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INTERNATIONAL/033: Brasilien - Krimineller Arm des Staates, Polizistengangs terrorisieren Favelas (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. November 2011

Brasilien: Krimineller Arm des Staates - Polizistengangs terrorisieren Favelas

von Fabiana Frayssinet

Der von Paramilitärs bedrohte Abgeordnete Marcelo Freixo - Bild: &opy; Vincent Rimbaux/IPS

Der von Paramilitärs bedrohte Abgeordnete Marcelo Freixo
Bild: &opy; Vincent Rimbaux/IPS

Rio de Janeiro, 3. November (IPS) - Unermüdlich setzt der brasilianische Abgeordnete Marcelo Freixo seinen Kampf gegen paramilitärische Milizen in Rio de Janeiro fort. Von seinen Gegnern erhält er Todesdrohungen - genau wie sein fiktionaler Gegenpart in dem Oscar-gekrönten Film 'Tropas de Elite 2' von José Padilha.

Seit 2008, als er den Vorsitz des Untersuchungsausschusses im Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro übernahm, wird Freixo mit anonymen Morddrohungen überzogen. Der Abgeordnete der Partei Sozialismus und Freiheit befasst sich unter anderem mit illegalen Banden aus den Reihen von Polizei und Armee.

Doch nicht nur Freixo schwebt in Lebensgefahr. Wie der Parlamentarier Ende Oktober erklärte, haben die Gangs auch den Sicherheitsminister von Rio de Janeiro, José Mariano Beltrame, ins Visier genommen.

Seit der Ermordung der Richterin Patricia Acioli im August steht Freixo unter einem noch größeren Schutz als bisher. Acioli ging unerbittlich gegen Milizen und korrupte Polizisten vor. Im Zusammenhang mit dem Verbrechen wurden der Kommandeur eines Bataillons der Militärpolizei und mehrere Polizisten inhaftiert.


Bodyguards und gepanzerter Wagen

"Wenn sie einen Richter umbringen, können sie mit Leichtigkeit auch einen Abgeordneten, einen Staatsanwalt und einen Sicherheitsminister ermorden", sagte Freixo IPS. "Niemand stellt ihre kriminellen Fähigkeiten in Abrede." Mittlerweile wird er ständig von Bodyguards begleitet und fährt in einem gepanzerten Auto.

Die parlamentarische Untersuchung hat immerhin zu Ermittlungen gegen mehr als 1.000 Verdächtige und zur Festnahme von etwa 500 Personen geführt. Unter ihnen sind auch "einige bekannte Gesichter", wie Freixo erklärte. Auch ein Abgeordneter und mehrere Stadträte aus Rio de Janeiro und den beiden benachbarten Städten Duque de Caxias und Nova Iguaçu stehen vor Gericht.

Freixo zieht Vergleiche zur italienischen Mafia. Die brasilianischen Paramilitärs treiben in den Elendsvierteln, den 'Favelas', an den Hügeln von Rio ihr Unwesen. Die Gangster erpressen von den Bewohnern Schutzgelder und kontrollieren lokale Geschäftsleute, die etwa mit Gasflaschen, Kabel-TV-Angeboten und informellen Transportleistungen handeln.

Die Milizen sind schwer bewaffnet, und ihre Anführer aktive oder ehemalige Polizeibeamte, Soldaten, Feuerwehrleute und Gefängniswärter. Auf diese Weise ist ein "krimineller Arm innerhalb des Staates" entstanden, warnte Freixo.

Einer von 170 Paramilitärs, gegen die bereits ermittelt wurde, hatte umgerechnet 97.000 US-Dollar am Tag verdient. "Damit kann man viele Waffen und Menschen kaufen", so der Abgeordnete. Freixo leitet inzwischen einen parlamentarischen Ausschuss, der den Waffen- und Munitionshandel in dem Bundesstaat untersucht.

Der Politiker hält diese illegalen Gruppen für die derzeit größte Bedrohung der öffentlichen Sicherheit. Diese hätten vor, die "Korridore der Macht" zu besetzen.

Padilha hat diese Realität in seinem Film 'Tropa de Elite 2' verarbeitet. Wagner Moura spielt darin 'Roberto Nascimento', den Kommandeur eines Elitebataillons in Rio, der zum Unterstaatssekretär für Sicherheit befördert wird.


Korrupte Polizisten agieren als Mafia

Vorher hatte Padilha bereits 'Tropa de Elite 1' gedreht, in dem es um Drogenhandel und Korruption bei der Polizei ging. In dem zweiten Film gibt es einen weiteren Feind. "Nach der Vertreibung der Drogenmafia aus den Favelas haben die paramilitärischen Milizen erkannt, dass das Geschäft ohne die Beteiligung der Drogenbarone lukrativer ist", sagte der Regisseur gegenüber IPS.

Padilha zufolge kontrollieren die paramilitärischen Einheiten die Elendsviertel ähnlich wie die Mafia Teile New Yorks und Italiens beherrscht. "Drogenhändler waren vorher nicht einflussreich genug gewesen, um Stadträten und Abgeordneten auf Regional- und Bundesebene zum Wahlsieg zu verhelfen", bemerkte er. "Die Milizen hingegen sind dazu sehr wohl in der Lage. Sie sind das wahre Antlitz des organisierten Verbrechens."

In Padilhas Erfolgsfilm, der bisher etwa elf Millionen Menschen in die Kinos lockte, vermischen sich Realität und Fiktion. 'Fraga', ein Geschichtsprofessor, der ins Regionalparlament gewählt wird, fällt im Film einem Angriff der Milizen zum Opfer. Freixo diente als direktes Vorbild für die Figur, die von Irandhir Santos gespielt wird.

Dem Filmemacher zufolge werden allein Rio de Janeiro jedes Jahr 1.000 Menschen von Polizisten getötet. Das sei eine exorbitant hohe Zahl. In den USA werden ungefähr 250 Menschen im Jahr von Polizeikugeln tödlich getroffen.


Der Mafia die Wirtschaftsbasis entziehen

Padilha und andere Kulturschaffende sind sich sicher, dass es zu einer Revolte kommen könnte, sollte Freixo etwas zustoßen. Sie sehen als einzigen Ausweg aus der Sicherheitskrise eine tief greifende Polizeireform, die den Beamten eine bessere Bezahlung und Ausbildung sichert.

Freixo wiederum ist der Meinung, dass es wichtig ist, die illegalen Gangs finanziell auszutrocknen. "Diese Milizen sind Mafiabanden. Sie sind eine Macht innerhalb des Staates, keine parallele Gewalt. Einige Mitglieder ins Gefängnis zu schicken und die Gruppe allein mit der zivilen Polizei zu bekämpfen, reicht nicht aus." (Ende/IPS/ck/2011)


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2011