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STANDPUNKT/061: Chaos und Charisma (Ingolf Bossenz)


Chaos und Charisma

Ein Jesuit eröffnet ein Heiliges Jahr - die doppelte Premiere des Franziskus.

Von Ingolf Bossenz, Dezember 2015


»Mit größerer Sicherheit des Erfolgs hatte selbst der römische Senat nicht Pläne zur Welteroberung entworfen. Mit größerem Verstand war an die Ausführung einer größeren Idee nicht gedacht worden. Ewig wird diese Gesellschaft ein Muster aller Gesellschaften sein, die eine organische Sehnsucht nach unendlicher Verbreitung und ewiger Dauer fühlen ...«
Novalis (1772-1801) über die Gesellschaft Jesu

Bonifatius VIII. tat es als Erster; Martin V. und Clemens VII. taten es; ebenso Innozenz X., Leo XIII. und viele andere Päpste; Pius XI. und Johannes Paul II. taten es gleich zweimal. Und am kommenden Dienstag tut es erstmals Franziskus: ein Heiliges Jahr eröffnen. Seit 1300 bilden diese »anni sancti« gleichsam die pontifikalen Perlen an der sakralen Zeitschnur, die sich durch die Geschichte der römisch-katholischen Kirche zieht.

Für Kirche und Gläubige sind die Events in der Ewigen Stadt bis heute gleichermaßen eine lukrative Sache: Während die Pilger die Kassen der Kurie auffüllen, streicht der Stellvertreter Christi das Sündenregister der Bußwilligen zusammen - bis hin zum vollständigen Ablass. Weshalb man auch von der ursprünglichen Idee, alle 100 Jahre derlei zu veranstalten, schnell Abstand nahm. Der 25-jährige Rhythmus spielte sich ein, wobei immer wieder das eine oder andere außerordentliche »annus sanctus« eingeschoben wurde. Anlässe und Begründungen fanden sich stets. Franziskus wählte dafür den 50. Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) - womit selbst dieser Reformakt zum Abfeiern massenpsychologischen Mummenschanzes herhalten muss.

Auch in der Causa Heiliges Jahr greifen die weisen Worte des Polonius aus Shakespeares »Hamlet«: »Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.« So gelang es, die Feier des Jubeljahres 1575 zu einem veritablen Fest der katholischen Gegenreformation zu machen. Im darauffolgenden Heiligen Jahr 1600 fand gar eine Reihe prominenter Protestanten zum katholischen Glauben zurück, unter ihnen Stephane Calvin, ein Verwandter des berühmt-berüchtigten Genfer Reformators.

Man kann davon ausgehen, dass an solchen Konversions-Erfolgen die seit 1534 bestehende Gesellschaft Jesu (Societas Jesu, SJ) einen nicht unbeträchtlichen Anteil hatte. Waren doch die Männer um den spanischen Ordensgründer Ignatius von Loyola vom Ehrgeiz besessen, den von der Reformation ramponierten Leib Christi, als der sich die Romkirche versteht, wieder in Glanz und Gloria erstrahlen zu lassen. Die »Kampfgruppe Jesu Christi«, wie der 1622 heiliggesprochene Ignatius seine katholische Kreation nannte, folgte denn auch strikt ihrem Leitspruch »Omnia ad maiorem Dei gloriam - Alles zur größeren Ehre Gottes«. Und was Gott »zur größeren Ehre« gereichte, das wusste niemand besser als der Papst. Deshalb erging die apodiktische Forderung des Ignatius, »auf der Stelle auszuführen, was immer der jetzige und alle kommenden römischen Päpste für die Förderung der Seelen und für die Verbreitung des Glaubens befehlen, wohin immer sie uns senden wollen«. Die üblichen drei Ordensgelübde der Armut, der ehelosen Keuschheit und des Gehorsams sind bei der Gesellschaft Jesu um ein viertes erweitert: das Gelübde des Gehorsams gegenüber dem Papst.

Damit war zugleich ein Punkt definitiv klargestellt: Ein Jesuit ist immerdar Diener seines Herrn im Himmel und dessen Stellvertreter auf Erden. Das Amt des Letzteren zu erstreben kann demnach nur eitlem Hochmut geschuldet sein und ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Doch genau das ist seit dem 13. März 2013 Realität. An diesem Tag fand etwas statt, »was man in gewisser Weise tatsächlich als wirkliche Revolution bezeichnen kann«. Diese Revolution besteht darin, dass zum ersten Mal »die eigenartige, einzigartige und an sich unmögliche Konstellation einer >Personalunion von Papst und Jesuit< Wirklichkeit geworden ist«. Zu diesem Urteil kommt der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek in seiner brillanten, im Meer der Franziskus-Literatur singulären kritischen Biografie des offiziell 266. Bischofs von Rom.

