Schattenblick →INFOPOOL →REPRESSION → FAKTEN

INTERNATIONAL/041: Brasilien - Sicherheitskräfte erstürmen Favela, Reaktionen geteilt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. November 2011

Brasilien: Sicherheitskräfte erstürmen Favela - Reaktionen geteilt

von Fabiana Frayssinet

Straße in einer befriedeten Favela in Rio - Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Straße in einer befriedeten Favela in Rio
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Rio de Janeiro, 18. November (IPS) - In Rio de Janeiro hat das Militär die Kontrolle über die Favela 'La Rocinha' übernommen, die als uneinnehmbarer Rückzugsort von Drogenhändlern galt. Die Reaktionen darauf sind geteilt. Während einige Beobachter die Aktion als Beweis für eine erfolgreiche Befriedungsstrategie sehen, kritisieren sie andere als reinen Medienzirkus.

Nur wenige Stunden nachdem 2.000 Soldaten und Polizisten das im Süden der Stadt gelegene Armenviertel mit rund 100.000 Einwohnern besetzt hatten, kündigte der Sicherheitsminister des Bundesstaates Rio de Janeiro, José Mariano Beltrame, die "Rückgabe des Territoriums" an die Behörden an. "Dieses Ziel haben wir Gott sei Dank ohne einen Schuss und ohne Blutvergießen erreicht", sagte der Minister.

Der Sozialexperte Luiz Eduardo Soares, der Amtsvorgänger von Beltrame, nannte den am Morgen des 13. November begonnenen Einsatz dagegen ein "Spektakel". Zahlreiche Journalisten aus aller Welt beobachteten die Operation 'Friedensstoß', die zum 'D-Day von La Rocinha' stilisiert wurde. Einige schliefen in nahegelegenen Hotels, andere harrten in ihren Autos aus, um den 'Angriff' auf keinen Fall zu verpassen.

Die mit Pauken und Trompeten angekündigte Militäraktion verfolgte das Ziel, in den frühen Morgenstunden alle Zugänge zu dem Elendsviertel zu blockieren. Alle wollten Zeuge dessen sein, was Gouverneur Sérgio Cabral als "historischen Tag für den Frieden" bezeichnete. "La Rocinha gehört uns", titelte am nächsten Tag die überregional erscheinende Zeitung 'O Globo'. Kameras filmten die Stürmung der Favela, gegen die die seit 30 Jahren in La Rocinha herrschenden Rauschgiftbanden keinen Widerstand leisteten.


Medienwirksame Demonstration von Stärke

Die Fernsehzuschauer konnten beobachten, wie Panzerfahrzeuge in die engen und verzweigten Gassen des auf einem Hügel gelegenen Viertels vordrangen. Soldaten und Mitglieder von Eliteeinheiten der Militär- und Zivilpolizei, Drogenspürhunde und Helikopter waren ebenfalls zur Stelle. Man meinte, einen Umzug zum Unabhängigkeitstag vor Augen zu haben.

"Ich bin morgens durch den Hubschrauberlärm aufgewacht", sagte eine Einwohnerin der Favela IPS. "Sonst war alles ganz normal." Nach der jahrelangen Vorherrschaft der Drogenbanden, mit denen die Polizei nicht selten gemeinsame Sache machte, hätten die Menschen in La Rocinha das Vertrauen in den Staat verloren. Nun bleibe abzuwarten, wie lange die Polizisten die Stellung hielten, meinte der Verkäufer Edson Pereira.

Einige Bewohner von La Rocinha suchen solange Zuflucht bei Verwandten, bis der Einsatz in der Favela zu Ende sein wird. "Die Hubschrauber über mir erinnern eher an Francis Ford Coppola als an den Vietnamkrieg", schrieb ein Augenzeuge in dem sozialen Netzwerk 'Facebook'. Er sprach von der 'Choreografie eines Krieges, der niemals stattfinden wird".

Der Einsatz sei Teil einer Strategie, um von Drogengangstern besetzte Gebiete zu befreien, meinte Michel Misse, Direktor eines Studienzentrums für Konfliktforschung an der Föderalen Universität von Rio de Janeiro. Seit 2009 gebe es die sogenannte 'Befriedungspolizei' (UPP), zu deren Aufgaben die dauerhafte Besetzung von Gebieten und soziale Dienstleistungen gehörten. "Diese neue Sicherheitsstrategie ersetzt den traditionellen Frontalkampf gegen den Drogenhandel durch die Befriedung der Gemeinden."

"Der Rauschgifthandel verschwindet damit noch nicht, wohl aber die bewaffneten Gruppen und ihre Kontrolle über die Bevölkerung", sagte Ignacio Cano, Koordinator des Zentrums für Gewaltanalyse an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro. "Die Drogengeschäfte werden sich in geringerem Ausmaß fortsetzen, so wie dies etwa auch in Dänemark und in anderen Teilen der Welt geschieht", erklärte er. "Dafür enden die Schießereien, die Gewalt und die Vorherrschaft über ein bestimmtes Territorium."


Beobachter zweifeln an langfristigen Veränderungen

Bei gewaltsamen Zwischenfällen kamen in La Rocinha früher bis zu 20 Menschen täglich ums Leben. Mit der Besetzung der Favela schließt sich jetzt ein Sicherheitsgürtel um diejenigen Armenviertel von Rio, in denen Stadien und andere Anlagen für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 entstehen sollen. Einige Beobachter befürchten allerdings, dass es sich nur um vorübergehende Maßnahmen und nicht um eine längerfristige Strategie handelt.

In Rio de Janeiro gibt es etwa 750 Favelas, in denen insgesamt rund 1,5 Millionen Menschen leben. Das entspricht einem Drittel der Bevölkerung der Stadt. Bis 2014 wollen die Behörden 40 dieser Elendsviertel 'befriedet' haben. (Ende/IPS/ck/2011)


Link:
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=99616

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 18. November 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2011