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INTERVIEW/004: Schachdorf Ströbeck - Schachgeschichte, Traditionen, Mythen, Frau Baltzer im Gespräch (SB)


Interview mit der Museumsdirektorin Kathrin Baltzer



Idealismus, Fleiß und ein gerüttelt Maß an Aufopferungsbereitschaft zeichnen Menschen aus, die sich einer Sache verschrieben haben, welche nicht in alltägliche Konventionen eingespannt ist. Ihr Dienst und ungebrochener Wille, Dinge mit ideellem Wert zu verfolgen, kennt weder Uhrwerk noch die Bescheidenheit normgerechter Abläufe. Notwendig müssen sie Kämpfernaturen sein, die notfalls auch gegen Berge streiten, wenn diese der Verwirklichung ihres Anliegens im Wege stehen, und sie müssen vor allem eine von keinem Rückschlag und Gespenst hemmender Bürokratie anfechtbare Liebe im Herzen tragen. Kathrin Baltzer setzt sich als Direktorin des Ströbecker Schachmuseums im Gegenlauf zum Zeitgeist einer modernen Konsumgesellschaft, der bald vergißt, was er verdaut hat, mit ihren Mitteln für die Aufrechterhaltung einer Schachtradition ein, die an diesem Ort seit Jahrhunderten gepflegt wird. Anläßlich der 325-Jahr-Feier des Ströbecker Lebendschachs und des 30jährigen Bestehens des Lebendschachensembles war Frau Baltzer so freundlich, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.

Das Gespräch nimmt seinen Anfang - Foto: © 2013 by Schattenblick

Frau Baltzer und SB-Redakteur an der Rezeption
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Baltzer, in den Augen eines Schachfreundes haben Sie den schönsten Beruf der Welt, alten Schachgeheimnissen und Unikaten von unschätzbarem Wert jeden Tag so nah zu sein. Seit wann leiten Sie das Museum und wie sind Sie dazu gekommen?

Kathrin Baltzer: Ich bin am 1. November 2005 erst einmal für ein Jahr eingestellt worden, weil ich das große Kulturdorfjahr 2006 organisieren sollte. Wir gehören zu den kulturellen Dörfern Europas. Das Netzwerk wurde 1999 gegründet. In jedem Jahr seitdem war eines dieser Dörfer Kulturdorf des Jahres und damit Gastgeber für die anderen elf europäischen Dörfer. Jemand mußte das alles organisieren. Als dann alles vorbei war, wäre mein Vertrag eigentlich ausgelaufen, aber dann hat die Museumsleiterin gekündigt, und ab November 2007 habe ich das Amt übernommen.

SB: Wo kommen Sie her?

KB: Ich komme aus Wernigerode.

SB: Das ist ja nur einen Katzensprung von hier entfernt. Dann kennen Sie das Schachdorf also seit Ihrer Kindheit?

KB: Ja, ich hatte eine Freundin, deren Oma hier wohnte. Daher habe ich schon als Kind gewußt, daß es ganz in der Nähe ein spezielles Dorf gibt.

SB: Könnten Sie uns etwas zur Entstehungsgeschichte des Schachmuseums erzählen und welche Motive, Personen und aus dem Weg zu räumende Hindernisse damit verbunden waren?

KB: Die eigentliche Geschichte des Schachmuseums beginnt mit Herrn Cacek. Aber es hat in der Vergangenheit - das kann man in den Quellen lesen - bereits ein sogenanntes Traditionszimmer gegenüber im Gasthaus zum Schachspiel gegeben. Wenn Leute hierherkamen, um sich zu vergewissern, ob es das Schachdorf wirklich gibt, wurden Sie in das Traditionszimmer geführt. Darin war neben dem Kurfürstenbrett auch das Schachbuch von Gustavus Selenus verwahrt. Einen historischen Bericht über seine Erfahrungen in Ströbeck gibt Hirsch Silberschmidt 1826 in seinem Werk "Die neu entdeckten Geheimnisse im Gebiete des Schachspiels".

