirklich vom Hocker gerissen.

Moderne Wettkämpfe müssen sich, um ein Medienereignis zu werden, in besonderer Weise vermarkten lassen. Auf diesem Felde hat das Schach von heute allerdings nicht viel zu bieten. Die PR-Abteilungen der FIDE als auch des von ihr lizenzierten Veranstaltungspartners Agon agieren weitgehend kreativlos. Auch Agons juristischer Versuch, sich die alleinigen Rechte an der Live-Übertragung des WM-Kampfes zu sichern, gar die Übermittlung der gespielten Züge auf andere Webseiten verbieten zu lassen, um so dem Schachsport neue Geldquellen zu erschließen, geriet zum desaströsen Flop, nachdem die Gerichte in Moskau als auch in New York auf eine freie Übertragung im Internet entschieden.

Am geringen Vermarktungswert ihrer Profession tragen die Schachspieler eine gewisse Mitschuld. Charakterköpfe, die Stoff für kontroverse Artikel bieten und die Tristesse einer in der Regel als Randnotiz in den Medien abgehefteten Schachberichterstattung beleben könnten, gehören der Vergangenheit an. Was waren das noch für bewegte Zeiten, als die Verbalinjurien zwischen Victor Kortschnoj und Karpow die Gazetten und Journale füllten, als selbst der eigentlich schachuninteressierte Nachbar von nebenan mit einem Klubspieler eine Debatte darüber führte, wer von den WM-Duellanten die besseren Chancen hätte. Das Ereignis als solches war in Narrative eingebettet, die einen Laien ebenso mitrissen wie den passionierten Spieler. Das heutige Spitzenschach indes sucht immer noch nach seinem Image. Allzu brav und bieder kommen seine Akteure rüber, sie spielen Schach, aber außerhalb des Brettes und der Fangemeinden werden sie vom Rest der Bevölkerung kaum wahrgenommen. Wie in einem Elfenbeinturm jenseits des alltäglichen Lebens, seiner Nöte und Freuden, bleiben ihre Gesichter verborgen, was schier unüberwindliche Distanzen schafft. Auch die in Fachkreisen offenkundige Zerstrittenheit über die leidige Frage, ob Magnus Carlsen ein würdiger Vertreter der Schachwelt sei oder nicht, sorgt nicht unbedingt für Tauwetter. Selbst der seine verruchte Schlangenhaut längst abgestreifte Boxsport oder neumodische Sportarten wie Beach Volleyball fungieren besser als Publikumsmagneten, weil sie die Tür in die soziale Wirklichkeit der Menschen ganz oder zumindest einen Spaltbreit geöffnet haben. Warum gelingt dies dem Schach nicht? Ist es in seinen genetischen Anlagen wirklich zu weltfremd und distinguiert, in seinen Geschichten und Erzählformen zu arm an kommunikativen Kontaktstellen, um die Menschen zu erreichen?