»Niemals«, so Mynarek, »ist ein Jesuit Papst geworden! Es galt als ungeschriebenes, aber heiliges, unantastbares und geradezu selbstverständliches Gesetz, dass er dies auch nie werden sollte und werden durfte. Die höchste Verpflichtung, die sich dieser Orden auferlegt hatte und die ihn über alle anderen Orden der Kirche erhob, war das Gelübde des Dienens, und zwar nicht eines gewöhnlichen und allgemeinen Dienens, sondern des speziellen, absoluten Dienstes gegenüber dem Papst.«

Mynarek stellt die »Personalunion von Papst und Jesuit«, die andere Autoren eher marginal behandeln, ins Zentrum seiner Darstellung von Leben, Werk und Wirken des Italo-Italieners, der am 17. Dezember sein 79. Jahr vollendet. Damit liefert der Theologe und Ex-Priester eine Folie, die Handlungen und Habitus, Devotionen und Demonstrationen dieses begnadeten Selbstdarstellers in einer Weise sicht-, deut- und erklärbar macht, die frei ist von verklärender und verfälschender Pathetik, der selbst seriöse Medien im Angesicht des Numinosen verfallen können.

Orden wuchsen in der Regel stets dann aus den Wassern des Glaubens empor, wenn diese immer seichter wurden.

Die zahlreichen katholischen Orden wuchsen in der Regel stets dann aus den Wassern des Glaubens empor, wenn diese drohten, immer seichter zu werden. Das Zeitalter der Reformation, das die Fundamente Roms in einer Weise untergrub, die in der Geschichte Ihresgleichen suchte, schrie förmlich nach einem neuen, einem helfenden und rettenden Bund. Ignatius von Loyola, vom Sünder und Lebemann zum Büßer und Bekenner Christi bekehrt, war zweifellos ein Glücksfall für die von Luther, Calvin et al. schwer angeschlagene Una Sancta. Sein perfekt ausgeklügeltes System von Exerzitien und Regeln verband der baskische Grande mit der Forderung an die Ordensmitglieder, nicht hinter Klostermauern zur eigenen geistlichen Erbauung einem kontemplativen und weltabgewandten Dasein zu frönen, sondern das Wort Gottes und den Willen der Kirche - also des Papstes - in alle Winkel der Erde zu tragen.

René Fülöp-Miller, Autor des 1929 erschienenen Best- und Longsellers »Macht und Geheimnis der Jesuiten «, verglich Ignatius immerhin mit Lenin: »Nur die Lehre Lenins hat in ähnlicher Weise wie jene Loyolas die gesamte Menschheit in Europa, Asien, Afrika und Amerika, die intellektuellen Kreise nicht minder als die untersten Schichten der Gesellschaft, zutiefst aufgewühlt und so große Scharen bedingungslos ergebener Anhänger und unerbittlicher Feinde hervorgerufen.«

Ob verehrt oder verachtet, geschmäht oder bewundert - die Faszination, die von der Schöpfung des Ignatius ausgeht, ist bis heute ungebrochen. Sogar SS-Chef Heinrich Himmler, der den Katholizismus hasste und in dessen Konzentrationslagern mehr Jesuiten als Angehörige anderer Orden litten und starben, ließ sich von den rigorosen Disziplin- und Gehorsamsdiktaten dieser Diener Gottes bei der Schaffung seiner Totenkopf-Garde inspirieren.

Der SJ-Orden betreibt in Rom die Päpstliche Universität Gregoriana sowie weltweit ein Netz renommierter Bildungsanstalten, von denen etliche allerdings in die Missbrauchsskandale der vergangenen Jahre und Jahrzehnte verwickelt waren. Der Besuch dieser Einrichtungen gilt als wichtiger Einstieg in den Aufstieg zur politischen Elite. Das belegen Absolventen wie Bill Clinton, Madeleine Albright, José Barroso, Kurt Biedenkopf, Oskar Lafontaine oder Heiner Geißler. Mit anderen Worten: Der subtile, sanfte, nichtsdestotrotz stetige Einfluss des Jesuitischen auf das Politische ist nicht zu leugnen.

Mit dem Machtantritt eines Jesuiten im Zentrum der katholischen Kirche ist indes eine ebenso wenig zu leugnende neue Qualität der Präsenz dieses Ordens eingetreten. Denn mit einem Jesuiten als Papst an der Spitze wird das Jesuitische erstmals in der Geschichte der römischen Kirche zum bestimmenden Stil der geistig-geistlichen und dogmatischen Führung der rund 1,2 Milliarden Katholiken. Dies zeigt sich vor allem bei seinen öffentlichen Auftritten, bei seinem Umgang mit den Gläubigen, bei der Inszenierung seines Pontifikats: die perfekte Anpassung an Erwartungen und Hoffnungen des Publikums, an Ereignisse und Situationen, die Selbstdisziplinierung eines Mannes, der sich, wie Mynarek schreibt, in Geduld üben musste, bevor er bereit war »zur Übergabe seines Willens und seiner Vernunft an andere«.

