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ES GESCHAH.../025: Der Anekdotenkammer fünfundzwanzigste Tür (SB)


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Nicht selten wurde um der Liebe willen viel von dem roten Lebenssaft vergossen. Doch wo unschuldiges Leben wilden Intrigen geopfert wurde, erhob sich die Rachegöttin in ihrem Grimm und wütete schrecklich unter den Missetätern. Liebe und Tod waren seit alters her die Begleiter in Kunst und Kultur, wenn auf die Widersprüchlichkeit des Lebens die Rede kam. So stand die Literatur des Mittelalters auch lange Zeit im Zeichen dieses Gegensatzes wie unter einem unseligen Stern. Gleichwohl war es nicht immer blutig zugegangen unter den Menschen. Zuweilen siegte Weisheit gegen Jahrhunderte blanker Feindseligkeit. Vor der fünfundzwanzigsten Tür der Anekdotenkammer lauschend, hören wir nun eine Geschichte vom Triumph der Vernunft gegen die rohe Wirklichkeit, eine Geschichte zumal, die der berühmte polnische Renaissancedichter Jan Kochanowski (1530-1584) in seinem Poem "Sahi", was auf deutsch Schach bedeutet, für die Nachwelt verewigt hat.

Zwei Bojaren kommen eines Tages auf Freiersfüßen zum Hof des Königs von Dänemark und halten um die Hand seiner Tochter, der liebreizenden Prinzessin Anna, an. Beide begehren die Prinzessin für ihr Leben und keiner will das Glück ihres Kusses auf den Lippen missen.

So muß der König die Wahl treffen, aber es wäre nicht klug gehandelt, wenn er einen von beiden zurückgewiesen hätte. Neid und Mißgunst haben in der Geschichte der Menschen oft ganze Königreiche verwüstet und ins Elend gestoßen. Der König von Dänemark will kein Blutvergießen in seinem Lande, und um dies zu verhindern, ersinnt er einen weisen Ratschluß. Ein Schachspiel soll zeigen, wem die Gunst des Schicksals zugeneigt ist. Er spricht also:

"Beschließt den Streit wie in einem Kriegsgefecht; der Sieger sei mein Schwiegersohn, er sei mir recht."

Der König bestimmt einen Tag für den Wettstreit, dann wendet er sich ab. Es gibt nichts mehr zu besprechen, und so reiten die beiden Bojaren in ihre Heimat zurück, um die Weisen ihres Landes zu Rate zu ziehen. Nach zwei Wochen gründlicher Vorbereitung treffen die Prinzen wieder vor dem Thron des Königs ein, gewillt, mit den Waffen des Geistes das Glück des Bräutigams zu erringen.

Der Tag grüßt mit herrlichem Sonnenschein, als sich die beiden Freier vor das Brett mit den geschnitzten Figuren aus Elfenbein niedersetzen und dem Gegner argwöhnische Blicke zuwerfen. Das Laissez-faire ist noch nicht erfunden, und der Kavaliersstand trägt seine Duelle um Ruhm und Ehre oft blutig aus, so daß jeder mit einer versteckten List rechnet.

Die illustre Hofgesellschaft umringt die beiden Kontrahenten und bestaunt die seltene Art des Zweikampfs. Da hält Bozui je einen Bauern in seinen Fäusten und fordert Fedor auf, seine Wahl zu treffen. Der zeigt mit kühner Geste nach rechts. Bozui bekommt die weißen Steine, Fedor die schwarzen zugewiesen.

Bozui überlegt nicht lang' und zieht mit Weiß den Damenbauern im Doppelschritt voran, wogegen Schwarz mit stolzem Mut nicht anders verfahren tut. Der Streit ergrimmt vom ersten Zuge an, ein Bauer frißt den anderen, es wechselt wie im Fluge dein und mein, das schwarze Roß dringt in die geschwächte Flanke ein, Finte folgt auf Finte wie mit unsichtbarer Tinte, bis keiner mehr begreift, was eben war und was davor. Da zieht das schwarze Pferd den weißen König auf die Gabel und schlägt den weißen Turm d'accord.

Nun heißt es, sich nicht lumpen lassen, doch blind vor Wut, tut selten gut. Die Hand am Bauern will schon rücken, als eine Ahnung hemmt des Bozuis Drang: Seine Dame steht unbewacht am Rand. Den Bauern noch nicht losgelassen, da will ihm Fedor schon die Dame schnappen.

"Verrat! Ich hab' noch nicht gezogen!" ruft Bozui wild dazwischen.

"Berührt, geführt, mein Freund", gibt Fedor schlau zur Antwort.

"Ein Lump, der kein Gardez gesagt", erwidert Bozui, aufs äußerste gereizt.

