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INTERNATIONAL/004: Mexiko - Verschwinden lassen, im Kampf gegen Drogenhandel ist jedes Mittel recht (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Juli 2011

Mexiko: Verschwinden lassen - Im Kampf gegen den Drogenhandel ist jedes Mittel recht

Von Daniela Pastrana

Proteste von Angehörigen Verschwundener in Monterrey - Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Proteste von Angehörigen Verschwundener in Monterrey
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Monterrey, Mexiko, 21. Juli (IPS) - Es geschah am helllichten Tag: Der Schachspieler Roberto Galván hatte sich auf dem zentralen Platz der Ortschaft General Terán im mexikanischen Bundesstaat Nuevo León in die Sonne gesetzt, als er von Sicherheitsbeamten festgenommen und abgeführt wurde. Seitdem fehlt von dem 33-Jährigen jede Spur.

In den Unterlagen der Polizei tauchte die Festnahme vom 25. Januar nicht auf. Sie war jedoch von Augenzeugen bestätigt worden. Erst auf Druck von Galváns Vater räumten die Sicherheitskräfte die Verhaftung ein, für die es keinen besonderen Grund gegeben hatte. Ihnen zufolge war Galván zunächst verhört und später wieder freigelassen worden. "Das einzige, das sich mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass mein Sohn seit seiner Festnahme verschwunden ist", kommentiert Roberto Galván Senior die polizeilichen Angaben.

Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich in am 12. November 2010 in Monterrey, der Wirtschaftsmetropole von Nuevo León. Dort wurde Jeiu Abraham Sepúlveda wegen einer Parksünde festgenommen. Als ihn seine Frau auf dem Mobiltelefon anrief, berichtete er, dass er in einem Bezirkskommissariat festgehalten werde und nicht telefonieren dürfe.

Die Familie sprach daraufhin drei Tage lang in verschiedenen Polizeistationen vor, bis sie schließlich von einem örtlichen Polizeikommandanten darüber informiert wurde, dass die Bundespolizei Sepúlveda der Marine übergeben habe. Eine Videoaufnahme bestätigte die Aussage. Sie zeigt, wie der 24-Jährige in Handschellen von Beamten der Bundespolizei abgeführt wird. Erst zu diesem Zeitpunkt waren Polizei und Marine bereit, die Verhaftung zuzugeben. Sie wollen Sepúlveda noch am Tag der Festnahme wieder auf freien Fuß gesetzt haben. Angeblich hat er ein Taxi genommen.

Die Begleitumstände seiner Verhaftung und seines Verschwindens haben bei den Angehörigen etliche Fragen aufgeworfen. Warum hatte man Sepúlveda keinen Strafzettel ausgestellt, anstatt ihn auf ein Revier zu bringen? Warum wurde die Festnahme nirgendwo dokumentiert? Warum wurde der Gefangene keinem Haftrichter vorgeführt und warum wurde er zu einer Marineeinrichtung gefahren?


Ohnmächtige Familien

Verónica Sepúlveda, die ältere Schwester, ist nach eigenen Angaben wütend und verzweifelt zugleich. "Wenn die Ordnungshüter für unsere Sicherheit sorgen sollen, warum habe ich dann Angst um meinen Bruder? Nicht nur er, sondern unsere gesamte Familie wurde in Haft genommen. Wir reden über nichts anderes mehr."

Auf die Fälle von Verschwindenlassen haben der Schriftsteller Javier Sicilia und seine 'Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit mit Würde' aufmerksam gemacht. Sicilia ist ein erklärter Gegner der staatlichen Anti-Drogen-Politik, die seit Amtsantritt des konservativen Staatspräsidenten Felipe Calderón im Dezember 2006 rund 40.000 Menschen das Leben kostete.

Verlässliche Angaben über die Zahl der Verschwundenen liegen nicht vor. Der staatlichen aber autonomen Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) wurden 5.397 Fälle angezeigt. Dann gibt es da noch die Leichen von 9.000 Menschen, die nicht identifiziert werden konnten. Nichtregierungsorganisationen gehen von insgesamt 18.000 Verschwundenen aus.