Das Fulton Market Building liegt unweit der Wall Street, und so hegte der Weltschachbund FIDE durchaus die Hoffnung auf eine stärkere Resonanz in den US-Medien, um so vielleicht neue finanzschwere Sponsoren gewinnen zu können. Das Echo blieb unterdessen eher verhalten bis unterkühlt. Dabei sind die Kassen der FIDE praktisch leer, was sich auch daran zeigt, daß für den Wettkampf nur ein Preisfonds von etwas mehr als einer Million Dollar ausgelobt war. Peanuts verglichen mit dem WM-Kampf 1990 zwischen Kasparow und Karpow in New York, wo es um dreimal soviel ging. Den Löwenanteil am jetzigen WM-Budget stifteten zudem ein Düngemittelhersteller und ein Investmentfond jeweils mit Firmensitz in Rußland. Der weitaus geringere Teil entfiel auf Norwegens Staatssender und einen norwegischen Wasserabfüller. Daß die Russen ein gewichtiges Interesse daran hatten, daß ihr Kandidat und Herausforderer das Rennen macht, erklärt sich leicht. Jahrzehntelang war der Schachthron fest in russischer Hand und diente als Beweis zumindest für die geistige Überlegung des sowjetischen Gesellschaftsmodells. Nur mehr nostalgischer Hauch umweht die Zeiten, als Rußland gegen den Rest der Welt spielte - das war einmal. Die Spitzenplätze von heute sind international besetzt, aber in Rußland klebt man immer noch am Traum vom Rückgewinn des Titels. So kam es nicht überraschend, daß der russische Präsident Vladimir Putin seinen Pressesprecher Dmitri Peskow extra nach New York geschickt hatte. Daß der Präsident des Weltschachbunds Kirsan Iljumschinow wegen des Verdachts, in Ölgeschäfte im kriegszerrütteten Syrien verwickelt zu sein, auf US-Sanktionslisten steht und daher mit einem Einreiseverbot belegt wurde, macht die Sponsorensuche in den Staaten nicht unbedingt leichter. An der Reserviertheit ändert auch nichts, daß die USA zuletzt Mannschaftsweltmeister wurden. Die Tage der Begeisterung, als die Amerikaner ihren Heroen Bobby Fischer frenetisch feierten, sind lange schon verklungen.

Daß Magnus Carlsen in die Rolle eines Zugpferdes schlüpfen könnte, um die eisigen Barrieren der Ignoranz in den Medien gegenüber dem Schachsport aufzubrechen, scheint wenig wahrscheinlich. Der junge Norweger bedient eher die klassischen Denkfiguren von einem Schachspieler, erweitert bestenfalls um die Attitüde eines coolen und lässigen Twens, genial in seinem Spiel, aber im Grunde das Kunstprodukt einer Vermarktungsindustrie, die seine Person in einer Weise glorifiziert, die abgeschmackt wirkt, das Publikum eher vergrault als anlockt. Der pünktlich zur WM am 10. November in den Kinos gestartete Dokumentarfilm "Magnus - Der Mozart des Schachs", der Carlsens steile Karriere von einem Wunderkind zum Hoffnungsträger des Schachsports verklärt, hat denn auch altbekannte Vorurteile verstärkt und keineswegs abgebaut und dem Mythos von angeborener Genialität eine weitere unverdauliche Facette hinzugefügt. Gezeigt wird das emotional überladene Portrait eines behüteten Nesthäkchens auf seinem Weg zum WM-Sieg gegen Anand in Chennai, der in der Schule wegen seiner exklusiven Begabung immer wieder gemobbt wurde und als einsamer Denker in einer feindseligen Umwelt, die ihn nicht verstand, mit Selbstzweifeln zu ringen hatte. Norwegische Schachfans werden den Film lieben, in der übrigen Schachwelt stößt er dagegen auf Widerwillen, kennt man dort doch einen ganz anderen Carlsen, der in seinem Auftreten eher arrogant und unnahbar wirkt und in seinem egozentrischen Erfolgsstreben voll und ganz ein Kind des 21. Jahrhunderts ist.

Der Wettkampf in New York wurde denn auch angekündigt als Match zwischen einem angriffslustigen Carlsen und dem Verteidigungskünstler Karjakin. Wie weit entfernt doch von der Wirklichkeit, denn der Zuschauer erlebte zunächst einmal sieben Remisen in Folge, ehe der erste Sieg zu Buche schlug. Ausgerechnet von Karjakin, der in der dritten und vierten Wettkampfpartie nahe am Rand der Niederlage entlangschlitterte, den Carlsen jedoch entkommen ließ, weil er keineswegs so brillant aufspielte wie erwartet. Das Niveau der Partien ließ vielfach zu wünschen übrig, und die Kommentatoren vor Ort, allen voran die beste Schachfrau aller Zeiten Judit Polgar, hatten ihre liebe Not damit, die offenkundige Reizarmut der Begegnungen, manche sprachen von Langeweile, wider besseren Wissens in einen homerischen Heldengesang umzudeuten. Daß Carlsen in der 10. Wettkampfpartie ausgleichen konnte und nach Expertenmeinung im Verlauf des Turniers in der Summe die besseren Chancen herausgespielt hatte, bedeutet eben auch, daß das Gros der verpaßten Gewinnzüge auf sein Konto ging. Nachdem die 11. und 12. Partie wiederum mit Remisen endeten, setzte sich Carlsen im Tiebreak durch, indem er die dritte und vierte Rapid-Partie gewann, sich selbst zu seinem 26. Geburtstag ein Geschenk machte und so zum dritten Mal erfolgreich seinen Titel verteidigte.

