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STANDPUNKT/029: Zur Heiligsprechung Johannes XXIII. (Gerhard Feldbauer)


Zur Heiligsprechung Johannes XXIII.

Ein Papst des Friedens und der Verständigung

von Gerhard Feldbauer, 13. Mai 2014



In die Schar der zumeist reaktionären und volksfeindlichen Heiligen wurden schon öfters - um Ausgewogenheit zu demonstrieren - fortschrittliche Katholiken eingereiht, wie der in Auschwitz ermordete Pater Maximilian Kolbe oder die dort ebenfalls umgebrachte deutsche Jüdin Edith Stein. Dass jedoch zwei in ihrer Haltung völlig entgegengesetzte Päpste, der erzreaktionäre Johannes Paul II. und der Friedens- und Verständigungspapst Johannes XXIII. im Doppelpack in den Heiligenstand erhoben wurden, dürfte bisher einmalig sein, darunter auch die regelrecht perfide Heuchelei mit der das erfolgte. Mit dieser Heiligsprechung hat sich Papst Franziskus schließlich selbst des Heiligenscheins, mit dem er sich so gern umgibt, beraubt.


Die reaktionäre Tradition unterbrochen

Mit Angelo Giuseppe Roncali kam am 28. Oktober 1958 der Sohn eines armen Vier-Hektar-Bauern aus der Po-Ebene auf den Stuhl Petri. Er nannte sich als Papst Giovanni Ventitre, Johannes XXIII. Für knapp fünf Jahre wich er als Pontifex von der Faschismus und Reaktion stützenden Traditionslinie der Kurie ab.

Zur Charakteristik soll ein Aspekt seiner Haltung zum Faschismus in Deutschland und Italien vorangestellt werden. Roncali, in dieser Zeit Erzbischof und Nuntius in Istanbul, machte Pius XII. auf "die Gräuel in Auschwitz" aufmerksam. In Istanbul unterhielt er Kontakte zu dem Emissär der Jewish Agency, Haim Barlas, von dem er umfangreiche Informationen über die in Auschwitz begangenen Verbrechen erhielt. Sie stammten von zwei Juden, die im April 1944 aus Auschwitz fliehen konnten, und wurden später als "Protokolle von Auschwitz" bekannt. Aus ihnen ging klar der Zweck der Lager in Auschwitz hervor - die massenhafte Vernichtung der Juden. Roncali schickte unverzüglich eine Zusammenfassung des Berichts per Telegramm nach Rom. Es ist in einem Briefwechsel enthalten, den der Nuntius mit Barlas führte, der in dessen privatem Nachlass in Israel gefunden wurde. Unter der Überschrift "Ein ignoriertes Telegramm" berichtete die spanische Geschichtszeitschrift "Historia y Vida" darüber und hielt fest, dass die bis heute verbreitete Version des Vatikans, er habe "erst im Oktober 1944" über genauere Details über Auschwitz verfügt, eine Lüge ist.(1) Mit der lakonischen Begründung, die in den vatikanischen Archiven gelagerte Korrespondenz Roncalis sei (man beachte, nach über einem halben Jahrhundert) noch nicht "deklassifiziert" worden, hat es der Vatikan abgelehnt, zu seinem damaligen Verschweigen der Information Stellung zu nehmen.(2) Zu Giovanni Ventitre aber hält Hans Kühner fest, dass er in Israel "als Retter von wohl hunderttausend Juden während der Hitlerdiktatur unvergesslich geblieben ist". Dafür wird seiner in Jerusalem auf der Gedenkmauer Yad Vashem gedacht. Es ist eine Ehrung, die Pius XII., obwohl es ein öffentlich bekanntes Anliegen des Vatikans ist, verwehrt wird.

Es genügt, daran zu erinnern, dass unter Pius XII. der Vatikan nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für Tausende und Abertausende Faschisten über die im Geheimdienstjargon "Rattenlinie" genannte Route nach Südamerika die Flucht organisierte oder sich aktiv daran beteiligte. Allein etwa 50.000 Deutsche und Kroaten konnten nach Argentinien entkommen (Uki Goni). Dazu gehörten neben international gesuchten Kriegsverbrechern wie dem NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann u. a. auch Adolf Eichmann, der KZ-Arzt von Auschwitz, Josef Mengele, der Kommandant der Vernichtungslager von Sobibor und Treblinka, Franz Sprangl und der des Ghettos in Przemysl, Josef Schwammberger, der Führer der Ustascha-Faschisten und Chef des unter der Okkupation Hitlerdeutschlands proklamierten "Unabhängigen Staates Kroatien", Ante Pavelic mit fast seinem gesamten Kabinett. Wie der argentinische Historiker Uki Goni recherchierte, waren wenigstens 300 der ausgeschleusten Faschisten in Europa bereits als Kriegsverbrecher abgeurteilt oder angeklagt.(3)

