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ES GESCHAH.../020: Der Anekdotenkammer zwanzigste Tür (SB)


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"Jüngst sah ich einen Geist um die Ecke biegen", sagte ein Mathematikprofessor, der für heute inkognito bleiben soll, zu seinem Gesprächspartner. "Es muß wohl meiner gewesen sein. Ich glaube, er eilte mir voraus."

Eigentümliche Welt, nicht wahr, in der Gelehrte leben. Ein Wimpernzucken lang ist man irritiert. Hatte er seine Gedanken nicht beisammen? fragen wir uns. Nun soll nicht der Stab über ihn und seinesgleichen gebrochen werden. Ihre Possierlichkeit dient uns ja zu manchem Scherz und Trost. Wir wollen dem Spuk daher ein wenig nachgehen. Und überhaupt, hungert nicht jedes Wort nach einem tieferen Sinn?

Unter der Oberfläche des Scheinbaren verbergen sich zuweilen Welten voller Hintersinn, nur getrennt durch unser allzu moralisches Empfinden, wir seien anders, gefaßter, mehr den Dingen des Lebens zugewandt. Aber hält uns dieser Irrglaube letztlich nicht minder wie ein Krakenarm umklammert, daß wir die Erscheinung mit dem Gedachten verwechseln? Denn die Wirklichkeit, soviel ist sicher, gründet sich zuletzt und ausschließlich auf der Reflexion innerer Beweggründe.

Legen wir also unser Überlegenheitsgefühl einmal beiseite und wenden uns statt dessen der menschlichen Ohnmacht zu, die hinter der Maskerade des Alltags ein verborgenes Leben führt. Damit öffnet sich auch schon die Tür zur heutigen Anekdote der zwanzigsten Kammer, die uns mit einem schaurig-schönen Gefühl begleitet, denn Reflexion bedeutet im Urkontext nichts anderes, als daß man auf sich selbst zurückspiegelt.

Nächstverwandt dem geistigen Tiefgang ist bekanntlich die zerrupfte Aufmerksamkeit, Zerstreutheit genannt. Ein Mensch, der in die Tiefen des Gedankens hinabtaucht, tut dies nie, ohne sich vorher einen Plan zurechtgelegt zu haben. Für ihn ist es indes nicht nur e-i-n Plan, wie ihn sich viele Zeitgenossen auf die Schnelle ersinnen, während sie in den Mantel schlüpfen oder eine Tasse Kaffee ausleeren, nein, für ihn ist es immer d-e-r Plan an sich als höchster Entwurf des Verstandes. Vor allem Schachspieler neigen dazu, wenn sie in die Abgründe des Tiefsinns hinuntersteigen, alles um sich herum zu vergessen.

Ein Paradebeispiel dieser Art der Selbst-, Ich- und Fremdvergessenheit war der deutsche Schachmeister Ludwig Rellstab. Ging man an dem Tisch vorbei, an dem er gerade über einer Stellung brütete, war keine Regung an ihm, und sei sie noch so klein, erkennbar. So in Stein gemeißelt war er mit seinen Gedanken, daß ihn nichts aus seinem inneren Schaffensdrang erwecken konnte. Drei kurze Episoden aus seinem Schachleben können dies besser zum Ausdruck bringen als ein in aller Ausführlichkeit und wortgewandt geschriebenes Essay.

Auf dem Kalender prangt das Jahr 1942. Rellstab, 38 Jahre alt, auf der Höhe seiner Kreativität, und schon damals besessen von der Leidenschaft, im Schachspiel stets den Götterwurf vollenden zu wollen, legt auf der Deutschen Meisterschaft all sein Können in die siegreiche Waagschale; gründlich, durchdacht, wie von der Muse geküßt sind seine Partien. Keiner seiner Konkurrenten bringt es auf ein so hohes Maß an Selbstvergessenheit wie Rellstab.

Hinter der kühlen Stirn greift Gedanke in Gedanke zu einem endlosen Band meisterhafter Einfälle. Nach dem Turnier berichteten seine Mitspieler, Rellstab sei so in sich versunken gewesen, daß er nicht einmal auf seinen Namen reagiert hätte. Später gab man ihm dessen eingedenk den Namen "Schachprofessor".

Jedenfalls darf sich Rellstab insbesondere in der entscheidenden letzten Partie nicht den geringsten Fehler zuschulden kommen lassen, wenn er die Deutsche Meisterschaft gewinnen will. Den Gedanken zur Tat gemacht, läßt er sich von der Stellung auf dem Brett geradezu hypnotisieren, saugt alles in sich hinein, grübelt bald philosophierend, bald mathematisch-durchtrieben über das Problem nach; und während das Räderwerk seines Gehirns auf Hochtouren läuft, schweigt er wie ein Fels.