Der Biograf erinnert daran: »Jesuiten sollten dienen, nicht herrschen, lautete die Devise.« Doch herrscht Franziskus denn tatsächlich? Ein Kleriker, der zwar auf dem Stuhl Petri sitzt, aber von diesem aus weltliche Macht lediglich über den mit rund 44 Hektar Fläche kleinsten Staat der Welt ausübt?

Nimmt man Max Webers Begriff der Charismatischen Herrschaft, rückt man nicht nur dem Phänomen der Päpste allgemein, sondern vor allem der Person Bergoglios näher. Nicht soziale Interessen und soziale Abkunft, so Weber, kennzeichnen die Bindung des Gefolges an den charismatischen Führer. Dieser Herrschaftstyp beruht vor allem auf den persönlichen Qualitäten des Führers, auf dessen Anziehungskraft, seinem Charisma eben. Dass Franziskus über solches Charisma verfügt, dürfte außer Zweifel stehen. Und er setzt es um mittels eines Instrumentariums, das ihm jahrzehntelange jesuitische Praxis in die Hand gab: der sorgfältig gepflegte Kult der Bescheidenheit; die publikumswirksamen Massenauftritte; die glaubwürdigen Inszenierungen christlicher Barmherzigkeit. Aber auch: die mit alttestamentarischer Wucht erfolgende Verdammung und Verurteilung des Bösen - des Teufels ebenso wie einer Wirtschaft, die »tötet«; das kompromisslose Geißeln eines »verbreiteten Individualismus«; die donnernden Drohungen gegen genusssüchtige und geldgeile Kirchenfürsten; der rastlose Ruf nach Reformen.

Doch gerade Letzteres ist sowohl die größte Chance, aber auch die größte Gefahr für Bergoglios charismatische Herrschaft. Charisma allein kann das Chaos in der Kurie nicht bändigen. Denn, so warnte Max Weber, »bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance zu schwinden«. Setzt man das »Wohlergehen für die Beherrschten« den an Franziskus gehefteten Hoffnungen der Gläubigen gleich, von ihm »eine arme Kirche für die Armen« beschert zu bekommen, ist die Gefahr solchen Schwindens durchaus akut.

Zwar wetterte der Kirchenführer in seiner Weihnachtsansprache 2014 über die »existenzielle Schizophrenie« der Kurienmitglieder. »Aber«, wendet Mynarek ein, »er selbst befindet sich in einer viel gravierenderen existenziellen Schizophrenie, weil er den Armen, die er in die immer leerer werdenden Kirchen zu ziehen oder in sie zurückzubringen versucht, eine >arme Kirche für die Armen< versprechen muss, während er doch genau weiß, dass dies nicht möglich ist, weil das Herz der Päpste, Kardinäle und Bischöfe zu sehr am Reichtum und damit am Kapital und auch am kapitalistisch agierenden und fungierenden Staat hängt.«

Doch nicht nur die pseudoreformerische Praxis, auch die geringe theologische Tiefe des Jesuiten-Papstes lässt sich kaum dauerhaft durch frisch-forsches Agieren bemänteln. Biograf Mynarek, bis zu seinem Kirchenaustritt 1972 Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, fällt ein hartes Verdikt: »In seinen Büchern und Schriften legt uns der Papst das naivste, fundamentalistischste, unkritischste, von jeglichem Zweifel unberührteste Gottes-, Jesus-, Marien-, Kirchen- und Teufelsbild vor, das man sich nur denken kann, ja heute eigentlich gar nicht mehr denken darf, weil es eine kindlich-simple Dogmatik ist, die schon der gewöhnliche Menschenverstand, noch mehr jede historischkritische Überlegung gar nicht anders als ablehnen muss. Man wundert sich, dass ein großer deutscher Verlag diese Bücher verlegt hat.«

Man wundert sich indes nicht, dass große deutsche Verlage die äußerst profunden, zugleich extrem kritischen Bücher von Hubertus Mynarek nicht (mehr) verlegen. Aber das ist eine andere Geschichte.


Literatur
  • Hubertus Mynarek: Papst Franziskus.
    Die kritische Biografie.
    Tectum Verlag. 336 S., 19,95 EUR.
  • René Fülöp-Miller:
    Macht und Geheimnis der Jesuiten.
    Fourier Verlag. 656 S., antiquarisch.
  • Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft.
    Grundriss der verstehenden Soziologie.
    Mohr Siebeck Verlag. 948 S., 39 EUR.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Dezember 2015
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 5./6.12.2015
www.neues-deutschland.de/artikel/993556.chaos-und-charisma.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2015

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