Frische Luft hereinlassen

Johannes XXIII wollte "die längst überfällige Öffnung der Kirche gegenüber der Welt" einleiten.(4) Sein Ziel war, sie auf realistischen Grundlagen neuen Entwicklungsbedingungen anzupassen, sie damit weniger anfällig zu machen und so zu stärken. Keinesfalls ging es ihm darum, ihren weltweiten Einfluss abzubauen.(5) Seine herausragende Leistung war die Einberufung des II. Vatikanischen Konzils. Gegen den Widerstand der konservativen Kreise des Klerus, darunter der einflussreiche New Yorker Kardinal Spellmann, eröffnete er diese Versammlung der Erzbischöfe, Bischöfe und Ordensoberen aus aller Welt im Oktober 1962. Da das erste vatikanische Konzil 1870 das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit in allen Angelegenheiten des Glaubens und der Sitte dekretiert hatte, stand die Frage, welchem Ziel das einberufene Konzil dienen sollte. Es ist überliefert, dass Giovanni, als er in seinem Arbeitszimmer danach gefragt wurde, zum Fenster ging, es öffnete und sagte: "Wir erwarten vom Konzil, dass es frische Luft hereinlässt."(6)


Das Dekret "Über die Religionsfreiheit"

Von herausragender Bedeutung waren besonders die Beschlüsse des Vatikanums zur Durchsetzung von Toleranz unter den Religionen, die in dem Dekret "Über die Religionsfreiheit" ihren Niederschlag fanden. Dazu gehörte vor allem die Absage an den Antijudaismus, in der es hieß, die Kirche beklage "alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemanden gegen die Juden gerichtet haben". Diese Erklärung führte dann nach dem Machtantritt Benedikt XVI. mit seiner Rücknahme des gegen die Piusbischöfe verhängten Kirchenbanns zu einem Wiederausbruch der Auseinandersetzung über die Konzilsbeschlüsse.

Der 1991 verstorbene französische Erzbischof Marcel Lefebvre, der spätere Begründer der Piusbruderschaft, nannte die Beschlüsse des Konzils eine Folge des satanischen Einflusses auf die Kirche und verweigerte seine Unterschrift unter das Toleranzdekret. Er verwarf auch die beschlossene Erklärung "gaudium et spes" (Freude und Hoffnung). Diese "Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute" sollte ein neues Verhältnis zu den Gläubigen, des Eingehens auf ihre Bedürfnisse und ihre Entfaltungswünsche einleiten.(7) Ebenso lehnte Lefebvre das Dekret über den Ökumenismus "Unitatis redintegratio", die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen "Nostra aetate" und die Lehre über das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen ab.


"mater et magistra": "Christentum und sozialer Fortschritt"

1959 - ein Jahr bevor in Afrika 17 Staaten die nationale Unabhängigkeit errangen und damit der völlige Zerfall des alten Kolonialsystems einsetzte, sprach Johannes XXIII. sich für die Anpassung der katholischen Kirche an den Entkolonisierungsprozess aus und sicherte dem autochthonen Klerus der dritten Welt volle Gleichberechtigung zu. In der 1961 erlassenen "mater et magistra" (Mutter und Lehrmeisterin),(8) erörterte er Fragen von "Christentum und sozialen Fortschritt" und wollte eine vorsichtige Reform einiger überholter Leitsätze der katholischen Soziallehre einleiten, welche die "unerbittliche Hütung des Privateigentums"(9) postuliert hatte. Er trat natürlich nicht für dessen Beseitigung ein, setzte aber einige neue Akzente. Seine Enzyklika ging auf die Ärmsten in den Industrienationen ebenso wie auf die noch Ärmeren in den Entwicklungsländern und in den noch bestehenden Kolonien ein. Er erwähnte ihren Bedarf an Grundgütern, aber auch ihre Menschenwürde und forderte soziale Gerechtigkeit, die er als Teilnahme aller Menschen am Wohlstand definierte. Giovanni Ventitre sprach vom Recht auf Privateigentum im Zusammenhang mit dem Recht auf Mitbestimmung am Arbeitsplatz und den Problemen der "Vergesellschaftung". Er gebrauchte den Begriff der "Sozialisation" und nannte ihn "Ausdruck eines sozusagen unwiderstehlichen Strebens der menschlichen Natur; des Strebens, sich mit anderen zusammenzutun, wenn es darum geht, Güter zu erlangen, die von den einzelnen begehrt werden, jedoch die Möglichkeiten und Mittel des einzelnen überschreiten". Das waren natürlich lediglich reformistische Gedanken, die aber die meisten sozialdemokratischen Parteien zu dieser Zeit aufgegeben hatten. Giovanni Ventitre unterschied sich in dieser Haltung von der antikommunistischen Kreuzzugsideologie und -praxis seiner Vorgänger.