Herr Cacek hatte auf Anfrage schon verschiedene Ausstellungen organisiert. Die Ausstellungsstücke kamen vom Ströbecker Schachverein bzw. von anderen Ströbeckern, die Schachutensilien und Gegenstände, auch Fotos, aus der Ströbecker Schachgeschichte besaßen. Da der Auf- und Abbau der Ausstellungen sehr mühsam war, konnte es so auf Dauer nicht weitergehen. Irgendwann hat Herr Cacek die Idee gehabt, einen festen Ort für die Präsentation der Ströbecker Schachtradition einzurichten. Es hat aber ziemlich lange gedauert, bis sich alles mit sehr viel Freiwilligenarbeit der Ströbecker zusammengefunden hat. Schließlich wurde das Schachmuseum 1991 in dem kleinen Häuschen gleich neben dem Schachturm eröffnet. Endlich konnten alle Ausstellungsstücke vom Verein, von Ströbeckern, aber auch von auswärtigen Freunden, die uns Schachobjekte geschenkt oder im Testament vermacht hatten, dauerhaft gezeigt werden. Dieses erste Museum hatte allerdings eher einen Heimatmuseumcharakter.

SB: Welche Exponate lagen damals aus?

KB: Im wesentlichen die Exponate, die man hier in dem neuen Museum im ersten Ausstellungsraum zur Ströbecker Schachgeschichte einsehen kann. Und natürlich auch das Kurfürstenbrett, das lange Zeit drüben im Traditionszimmer im Gasthaus hing. Es war ordentlich zugeräuchert, und ich habe mir erzählen lassen, daß es, als hier das neue Museum errichtet wurde, erst einmal restauriert werden mußte.

Ströbecker präsentieren das Kurfürstenbrett - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das Ströbecker Prunkstück
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Bei der Menge an Material, das sich über Funde und Schenkungen ansammelt, muß es doch schwierig sein, eine Auswahl zu treffen, zumal die Räumlichkeiten begrenzt sind. Nach welchen Kriterien werden die Ausstellungsstücke ausgewählt, und wer entscheidet letzten Endes darüber?

KB: Da ich das Schachmuseum leite, entscheide natürlich ich darüber, was gezeigt wird. Das richtet sich danach, zu welchem Thema wir etwas zeigen wollen. Zum Beispiel zur aktuellen Sonderausstellung "Schachlegenden", die derzeit mit Emanuel Lasker beginnt, habe ich Bücher, Münzen, Briefmarken etc. von oder mit Emanuel Lasker herausgesucht.

SB: Hat sich durch die Eingemeindung Ströbecks zu Halberstadt und die Einbindung des Schachmuseums ins Städtische Museum Halberstadt etwas für das Museum in Ströbeck verändert, sind Kompetenzen abgetreten worden?

KB: Auf der einen Seite bin ich Leiterin des Schachmuseums geblieben und kann weitgehend genauso frei Themen, Veranstaltungen etc. gestalten wie zuvor. Auf der anderen Seite ist die Verwaltungsstruktur viel größer und komplexer geworden. Man kann nicht mehr wie früher die Dinge einfach zwischen Museum und Bürgermeister absprechen über den sogenannten "kurzen Dienstweg". Da sind heute viel mehr Feinheiten einzuhalten.

Drei Willkommensplakate im Innenhof des Schachmuseums - Foto: © 2013 by Schattenblick

Begrüßungsplakate anläßlich des Ströbecker Kulturdorfjahres 2006
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Das Förderprogramm LEADER+ war für den Aufbau des neuen Museums in Ströbeck von zentraler Bedeutung. Könnten Sie etwas dazu sagen?

KB: Als das Schachdorf Ströbeck, das zu dem Netzwerk der kulturellen Dörfer Europas gehört, 2006 Gastgeber für die anderen elf Partnerdörfer war (Konferenzen, Kulturaustausche, Jugendcamp), hatte der damalige Bürgermeister Rudi Krosch die Gelegenheit genutzt, Fördermittel für das Kulturdorfjahr zu beantragen und im gleichen Atemzug das Schachmuseum zu erneuern. Außerdem wurde ein verlassener Bauernhof zum Europapark umgebaut. So waren wir also mit Hilfe von LEADER+ vorzeigbar für unsere europäischen Gäste und konnten die Veranstaltungen durchführen. Mit dem Umzug des Schachmuseums in das ehemalige Rathaus am Platz zum Schachspiel wurde erstmals ein wissenschaftliches Ausstellungskonzept erarbeitet und eine hauptamtliche Kraft eingestellt. Das war damals Angela Matthies. Ich selbst bin für die Organisation des Kulturdorfjahres durch LEADER+ eingestellt worden.