Einmal mehr zeichnete sich ab, daß die heutige, mit Computeranalysen aufgewachsene Generation von Spitzenschachspielern in erster Linie gelernt hat, das Risiko zu scheuen bzw. Varianten und Abspiele aufs Brett zu bringen, die wenig bis gar keinen Überraschungsfaktor bieten, weitgehend ausgeglichen sind und den Kampf quasi auf die technische Ebene verlagern. Wenn ein minimales Stellungsplus zum Sieg reicht, ist es gut, wenn nicht, macht es auch nichts. In diesem Sinne besaß Carlsen, der den Stoikern noch die Blässe ins Gesicht getrieben hätte, einen handfesten Vorteil gegenüber Karjakin, der mit seinen 26 Jahren nicht nur sein Debüt als WM-Finalist gab, sondern auch insgesamt unerfahrener war in den nervlichen Herausforderungen, die eine Großveranstaltung wie eine Weltmeisterschaft mit sich bringen. Insbesondere sein Bedenkzeitmanagement fiel durch das Raster des Vernünftigen. So verbrauchte er mitunter für Züge in Stellungen, die keineswegs brisant waren, mehr Zeit, als nötig getan hätte, die ihm dann in kritischen Positionen einfach fehlte.

Es ist sicherlich betrüblich, daß die Entscheidung nicht in einem Wettkampf mit klassischer Bedenkzeit fiel, sondern unter den Bedingungen eines Akkords im Schnellschach mit je 25 Minuten Bedenkzeit. Wäre es in New York gar zum Blitzmodus mit je 5 Minuten Bedenkzeit gekommen, ganz zu schweigen von der Armageddon-Partie, dem finalen Kernstück der Schachverspottung, bei der Weiß 5 und Schwarz 4 Minuten Bedenkzeit erhält, aber der Schwarzspieler Weltmeister wird, falls die Partie Remis endet - der Imageschaden wäre kaum auszumalen gewesen. Dieser enttäuschende Ausgang ist der Schachwelt erspart geblieben, aber die Regelkommission der FIDE hält weiter an dieser armseligen Lösung fest, die den wichtigsten Titel im Schach ohne jeden Respekt in die Schlangengrube des Zufalls wirft. Zumindest könnte New York der Startpunkt einer Diskussion um Formate und Zeitstandards werden, die dem Königlichen Spiel und dem Titel des Weltmeisters angemessener sind.

Bei alledem bliebe noch eine andere Frage zu klären: Wohin hat es das moderne Schach gebracht, wenn die beiden besten Schachspieler der Welt Stunde um Stunde in einer gläsernen Kabine sitzen müssen, isoliert von der Außenwelt, von ihren Farben und Gerüchen getrennt, daß kein Wort zu ihnen durchdringt, und sie, gefangen in einem Zweikampf, der ebensogut auf einem anderen Planeten oder tief unten am Grund eines Ozeans stattfinden könnte, mit nichts anderem konfrontiert sind als ihren eigenen Gedanken und Aggressionen, um in der Anomalie eines letzten Sinns eine Schlacht zu führen, die nur still in ihren Köpfen tobt?


6. Dezember 2016


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