So still, wie er ist, so taub sind auch seine Ohren für das Geschehen um ihn herum. Er sieht, hört und spricht nicht, und erst als seine teure Gattin an ihn herantritt und ihm etwas zuflüstert, läßt der Klang ihrer Stimme wie durch Nebel hindurch eine vertraute Saite in ihm aufklingen. Aber sein Bewußtsein bleibt von dieser Anteilnahme unberührt, denn als er den Kopf zu der Frau wendet, die ihn in seiner gedankenvollen Eremitage stört, spricht er sie mit "Gnädige Frau" an, und es klingt völlig ernst. Erst als diese indigniert die Brauen hochzieht, erwacht Meister Rellstab aus seiner inneren Entrückung und wird sich seiner "Verfehlung" schamhaft bewußt.

Die Partie gewinnt er leicht, nur die Versöhnung mit seiner Frau fällt etwas schwieriger aus. Solche dem Stoffe der Verwechslungskomödien entlehnte Begebenheiten sind Rellstab in seinem Leben häufiger, als ihm lieb sein dürfte, widerfahren.

Als er eines Abends, maßlos ausgezehrt von einer schwierigen Turnierpartie, in sein Hotelzimmer zurückkehrt, ist seine Verwunderung nicht gering, als er in seinem Bett eine wildfremde Frau vorfindet. Nun steht Rellstab der Sinn nach allem anderen, nur nicht nach einem Techtelmechtel mit einer liebeshungrigen Dame. Am liebsten wäre er, so erschöpft wie er ist, angezogen aufs Bett gefallen, um in Hypnos traumdunkles Reich zu versinken.

Nach Umarmungen ist ihm beileibe nicht zumute. Also bittet er die Unbekannte mit höflichem, aber nichtsdestotrotz bestimmtem Ton, das Zimmer zu verlassen. Diese gibt sich jedoch äußerst widerspenstig und will gar nicht daran denken, sich aus i-h-r-e-m Bett vertreiben zu lassen. Was ist geschehen? Rellstab hat sich, müde wie er ist und mit einem Kopf auf den Schultern, der noch mit ungereimten Schachvarianten ringt, in der Tür geirrt!

Den tiefsten Einblick in seine - nun ja - gewohnheitsmäßige Gemütsverfassung verdeutlicht jedoch die letzte Episode, die aus dem reichen Schatz Rellstabscher Verwirrungen erzählt werden soll. Menschen von seinem Kaliber kleben an ihren Gepflogenheiten wie Pech an Schwefel. Eher wird der Mond auf die Erde fallen, als daß solch ein Gewohnheitstier Rücksicht nähme auf den modischen Wandel.

Auf Drängen seiner Frau, und um endlich Ruhe zu finden vor ihren Vorhaltungen, hat sich Meister Rellstab eines Tages doch überreden lassen, einen neuen Mantel zu kaufen. Flugs in einen Laden hineingeschlüpft, ist er auch schon wieder draußen und unterwegs zu seinem geliebten Schachcafé, um sich dort in etlichen Partien müßiggängerisch die Zeit zu vertreiben.

Der Abend hat mit seinen vortastenden Schatten bereits den goldenen Kranz der Sonnenstrahlen verscheucht, die Dämmerung die Gehwege je und je entvölkert und mehr und mehr Gäste im Café haben sich auf den Nachhauseweg gemacht, als sich auch Rellstab zum Abschied erheben will. Die Kaffeehäusler unter seinen Schachfreunden sind längst schon daheim bei ihren Familien. Aber da hält ihn - o Schreck - eine fürchterliche Erkenntnis wie mit Wurzeln am Stuhl fest. Er hat vergessen, wie sein neuer Mantel aussieht.

Auch hängen noch zuviele am Garderobenständer, so daß er sich partout nicht besinnen kann. Schon verflucht er den dummen Streich, den er sich selbst spielte, als er sich ein neues Stück zugelegt hatte. Alle Mäntel scheinen ihm fremd entgegenzuglotzen. Was also tun? Unschicklich wäre es gewesen, in den Manteltaschen nach seinen Papieren zu wühlen. Unsterblich hätte er sich blamiert. Und soviel Anstand besitzt er nun doch, um auf seinen Ruf zu achten, der in der Vergangenheit durch dieses und jenes Mißgeschick ohnehin genügend lädiert war.

So bestellt er sich eine Tasse Kaffee nach der anderen. Denn ein gewitzter Einfall hilft ihm aus seiner Kalamität heraus. Er muß warten, bis auch der letzte Gast das Café verläßt. Erst wenn sich die Zahl der Wahlmöglichkeiten auf eins reduziert, kann er sicher sein, daß der Mantel, der noch an der Garderobe hängt, seiner ist.


Erstveröffentlichung am 21. Mai 1997

5. Mai 2007


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