Farbdruck des Ströbecker Schachturms im Museum - Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Schachturm - künstlerisch dargestellt
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Der Schachturm kann auf Anfrage im Museum besichtigt werden. Dort soll die Schachtradition in Ströbeck ihren Anfang genommen haben. Könnten Sie einmal schildern, was man dort vorfindet?

KB: Als erstes trifft man auf einen steinernen Schachtisch mit Figuren, natürlich nicht original aus dem 11. Jahrhundert, sondern nachträglich zur Anschauung errichtet. Dann kann man über eine Treppe bis hinauf zum kleinen Fenster gehen. An den Wänden sind auch noch ein paar erklärende Tafeln angebracht.

SB: Vom Kurfürstenbrett ist im Museum nur noch eine Kopie ausgestellt, obwohl das Original seit fast 400 Jahren im Besitz des Schachdorfes war. Haben sich die Besitzansprüche verändert, und wo wird es heute aufbewahrt?

KB: Das Kurfürstenbrett befindet sich immer noch im Schachmuseum. Leider hat es einen Riß bekommen, und wir konnten mit unseren bescheidenen Mitteln kein günstiges Raumklima herstellen, damit sich der Riß wieder schließt. So haben wir es zur Sicherheit wieder gut verpackt und stellen eine sehr schöne Kopie aus, die wir vom Haus der Geschichte in Bonn erhalten haben, als sie das Kurfürstenbrett für ihre Ausstellung "Zug um Zug. Schach - Gesellschaft - Politik" 2006/2007 von uns ausgeliehen hatten. Natürlich ist das nicht ideal. Ein Museum lebt von Originalen. Wem eine bessere Lösung einfällt, immer her damit, darüber würden wir uns freuen.

SB: Die Figuren zum Kurfürstenbrett sind über die Zeit verlorengegangen. Im Museum sind nach einem alten Gemälde aus dem 16. Jahrhundert von einer Schülergruppe Figuren nachgestellt worden. Gibt es Hinweise darauf, wie die Figuren im Original ausgesehen haben könnten, möglicherweise über Recherchen in anderen Museen aus der Region, die sicherlich auch einen Fundus an Spielfiguren aus alter Zeit besitzen?

KB: Die Schachfiguren sind nirgends in der Literatur oder in Dokumenten, die wir bisher kennen, beschrieben worden. Man könnte sich allenfalls einmal die Mühe machen zu schauen, was für Figuren damals am Hof des großen Kurfürsten von Brandenburg benutzt wurden und Überlegungen davon ausgehend anstellen. Aber damals schon war die Variantenvielfalt an Schachfiguren sehr groß.

SB: Ströbeck genießt einen einzigartigen Ruf nicht nur wegen seiner langen Schachtradition, sondern auch, weil hier, gleich dem berühmten gallischen Dorf, über lange Zeit die spezielle Ströbecker Spielart und das Kurierschachspiel gepflegt wurden, während im Rest Europas nach den modernen Regeln gespielt wurde. Wird dieses andere Schach heutzutage noch in der Schule unterrichtet?

KB: Nein, ich weiß aber, daß die Ströbecker Spielart auf einem 8x8-Brett noch bis in die 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein in der Schule gelehrt wurde. Eine ältere Ströbeckerin hat mir einmal erzählt, daß sie in der Schule zuerst das Ströbecker Schach und dann später das Leipziger Schach - damit meinte sie das internationale Schach - gelernt hätten, um an Turnieren teilnehmen zu können. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg ist hier in Ströbeck praktisch nur das moderne internationale Schach gelehrt worden, ausgenommen einiger weniger Stunden, in denen man auch die Ströbecker Aufstellung unterrichtete, damit die eigene Tradition nicht in Vergessenheit gerät.

