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STANDPUNKT/103: Ich dürste nach Verurteilung (Ingolf Bossenz)


Ich dürste nach Verurteilung

Alle Jahre wieder: Im Licht des Advents erstrahlt der Niedergang des westlichen Christentums.

Von Ingolf Bossenz


Ein Freund schrieb mir aus dem Hotel "Atlantis The Palm" in Dubai: »Gestern« habe man dort eine »vorgezogene Halloween-Party« veranstaltet. »Gestern«, das war der 26. Oktober, mithin fünf Tage vor Halloween. Die Hotels des Luxus-Emirats, so die Botschaft, hätten sich »abgesprochen, um sich nicht gegenseitig die Gäste wegzunehmen«.

Einem, der auszieht, das Gruseln zu lernen, bietet die »Globalisierung« beste Bedingungen. Was einst, dem Titel eines DEFA-Films von 1957 folgend, für Zwergenland galt, trifft inzwischen auf Halloween zu: Es ist überall. Gegen die Halloweenisierung dieser Welt gibt es keine Firewall. Freiheit, Gleichheit, Unerbittlichkeit. Doch wie ist es möglich, dass ein islamisch geprägter Ort wie Dubai dieses aus heidnisch-katholischem Kontext erstandene Brauchtum offenbar problemlos assimiliert?

Es ist der globale Gleichmacher Kapitalismus, der rast- und ruhelose Planierer und Nivellierer, der Güter wie Götter abklopft, ausmisst, hin und her wendet, verwendet oder verwirft. Entscheidend für den Ausleseprozess der physischen wie metaphysischen Gebilde: ob sie in einen geldwerten und profitheckenden Aggregatzustand gezwungen werden können.

Der deutsche Advent ist eine exzellente Gelegenheit, diesen Prozess der Pekuniarisierung einer einstmals den Erdkreis umgreifenden Glaubenslehre zu beobachten. Um Zugriff auf die Zeit, die sich über Jahrhunderte mit der beseligenden Erwartung des Erlösers verband, wird erbittert vor Verwaltungsgerichten gestritten. Verkaufsoffenheit, Kaufkraft und Herrlichkeit - in Ewigkeit. Amen. Was einmal die größte Hoffnung der Christenheit assoziierte, ist alle Jahre wieder die letzte Hoffnung des Einzelhandels. Glänzende Kugeln, glänzende Augen, glänzende Umsätze. Wer jetzt nicht handelt, den bestraft die Jahresendbilanz. Einst warf Jesus die Händler aus dem Tempel, heute füllt sein bevorstehender Geburtstag die Tempel der Händler. Des Apostels Paulus Wort »Jetzt ist die Zeit der Gnade« wird konterkariert vom gnadenlosen Geschäft in der Zeit bis Adventus Domini, der Ankunft des Herrn.

Aus Belgien erreicht uns die Nachricht, dass dort immer mehr Weihnachtsmärkte zu »Wintermärkten« umbenannt werden, so in Brüssel, Antwerpen, Gent, Hasselt und sogar in dem für seinen romantischen Adventsbudenzauber berühmten Brügge. Wie der Sender »Nieuws VTM« mitteilte, begründen die Organisatoren dies mit der Rücksichtnahme gegenüber Andersgläubigen, die man nicht brüskieren wolle. Eine solche Entwicklung, die auch hierzulande alladventlich mit Meldungen, Mutmaßungen und Dementis zu medialer Präsenz gebracht wird, ist indes durchaus konsequent. Wenn Andersgläubige, mit denen in der Regel weder Buddhisten noch Hindus oder Animisten gemeint sind, dabei die Zielgruppe sind, mag ideologisch generierte Beflissenheit diesen begrifflichen Verdehnungen beihelfen. Vor allem aber geht es um die Ausweitung der Konsumzone. Der christlichen Staffage entkleidete Weihnachtsfolklore soll für eine in Deutschland und Europa stetig wachsende potenzielle Käuferschicht die - falls vorhanden - Hemmschwelle beseitigen. »Heilige Krieger« wider den westlichen Hedonismus dürften sich von den semantischen Volten ebenso wenig beeindrucken lassen wie von den seit dem Terroranschlag vor zwei Jahren in Berlin um Weihnachts-, Winter- und sonstige Märkte platzierten Betonplacebos.