Und ehe man sich's versieht, schwappt die Suppe über und ein Streit steht ins Haus. Das mächtige Wort des Königs gebietet jedoch Einhalt, verhindert den Garaus, und so setzen sich die aufgesprungenen Kampfhähne wieder nieder. Tiefer Groll verfinstert ihre Stirne, läßt Rachegelüste ranken, doch die weise Rede des Königs verscheucht die bösen Gedanken:

"Bozui sei's vergeben, daß er den falschen Stein berührt, und Fedor lasse sich den Rat gefallen, höflich Acht zu sagen, sobald er sich der fremden Dame naht. Von heute an gilt dieser Satz: Wer einen Stein berührt, muß ihn auch führen."

Die beiden beugen sich über das Brett und schmieden Pläne nicht weniger heimlich als Ränke. Eine hundertäugige Wachsamkeit sucht nach der berühmten Lücke, um die berüchtigte Tücke ins Spiel zu bringen. Beide genieren sich nicht sonderlich, mit eitel List und Betrug die Regeln nach der eigenen Fasson auszulegen. Da bewegt Fedor den Läufer mit der Gangart des Springers, aber Bozui fährt dazwischen:

"Halt ein, du Schuft, sonst mach' ich deinem Läufer Beine!"

Da schimpft der Gauner den andern Schuft, denn drei Atemzüge später versucht Bozui, seinen geschlagenen Springer wieder auf das Brett zurückzustellen, doch Fedor entlarvt den faulen Zauber und erwidert bissig:

"Sitzt vor mir ein Jesuitenpater, der meint, das Ziel heilige die Mittel!"

Indes, auch Geisteskräfte erlahmen und allmählich beginnt die Waagschale sich zu Bozuis Gunsten zu neigen. Bozui jauchzt wie ein Glockenspiel im Wind: "Das Schicksal meint es gut mit mir, ich bin des Glückes Kind!"

Beide Damen sind inzwischen auf dem Schlachtfeld gefallen, und als sich die Reihen lichten, führt Bozui seine verbliebenen Bauern tapfer in die gegnerische Stellung, und einer von ihnen verwandelt sich nach Erreichen der letzten Reihe in eine neue Dame:

"So stimmt die Legende, daß Orpheus seine teure Eurydike aus dem Totenreich geführt."

Weiß triumphiert sichtlich, und Schwarz wird bange zumute. Sein König, in der Ecke verstimmt, muß fürchten, daß ihm der Weiße den letzten Atem nimmt. Ihn ins Grab zu befördern, greift nun auch der weiße Turm ins Geschehen ein. Immer dichter rückt die Gefahr heran. Bald ist es soweit, bald wird es getan. Schlecht steht es um Schwarz - der Tod wartet bereits und offenbart das Ende des Streits.

"Gib auf, Fedor!" ruft Bozui voll Lust.

Fedor quälen Ärger und Verdruß, er sieht keinen Ausweg vor dem schimpflichen Verlust. Leis' murmelt er: "O Schmach und Gram, daß ich hierher zur eig'nen Schande kam."

"Keine Heilung gibt's", höhnt Bozui siegessicher. "Was soll das Zaudern? Ein Zug, dann ist's vorüber".

Längst ist die Sonne am Horizont versunken, die Kerzen fast heruntergebrannt, und so beschließt der König, den Fortgang der Partie auf den Morgen zu vertagen, für eine kurze Weile nur.

Beim Auseinandergehen gibt man noch acht, daß man am anderen Tag die gleiche Stellung weiterspiele. Weiß sonnt sich im Triumph, denn Fedors König liegt im argen, bald werden ihm die Kräfte versagen. Der feindliche Turm auf Reihe sieben, auch er droht, den schwarzen Herrscher zu besiegen. Die Dame auf derselben Horizontalen kann sich dazu im Angriff auf den schwarzen Läufer aalen. Alles ist bereit zum Sturm, das Haupt zu Boden neigt der Wurm.

Der schwarze König erwartet nah der Ecke, daß er anderntags bald schon verrecke. Vom Rest der Garde weit getrennt, er leis Gebete zum Himmel send't. Vier Felder vor dem König steht der Springer, der Bauer aber fünf, das ist noch schlimmer. Geschützt vom Läufer rechts daneben, ein zweiter Bauer will zum Ziele streben. So ist die Stellung, und nun beweist Mut. Schwarz muß sich entscheiden, er ist am Zug.

Alle gehen von dannen, nur ein königlicher Wächter bleibt zurück. Mit grimmiger Miene, die Hellebarde in Händen, wacht er über das Brett. Es wird nicht gewichen. Und als die Prinzen in ihre Gemächer gegangen, werden Schlösser vor ihre Türe gehangen und Wächter bestellt, man kennt ja die Schlichen.