Tische mit Schachbrett und -figuren im Leseraum des Museums - Foto: © 2013 by Schattenblick

Einladung zur Schachpartie
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Gibt es Ihrer Erkenntnis nach noch Leute hier im Schachdorf, die das Ströbecker Schach beherrschen?

KB: Ich bin ja selbst Außenstehende, aber soweit ich das bisher beobachten konnte, hat sich das internationale Schach vollständig durchgesetzt, das im 19. Jahrhundert mit der Entwicklung von Schachvereinen auch auf Handwerkerebene aufkam. In der Folgezeit bildeten sich Verbände und man trat in Wettkämpfen gegeneinander an. Spätestens zu diesem Zeitpunkt mußten die Ströbecker anfangen, sich mit dem internationalen Schach zu befassen, zumal hier 1885 der erste Harzer Schachkongreß getagt hat, bei dem zugleich ein Turnier abgehalten wurde. Da mußten die Ströbecker ihre alte Spielweise endgültig abschütteln, weil sie nicht mehr davon ausgehen konnten, daß alle, die hierherkommen, nach den Ströbecker Regeln zu spielen bereit sein würden. Über die Ströbecker Regeln hatte sich Herr Silberschmidt noch jämmerlich beschwert: Das sei ja kein Wunder, daß die immer gewinnen, weil man sich erst in die Regeln reinfuchsen müsse, und dann spielen sie auch noch gegen Geld. Deswegen hat er die Ströbecker Regeln in seinem Buch aufgeschrieben als Warnung für jeden, der hierherkommt, damit er sich schon einmal vorbereiten kann. Also spätestens mit der Entstehung von Schachvereinen, Verbänden und Turnieren blieb den Ströbeckern nichts anderes übrig, als den Ströbecker Regeln Adieu zu sagen.

Frau Baltzer und SB-Redakteur im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Keine Details auslassen
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Aus alten Texten geht hervor, daß das Schachspiel nach der arabischen Spielweise früher in dieser Region weitverbreitet war. Können Sie sich erklären, warum es in Ströbeck erhalten geblieben ist, sich sogar ganz spezifische Spielformen entwickelt haben, wie die Ströbecker Tabiya und das Kurierschachspiel?

SB: Die Tabiya und das Kurierspiel sind keine Ströbecker Erfindung. Das Schach kam etwa im 8. bis 9. Jahrhundert auf verschiedenen Wegen aus dem persisch-arabischen Raum nach Europa und natürlich entsprachen die Regeln damals noch der arabischen Quelle. Es entwickelte sich jedoch weiter. Dame und Läufer waren zum Beispiel noch kurzschrittig und es gab noch keine Rochade. Zudem spielte jede Region in Europa auf ihre Weise. So gab es zum Beispiel verschiedene erlaubte Doppelzüge, wovon heute die Rochade übriggeblieben ist. Durch die Kurzschrittigkeit von Dame und Läufer kam das Spiel nur sehr schwer in Gang, und daher war die Eröffnungsstellung, die Tabiya, sehr wichtig, die den Offiziersfiguren den Weg freimachte, ins Spiel einzutreten. Die Tabiyas waren regional ebenfalls unterschiedlich. Es wurde viel experimentiert, um das Spiel dynamischer zu machen. So entstand auch das Kurierspiel, bei dem die Kurierfigur so ziehen durfte wie heute der Läufer. Um 1500 setzte sich dann das Schach der "dama rabiosa" durch, also der starken Dame, wie wir sie heute kennen, und des weitschrittigen Läufers. Damit wurde das Kurierspiel auf Dauer in Europa uninteressant.