Papst Benedikt XVI., exemplarisch als prominenter Kulturkritiker, sah den »authentischen Geist« des Advents durch kommerzielle »Verunreinigung« bedroht. Schon hundert Jahre zuvor hatte der Soziologe Werner Sombart (1863-1941) das profitwütige Metastasieren des Kapitalismus von einer »Schlammflut des Kommerzialismus« begleitet gesehen. Zunehmende Waren- und abnehmende Glaubensmasse machen es schwer, eine Zeit der Besinnung und Besinnlichkeit zu evozieren und den Zauber der Erwartung unter merkantilem Geröll freizulegen. Andererseits war der Geist der Weihnacht - ungeachtet rührseliger Rückblicke - nie der Heilige Geist, sondern immer der Zeitgeist. Und um diesen wallen statt der betörenden Nebel des Numinosen die kontaminierten Dämpfe des Diesseitigen. »Aus dem Menschen, dem das Fest ein Wohlgefallen sein sollte, wurde der 'Endverbraucher', der in den Mechanismus der Absatzorganisationen geriet und von ihm erst wieder freigegeben wurde, als alles vorbei war.« So klagte der Schriftsteller Friedrich Sieburg (1893-1964) Anfang Januar 1953 in der »Zeit« - »vorsorglich erst nach dem Fest«, wie Sieburg schrieb, denn es gehöre »schon ein wenig Mut dazu, gegen den Absatzterror zu protestieren«. Nun, auch das gehört längst zum zeitgeistigen Ritual.

Der seit Jahrzehnten von den Kirchen gepflegte Unmut über die zum Ende des Spätsommers in den Kaufhallen verfügbaren kulinarischen Weihnachtsingredienzen oder die pseudotheologisch aufgeladene Debatte um Schokoladenfiguren (St. Nikolaus vs. Santa Claus) sind die eher banalen Symptome eines ernst zu nehmenden Prozesses: Der Verlust von Glauben geht immer auch einher mit der Erosion von Kultur. Die weitgehende Geringschätzung des religiös Überkommenen ist zweifellos Ausdruck eines durch Aufklärung und Wissenschaft geprägten und geförderten säkularen Selbstbewusstseins. Sie schwächt aber zugleich das geistig-kulturelle Wertefundament, auf dem ein nach Stabilität strebendes Gemeinwesen ruht. Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde (*1930) fasste das 1964 in sein berühmtes Diktum: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« Eine Kultur, die ihre eigene Dekonstruktion betreibt, begibt sich zudem einer wesentlichen Voraussetzung für den fruchtbaren Diskurs mit anderen Kulturen: der Selbstachtung. Der konservative österreichische Philosoph Gerd-Klaus Kaltenbrunner (1939-2011) bemerkte einmal, es gebe »keinen Dialog, wenn einer der Teilnehmer sich selbst verachtet und sich in einer Verfassung befindet, die der Dichter Yeats mit den Versen umschrieben hat: 'Komm, richte auf mich dein anklagend Auge. Ich dürste nach Verurteilung ...'«.

Von den christlichen Amtskirchen hierzulande wird die muslimische Einwanderung in die religiös ausgezehrte westliche Gesellschaft vorbehaltlos unterstützt. Dabei greift nicht nur der Wunsch, der eigenen Glaubensschwäche ein aufhelfendes Beispiel bieten zu können, sondern ebenso die Hoffnung, durch Annäherung sei ein Wandel der für aufgeklärte Gesellschaften problemati-chen Seiten des Islam möglich - mithin auch durch Kommerz, Konsum und andere hilfreiche Gottheiten des Kapitalismus. Schließlich hat in Europa die Transformation der Religion vom identitätsstiftenden Bekenntnis zur kulturellen Metapher und dekorativen Folklore Tradition. Allerdings bislang nur beim Christentum.

Zwar gelang es den Kirchen in Deutschland im Gefolge der Migrationsdebatte, sich wieder enger an den Staat zu schmiegen. Von einer religiös-spirituellen Renaissance kann indes keine Rede sein. »Werte liefern, das können auch andere«, schrieb kürzlich der evangelische Theologieprofessor Peter Scherle (Herborn) in der »Frankfurter Allgemeinen«. Und: »Aus Christen wurden Konsumenten und User gemacht.« Scherle fordert »neue theologische Antworten«, eine »neue Art von Mystik«, um das Fortbestehen der Volkskirchen zu sichern. Ein reichlich hilfloser Appell, während im Abendland der Christenglaube nicht nur in Auflösung begriffen ist, sondern zudem auf eine immer wirkmächtiger werdende Religion trifft. Für ihren forsch verkündeten »interreligiösen Dialog« bräuchten die Kirchen ein Selbstbewusstsein, das sie längst aufgegeben haben. Vielleicht kommt es aber auch ganz anders und die auf dem numinosen Markt verbliebenen Konkurrenten werden sich absprechen - wie die Hotels in Dubai -, um sich nicht gegenseitig die letzten Gläubigen wegzunehmen.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Dezember 2018
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 1./2. Dezember 2018
www.neues-deutschland.de/artikel/1107009.christentum-ich-duerste-nach-verurteilung.htm


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2018

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