Alles schläft, nur die Prinzessin wacht. Der König hat ihr aufs strengste untersagt, beim Spiel zugegen zu sein, daß kein Makel ihre Ehre verklagt. Doch wer wird ihr Gemahl? fragt sie bang, bis Kummer unendlich über sie kommt. Ihr Herz war entflammt, ihr Antlitz brannte, als sie den Fedor sah und tief in ihrem Gefühl erkannte. Nie mag sich Liebe verrenken, dem falschen Gatten sich zu schenken.

Und so beschließt sie um des Himmels Macht, ihr Schicksal selbst zu schreiben in dieser Nacht und schleicht mit ihrer Amme in den Saal, zu retten den Herzensgemahl. Den Wächter kennt sie aus Kindertagen, ihm braucht sie weiter nichts zu sagen. Und daß an seiner Pflicht nichts fehle, so schaut er weg, die treue Seele.

Im fahlen Kerzenschein, über dem Brett, entdeckt sie des Fedors mißliche Wette und klaget die Engel an, ach, wenn ich nur selber gespielet hätte. Kein Graf noch Edelmann hat je erkannt, daß ihr Aug' und Verstand am Schachspiel Freude fand. Und schon zwei Augenblicke langen, da stiehlt sich Glück auf ihre Wangen.

"Sei's drum, ich werd' zu meinem Recht gelangen und mir den Bräutigam vom Schachbrett angeln!"

Doch wie erfährt der Geliebte die rettende Kunde? Wer spricht mit ihrem Munde? Da gibt ihr die Not den Einfall und laut vernehmlich spricht sie aus:

"Sehr wendig ist der Springer im Gefecht, und auch der Läufer spielt dabei nicht schlecht. Auf denn zum Opfer nun, der Gegenkönig fällt, wenn den Bauern nichts mehr hält."

Am frühen Morgen erscheint Fedor müde zur Partie. Die ganze Nacht hat er sein Unglück beweint und glaubt sein Schicksal trüb verloren. Matt und trostlos sitzt er nun am Brett: "Ach, guter Himmel, wenn ich Bozuis Glück doch hätt'."

Doch der hat sich noch nicht eingefunden und zecht mit den Kumpanen ein paar Runden. Da springen Fedors Augen wie Erbsen aus den Schoten, er erhebt sich vom Stuhl und dieser kracht zu Boden. Sein Turm, am Abend noch vom Brett geschlagen, steht gerüstet wieder auf des Kampfes Wagen.

"Was ist geschehen? Ein Scherz, fürwahr, recht sonderbar!" Da tritt der Wächter an ihn heran, und flüstert ihm über die Schulter zu: "Die Prinzessin war des Nachts an diesem Orte, hört, wie sie aus meinem Munde spricht", und erneuert des Rätsels Worte.

Der Prinz hockt sich sogleich ans Brett und beißt grübelnd an den Nägeln herum. Ein Mühlstein dreht sich in seinem Kopfe, doch dann, nach bangen Augenblicken, hält er sein Glück am Zopfe. Da erscheint der siegesgewisse Bozui.

"Auf denn, Bozui, beginnen wir das Spiel! Du schiedst gestern mit viel Freude, glaubtest dich am Ziel. Ich will die Wette wagen und dir ein Matt in drei Zügen sagen!"

Erhaben naht der König sich den Kontrahenten, gefolgt von seinem Hof, wie wird dies Spiel wohl enden. Der Herrscher gibt das Zeichen zum Beginn. Da rückt Fedor den Turm ganz lang bis vor des weißen Königs Leib heran.

"Was soll das, Trotzkopf, so kopflos in die Schlacht zu rennen und sich vom letzten Turme trennen? Dein König ist ja nicht zu retten, was gäbe es da noch zu wetten."

Zuerst muß Bozui sich verteidigen und den Turm kurzum beseitigen. Doch gleich darauf bietet ein schwarzer Bauer Schach, der zweite bringt das Matt dann unter Dach und Fach. Fedor hat das Spiel siegreich gewendet, was alle sehr erstaunt, sogar befremdet.

Als man zu Anna trägt die Kunde, daß ihr zu dieser heiligen Stunde Fedor ward zum Gatten gegeben, da kniet in Unschuld sie nieder, und mit des Schames Erröten birgt sie ihr falsches Herz im Mieder.

In Dänemark und anderswo
auf Gottes weiter Erde
geht's hart zu und auch manchmal roh;
ach daß doch Friede werde,
und der Mensch sich drauf besinne
und mit Klugheit das gewinne,
was die Waffen blutig macht.
Mit Geist und Spiel gegen Willkür,
bis Gerechtigkeit erwacht:
Ein Traum vor 'ner verschloss'nen Tür.
Fürwahr, mit Klugheit und Verrat
erschlich das Paar die hehre Tat.
Die Quintessenz von der Geschicht'
verdunkelt so des Geistes Licht:
Oft bestieg den höchsten Thron,
wer begabt mit List und Hohn.


Erstveröffentlichung am 31. Mai 1998

13. Mai 2007


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