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ES GESCHAH.../016: Der Anekdotenkammer sechzehnte Tür (SB)


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Man denke sich in das Gemüt eines Schachamateurs hinein, der nichts auf der Welt lieber täte, als einem der hochverehrten Meister des Fachs ein Matt in mehreren Zügen anzukündigen. Sterben würde er für diese Ehre, wenn sich ihm nur eine gnadenvolle Gelegenheit dazu böte. Aber wie einen dieser hohen Gedankenkünstler in eine solche Enge und Ausweglosigkeit bringen? Also kämpft sich unser Amateur von Turnier zu Turnier durch, stets wie ein Panther sprungbereit darauf gefaßt, seine Lippen mit dem Lächeln eines angekündigten Mattes zu befeuchten.

All seine Träume sind durchwacht von diesem Wunsche. Es wächst sein Herz mit der Zeit darüber zu wie ein Teich von Seerosen, wird gramerfüllt. Das Auge sieht dann Dinge, die uns kein Spiegel verraten kann, weil sie in der Außenwelt nicht existieren. Nur im Wellengang seines unbefriedigten Dranges tauchen sie hin und wieder auf wie Inseln in einem Meer der Vergeblichkeit.

Doch dann, im Freudenschimmer eines Tages, scheint sich sein Traum zu erfüllen. Endlich sitzt er einem dieser unerreichbaren, unnahbaren Meister gegenüber und - ja wirklich! - ist im Besitze einer gewonnenen Partie.

Wirklich? Oder interpretiert sich ein vergrämtes Gemüt nur die Welt nach seinem Bilde zurecht? Wirklichkeit und Schein streben stets auseinander, und es ist doch gerade diese Kunst, die die Meister so vortrefflich beherrschen, sich nämlich nicht vom Scheinbaren hinters Licht führen zu lassen, tiefer zu blicken als der erste Augenschein.

Unser Schachamateur glaubt jedoch, festgepflockt an seinem Wahngebilde, den Sieg bereits durchschimmern zu sehen. Sein Herzschlag rast, Fieber umglänzt das Auge. Und was seinem Triumph noch den Lorbeer aufs Haupt zu setzen scheint - sein Gegenüber ist kein Geringerer als Meister Gyula Breyer, der dieses Turnier, es ist die ungarische Meisterschaft, als Champion verlassen wird. Und damit öffnet sich die Tür zur 16. Anekdotenkammer.

Der Kalender schreibt das Jahr 1912, und ein Blick aus dem Fenster zeigt das damals noch zum Zweistaatenbund Österreich-Ungarn gehörende Städtchen Temesvar, das Karl VI. im Zuge der östlichen Kolonialisierung mit deutschen Siedlern besiedeln ließ, weswegen dieses Zentrum der Banater Schwaben auch Temeschburg genannt wurde.

Ein warmes Abendrot bedeckt den Himmel, doch unser Freund hat kein rechtes Auge für den Zauber der nächtlichen Stunde. Sein Auge ist vielmehr eingefangen von der Stellung auf dem Brett, die ihrem höchsten Sturm und Zenit entgegeneilt. Trotz seiner 18 Jahre zählt Breyer schon damals zu den kühnsten Köpfen im ungarischen Schach. Später soll er im engen Schulterschluß mit Richard Réti die Hypermoderne Schachschule aus der Taufe heben, jene kurzlebige Ära in der Geschichte des Schachspiels, wo eine Rotte junger, zu allem entschlossener Schachprinzen eine Palastrevolution anzetteln und ein neues Evangelium im Verständnis einer Schachpartie in die Welt hinausrufen wird.

Bereits in Temesvar keimt dieser Gedanke schon dunkel in dem jungen Breyer auf, und so mag die Stellung, die unserem Freund solch Entzücken bereitet, recht verwirrend in ihrer Anlage gewesen sein. Zug um Zug bestürmt er Breyers bizarres Stellungslavieren, glaubt Breschen aufzureißen, wo er lediglich in eine strategische Falle gelockt und von der gegnerischen Armee umzingelt wird. Mit bedächtigem Blick verfolgt Breyer das Tun des Heißsporns, der mehr bewegen möchte, als in seinem kühnen Kopfe gedeiht.

Plötzlich stutzt unser Freund, und nur mit Mühe kann er einen hellen Jauchzer unterdrücken. Die Knöchel gegen die Zähne gepreßt, scheint er von einem Schwindel ergriffen zu sein. Die Bilder vollführen einen seltsamen Tanz vor seinen Augen. Doch dann hat er sich wieder in der Gewalt und mit lauter Baritonstimme, die den ganzen Saal durchschwirrt, ruft er hervor: "Matt in zwei Zügen!"

So benommen ist er von seinem Glück, daß er ganz vergißt, seinen nächsten Zug auszuführen. Plötzlich umringt eine Traube Neugieriger das Brett. Alle Augen heften sich auf die Stellung, wo der ungarische Meister angeblich sein Ende finden soll.

Breyer verzieht keine Miene. Keine Augenbraue zuckt. Mit stoischer Geduld erwartet er den nächsten Zug seines Gegners. Der Atem der Umstehenden sinkt zu einem säuselnden Wind, großer Ereignisse gewärtig. Aber unser Schachfreund zaudert. Plötzlich kann er das zweizügige Matt auf dem Brett nicht mehr finden, so sehr er in fiebernder Eile auch nach dem Flüchtigen greift.

Aber vergebens ist sein Bemühen. Ein Matt in zwei Züge ist gar nicht möglich. Verzweiflung umschleicht ihn, er aber reißt sich los von dem drohenden Schatten der Schmach, und jäh springt ihm ein neuer Hoffnungsschimmer ins Auge, daß er brüllt: "Matt in drei Zügen!"

Nun kommt doch Unruhe in die graue Masse der Kiebitze. Vorsichtiges Getuschel macht die Runde. Blicke schauen sich fragend an. Wo in aller Welt sieht unser Schachfreund einen Dreizüger? Sind denn alle blind und nur er sehend?

Breyer bewegt immer noch keine Miene. Wie eine Statue sitzt er auf seinem Stuhl, den Blick, zu einem Dolch gespitzt, aufs Brett geheftet.

Die Hand unseres Schachfreundes zittert. Sie weiß keine Figur zu berühren, mit der überhaupt ein Matt in wieviel Zügen auch immer möglich sein soll. Allmählich verschwindet der Schleier, der seinen Geist umfangen hält. Beschämende Röte stiehlt sich auf seine Wangen. Das Roß seines unseligen Wunsches ist mit ihm durchgegangen. Schwer stöhnt er auf und verstummt dann erschrocken. Alles schweigt in dieser zum Bersten anschwellenden Stille.

Wie dieser Peinlichkeit entkommen? fragt sich unser Freund, denn seine Stellung, die sein Wahn ins Siegreiche verzerrt hat, steht glatt auf Verlust. Keine Hoffnung weit und breit - alles verloren.

Breyers Armee hält wie ein achtarmiger Krake die wichtigsten Felder auf dem Brett besetzt. Mit einem scheuen Blick auf Meister Breyer kommen die Worte, den Bann dieser so irrtümlichen Augenblicke durchbrechend, über die Lippen unseres Freundes: "Ich gebe auf."


Erstveröffentlichung am 24. Juli 1996

04. April 2007


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