Toleranz gegenüber Kommunisten und Sozialisten

In "mater et magistra", wandte er sich auch Problemen zu, die später als Nord-Süd-Konflikt zusammengefasst wurden. Die mit Reichtum und Überfluss gesättigten Staaten mahnte er, jene Völker nicht zu vergessen, die "vor Elend und Hunger fast zugrunde gehen". Es war eine Kritik am imperialistischen System, wie sie kein Papst vor und bis heute nach ihm übte. In Italien widmete er sich der Arbeiterfürsorge, suchte den Ausgleich mit den Sozialisten und scheute auch nicht vor Kontakten mit den Kommunisten zurück. Giacomo Manzù, einem der großen Bildhauer der Welt, von dem öffentlich bekannt war, dass er als Katholik mit den Kommunisten sympathisierte, beauftragte er, ein amtliches Porträt in Büstenform von sich zu schaffen. Manzú nahm später Johannes auch die Totenmaske ab.

Chruschtschow übermittelte ihm zu seinem 80. Geburtstag im November 1961 persönliche Grüße "mit dem aufrichtigen Wunsch für gute Gesundheit und Erfolg bei dem edlen Bemühen zur Stärkung und Festigung des Friedens in der Welt durch Lösung der internationalen Probleme durch freimütige Verhandlungen". Der Papst hörte nicht auf die Ratschläge, sie unbeantwortet zu lassen. Er sandte dem sowjetischen Führer seinen aufrichtigen Dank, dem er hinzufügte, "ich werde für das Volk Russlands beten."


Friedensappell während der Kubakrise

Im Oktober 1962 nahm er zur Kubakrise, welche die Gefahr des Ausbruchs eines atomaren Weltkrieges in sich barg, Stellung. Nach Rücksprachen mit Chruschtschow und Kennedy sandte er am 25. Oktober einen Friedensappell in die Welt.(10) Vom Tauwetter in den Beziehungen zwischen dem Vatikan unter Johannes XXIII. zeugte, dass die Bischöfe der sozialistischen Staaten am Konzil teilnahmen. Am 7. März 1993 gewährte der Papst die erste Audienz für einen prominenten Kommunisten, dem Chefredakteur der sowjetischen Regierungszeitung "Iswestija" und Schwiegersohn Chrutschschows, Alexej Adschubei, den er zusammen mit seiner Frau, der Tochter des KPdSU-Generalsekretärs, empfing. Hier soll nicht verschwiegen werden, dass sich auch die Ostpolitik Johannes XXIII. einfügte in die Strategie der Aufweichung der sozialistischen Staaten. Aber es war zweifellos eine Linie, die sich von der von einem Karol Wojtyla eingeschlagenen und von Joseph Ratzinger unterstützten, unterschied.


"pacem in terris", Frieden auf Erden

In seinem Todesjahr erschien seine dritte Enzyklika, "pacem in terris" (Frieden auf Erden), in der er für ein Verbot der Atomwaffen und für das Ende des Wettrüstens eintrat, die Rassendiskriminierung verurteilte, sich für den Schutz von Minderheiten und die Rechte politischer Flüchtlinge einsetzte. Johannes XXIII. konnte das Konzil nicht zu Ende führen. Er starb während der Versammlung am 3. Juni 1963. Seine Nachfolger Paul VI., nach ihm der polnische Papst Wojtyla und dann Benedikt XVI. sorgten dafür, dass die von ihm ins Auge gefassten sehr gemäßigten Reformen, wo sie nicht rückgängig gemacht wurden, stagnierten. Einen Schwerpunkt der reaktionären Offensive, die Benedikt XVI. während seines Pontifikats führte, bildete die Aufhebung von Konzilsbeschlüssen. Vor allem im Lichte seiner Nachfolger Wojtyla und Ratzingers wird ersichtlich, dass Giovanni Ventitre während der kurzen Zeit, in der er den Stuhl Petri inne hatte, Spuren des Wirkens für Frieden und Menschlichkeit hinterlassen hat, die von keinem Papst vor und nach ihm bekannt wurden.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2014