Wenn man nach der Legende geht, kam der unbekannte Schachlehrer frühestens 1011 nach Ströbeck. Wenn man die Spielweise der Ströbecker vergleicht mit der Entwicklung des Schachs in Europa, kam das Schach spätestens im 13. Jahrhundert nach Ströbeck. Es ist wohl durchaus nachvollziehbar, daß die Ströbecker ihr Schachspiel einfach so beibehalten haben, wie sie es einmal gelernt hatten. Vielleicht kam dann in den späteren Jahrhunderten auch noch etwas Sturheit oder vielleicht auch Stolz auf die Ströbecker Besonderheit dazu. Von Gustavus Selenus wissen wir aus seinem Schachbuch von 1616, daß die Ströbecker Dame und der Läufer immer noch kurzschrittig waren. Bei Hirsch Silberschmidt lesen wir 1826, daß die beiden Figuren jetzt weitläufig geworden sind, aber ansonsten alles beim alten blieb. Im 19. Jahrhundert, als Schach auch auf Arbeiter- und Bauernebene gespielt wurde, sich Vereine und Verbände bildeten, die Turniere ausrichteten etc., kam die Schachwelt zusammen, um endgültig die Schachregeln international einheitlich festzulegen. Das dauerte von 1850 beim großen Londoner Turnier bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Das war auch die Zeit, in der die Ströbecker parallel das Ströbecker und das internationale Schach spielten. Die Zeiten hatten sich um sie herum einfach so grundlegend verändert, daß die Ströbecker ihre 'Sturheit' aufgeben mußten, wenn sie daran teilhaben wollten.

Altes Foto aus Ströbeck mit Hochzeitszug - Foto: 2013 by Schattenblick

Nach dem Ausspielen der Braut - Hochzeitsmarsch durch das Dorf
Foto: 2013 by Schattenblick

SB: In Ströbeck wurde in früheren Zeiten ein besonderer Hochzeitsbrauch gepflegt, bei dem der Bräutigam seine Braut am Hochzeitstag erst durch eine Partie gegen den Dorfschulzen gewissermaßen ausspielen mußte. Gibt es im Museum irgendwelche Dokumente oder Belege, die dieses Hochzeitsrecht auf ein bestimmtes Jahrhundert datieren lassen?

KB: Zu diesem Hochzeitsbrauch gibt es direkt eine Quelle. Ein Ströbecker Pfarrer verfaßte noch zu Lebzeiten seine Lebensgeschichte und beschrieb darin, daß Herzog Ludwig Rudolf von Braunschweig-Plankenburg ein großes Fest mit Redouten und was nicht allem ausrichten und für seine Gäste eben auch eine Bauernhochzeit nachstellen lassen wollte. Da sei er zusammen mit seinem Vater zum Sitz der Adelsfamilie gegangen, um dem Herzog zu eröffnen, daß man in Ströbeck die Hochzeit auf eine spezielle Art begehe, nämlich daß der Bräutigam die Braut erst durch ein Schachspiel ausspielen müsse. Der Herzog fand das sehr interessant und forderte den Dorfschulzen auf eine Partie Schach heraus. Während des Spiels darf man eigentlich niemandem Tips geben, aber der Ströbecker Brauch sah vor, daß man, wenn jemand eine falsche Idee verfolgte, ihm zurufen konnte: Vatter, mit Rat. Das muß der Junge wohl gemacht haben, aber der Herzog war so beeindruckt von ihm gewesen, daß er ihn zu sich aufs Schloß genommen und erzogen hat. Deswegen konnte er später Pfarrer werden.

Durch diese besondere Lebensgeschichte haben wir eine Quelle, in der dieser Hochzeitsbrauch erwähnt wird. Danach haben wir keine Quellen mehr, und deswegen sage ich auch immer bei den Führungen, dieser Brauch wurde wahrscheinlich im 17./18. Jahrhundert gepflegt, weil wir das durch eine Quelle wissen. Aus dem Umstand, daß danach keine Quellen mehr auffindbar sind, kann man den Schluß ziehen, daß der Brauch wahrscheinlich untergegangen ist. Dennoch hat 2007 wieder ein Brautpaar nach dieser Tradition geheiratet. Die Braut hat vorher wohl 30. Geburtstag gefeiert, und da haben die Geburtstagsgäste zu ihr gesagt, wenn ihr demnächst heiratet, dann müßt ihr es nach der Ströbecker Tradition tun. Das war eine Schnapsidee, aber mittlerweile sind es, wenn ich mich nicht verzählt habe, sieben Paare, die diesen Brauch vollzogen haben. Für den Bürgermeister ist es immer eine Herausforderung. Er muß sich dann dieser Tradition stellen.