In vielen Fällen werden die Opfer in aller Öffentlichkeit abgeführt. Bewaffnete und vermummte Männer holen sich ihre Zielpersonen von der Straße oder aus deren Häusern. Auch Angehörige der Polizei, Armee oder Marine wurden dabei beobachtet, wie sie Menschen festnahmen, die dann als vermisst gemeldet wurden.


Datenbank mit Informationen der Opfer gefordert

Die UN-Arbeitsgruppe über erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden gab die Zahl der Opfer in einem Bericht vom 31. März mit 3.000 an. Sie forderte die Calderón-Regierung auf, eine Datenbank mit den Informationen der verschleppten Menschen anzulegen, um die Suche nach den Vermissten zu erleichtern.

Wie Nichtregierungsorganisationen in einem Bericht für die Arbeitsgruppe unterstrichen, handelt es sich bei den Entführungsopfern anders als zuvor nicht um soziale oder politische Aktivisten, sondern um Menschen, die der Staat zu Recht oder Unrecht mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringt oder die bei bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Armee und kriminellen Banden zwischen die Fronten gerieten.

Die Suche nach ihren vermissten Angehörigen ist für die Familien frustrierend und aufwendig. Julia Alonso legte mehrmals die 1.300 Kilometer lange Strecke zwischen der südlichen Hafenstadt Acapulco und Monterrey zurück, um dort nach Spuren ihres seit Januar 2008 vermissten Sohnes Julio Alberto López zu suchen. Der Junge war im Januar 2008 mit Gleichaltrigen nach dem Besuch eines Freizeitzentrums spurlos verschwunden.

Die Regierung räumt zwar ein, dass der militärisch geführte Kampf gegen die Drogenmafia auch unschuldigen Menschen das Leben kostet. Sie gibt den Anteil dieser 'Kollateralschäden' mit höchstens einem Prozent an, den in- und ausländische Organisationen für viel zu niedrig halten. Auch weisen Studien darauf hin, dass hinter den Entführungen und Morden nicht immer nur die Drogenkartelle stehen.

Die Suche nach den Verschwundenen verläuft meist erfolglos. In Mexiko gibt es keine Protokolle, die Angaben über verschwundene Personen enthalten. Jeder mexikanische Bundesstaat kocht im Umgang mit Vermisstenanzeigen sein eigenes Süppchen. Da Fingerdrücke, DNA und Röntgenbilder von Gebissen nicht abgeglichen werden, landen die Leichen in der Regel in namenlosen Gemeinschaftsgräbern.


Exhumierung mit dem Bagger

Internationale Organisationen fordern Mexiko seit langem zu labortechnischen Untersuchungen und einem würdevollen, respektvollen und behutsamen Umgang mit den Toten auf. Doch im nordwestlichen Bundesstaat Durango wurden bei der Exhumierung von 200 Leichen in den letzten drei Monaten Baggerschaufeln verwendet.

Am 7. Juli legten Javier Sicilia und der Ombudsmann Emilio Álvarez der Justiz in Mexiko-Stadt 13 Ordner mit Informationen über Verschwundene vor. Im Anschluss der mehrstündigen Sitzung forderte Álvarez die versammelten Opferangehörigen auf, mit dem Druck auf die Behörden fortzufahren. Zugleich versicherte er: "Wir werden nicht zulassen, dass man uns noch mehr Leid antut."

Seine Worte machten vielen der Anwesenden Mut. "Ich werde solange weitermachen, bis ich eine befriedigende Antwort bekomme", versicherte Julia Alonso. "Wenn die Opferbewegung erreicht, dass nicht noch mehr junge Leute sterben müssen, dann bin ich auf jeden Fall dabei." (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://redporlapazyjusticia.org/
http://www.cndh.org.mx/lacndh/lacndh.htm
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=98674

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2011