Diverse Schachfigurensets hinter einer Vitrine - Foto: © 2013 by Schattenblick

Aus verschiedenen Kulturen und Zeiten
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Ströbeck versucht seit einiger Zeit, als Weltkulturerbe anerkannt zu werden, was bislang allerdings nicht gelang. Angesichts der Einzigartigkeit des Schachdorfes und seiner jahrhundertealten Tradition verwundert es, daß es nicht längst geschehen ist. Welche administrativen Hürden stehen dem im Wege und wie gestaltet sich überhaupt ein diesbezüglicher Antrag?

KB: Die Hürde war einfach, daß Deutschland die Kategorie "Immaterielles Kulturerbe" noch nicht unterschrieben hatte. Das UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes wurde im Rahmen der 32. Generalversammlung der UNESCO 2003 beschlossen und ist 2006 in Kraft getreten. Wahrscheinlich hatte der damalige Kultusminister von Sachsen-Anhalt, J. H. Olbertz, gedacht, daß Deutschland schnell mitziehen und die Kategorie unterzeichnen würde. Daher hatte er uns geraten, uns für die Aufnahme in das immaterielle Kulturerbe zu bewerben. Tatsächlich trat die Bundesrepublik Deutschland erst in diesem Jahr am 9. Juli 2013 offiziell bei. Nun kann es also losgehen. Meine damalige Dokumentation von 2007 wurde in das offizielle Formular eingepaßt und wir müssen noch zwei unabhängige Experten finden, die für uns ein Empfehlungsschreiben verfassen und dann kann der Antrag abgeschickt werden. Das Kultusministerium steht spürbar hinter uns. Das ist auch gut so, denn sie müssen entscheiden, ob sie uns bei der entsprechenden Kultusministerkonferenz vorschlagen.

SB: Vor einigen Jahren hat der frühere Bürgermeister Rudi Krosch eine Kooperation zwischen Ströbeck und Hitzacker mit seinem Alten Zollhaus vereinbart. Beide Orte sind zumindest über das Schachbuch von Gustavus Selenus historisch miteinander verknüpft. Sie waren bei den Verhandlungen damals dabei. Könnten Sie etwas über den Hintergrund dieser Museumskooperation sagen und welche Bedeutung sie bis heute eventuell noch hat?

KB: Man hatte die schöne Vorstellung, daß man über gemeinsame Projekte Fördermittel beantragen könnte und die beiden Häuser damit weiter voranbringen würde. Leider hat sich das im Sande verlaufen, weil schon die erste Projektidee an unseren fehlenden Eigenmitteln scheiterte. Das müssen wir leider auf unsere Kappe nehmen.

Frau Baltzer erklärt komplexe Zusammenhänge - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Sie leiten Führungen im Museum und erklären dabei wohl weitgehend Laien im Schachspiel die Ströbecker Tradition. Wer war der prominenteste Gast, der das Museum besucht hat, und gibt es eine witzige Begebenheit in Ihrer Zeit als Museumsdirektorin, von der Sie gerne erzählen möchten?

KB: Ich habe schon davon gehört, daß ein Scheich im Schachmuseum vorbeigeschaut hat. Da können Ihnen sicherlich diejenigen, die im Museum Dienst gemacht haben seit der Gründung 1991 viele Geschichten erzählen. Ich selbst hatte jüngst Wolfgang Uhlmann zu Gast und habe ihn durch das Museum geführt. Er hatte sich sehr gefreut, daß er auf unserer Tafel der Simultanvorstellungen stand, die er 2004 in Ströbeck abgehalten hatte. Ein witzige Begebenheit fällt mir nicht ein, was nicht heißen soll, daß es hier immer bierernst zugeht.

SB: Zuletzt noch eine persönliche Frage: Welches Exponat aus dem Museum gefällt Ihnen am besten?

KB: Es gibt so vieles, was selbst ich immer wieder neu entdecke, wenn ich durch die Räume gehe. Wenn wir das originale Kurfürstenbrett wieder herzeigen könnten, das wäre natürlich top!

SB: Herzlichen Dank, Frau Baltzer, für das Interview.

Das Schachmuseum aus der Frontalperspektive - Foto: © 2013 by Schattenblick

Für jeden Schachfreund - ein Haus unvergeßlicher Erinnerungen
Foto: © 2013 by Schattenblick

27. September 2013