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STANDPUNKT/076: Apostolische Antipoden (Ingolf Bossenz)


Apostolische Antipoden

»Es gibt nur einen Papst« - das hat Franziskus jetzt bekräftigt. Aber der Emeritus Benedikt ist im Vatikan weiter präsent und bisweilen päpstlicher als sein Nachfolger

Von Ingolf Bossenz, 9. Juli 2016


Die Farbe Weiß war für Kasimir Malewitsch (1878-1935) »die wahre, wirkliche Idee der Unendlichkeit«. Unter dem von ihm begründeten Suprematismus verstand der russische Maler den Primat der reinen, der absoluten Empfindung vor dem Diktat des Gegenständlichen. Es ist denn auch vor allem das Weiß, das die irritierenden, das Faktische konterkarierenden Empfindungen provoziert: Das Weiß des Gewandes von Benedikt XVI. Der seit dem 28. Februar 2013 »emeritierte Papst« ist bei öffentlichen Auftritten nach wie vor in der weißen Soutane zu sehen, die - wie einst der Purpurmantel dem römischen Imperator - ausschließlich dem Summus Pontifex Ecclesiae Universalis, dem Obersten Priester der Weltkirche, dem Stellvertreter Jesu Christi zusteht.

Doch all das (einschließlich des halben Dutzends weiterer Titel für den Führer der römisch-katholischen Kirche) ist Joseph Aloisius Ratzinger, inzwischen im 90. Lebensjahr angekommener gebürtiger Oberbayer, nicht mehr. Er trage allerdings, so die Einwendung des Demissionierten, »die weiße Kleidung auf eine deutlich andere Art und Weise als der Papst«. Das mag sein. Aber normalen Gläubigen dürften diese feinen Differenzierungen wohl eher verborgen bleiben. »Für sie«, meint der Kirchenhistoriker Hubert Wolf, »bleibt Weiß die Farbe des Papstes, und die tragen derzeit zwei Männer.«

Für weitere Verwirrung in dieser textil-theologischen Farbenlehre sorgte unlängst Kurienerzbischof Georg Gänswein. Benedikts persönlicher Sekretär äußerte an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom anlässlich der Vorstellung eines neuen Buches über das Pontifikat des deutschen Papstes, dieser habe mit seinem Rücktritt das Papsttum weiterentwickelt. Denn »seit der Wahl seines Nachfolgers Franziskus am 13. März 2013 gibt es also keine zwei Päpste, aber de facto ein erweitertes Amt - mit einem aktiven und einem kontemplativen Teilhaber«. Dadurch gebe es nun einen »quasi gemeinsamen Dienst«.

Als Franziskus Ende Juni auf dem Rückflug von Armenien auf die Frage eines Journalisten zu Gänsweins Auslassungen antwortete, geschah das in seiner üblichen aus- und abschweifenden Art. So meinte er mit Blick auf Ratzingers räumliche Nähe im Kloster Mater Ecclesiae auf dem Gebiet des Vatikans, »dass es eine Gnade ist, im Haus einen weisen Großvater zu haben«. Benedikt sei »der Mann, der mir mit seinem Gebet die Schultern und den Rücken deckt«. Franziskus stellte zugleich unmissverständlich klar: »Doch es gibt nur einen Papst, der andere ist emeritiert.«

Dass sich dies für Zuschauer beim spectaculum catholicus bisweilen anders darstellt, wird sich wohl auch künftig nicht vermeiden lassen. Im vergangenen Dezember, als Franziskus zu Beginn des von ihm ausgerufenen Jahres der Barmherzigkeit die Heilige Pforte im Petersdom öffnete, war Benedikt dabei. Der Emeritus passierte die Bronzetür unmittelbar nach dem Papst, vor Kardinälen und Bischöfen. Der jüngste öffentliche Auftritt des gottergebenen Mitbewohners stellte diesen sogar konkurrenzlos in den Mittelpunkt der Veranstaltung. Gemeinsam mit Papst Franziskus, live übertragen vom vatikanischen Fernsehen, umgeben von einer stattlichen Klerikerschar, feierte Joseph Ratzinger am 28. Juni im Prunk der Sala Clementina sein 65-jähriges Priesterjubiläum. Auch die Anrede »Heiligkeit«, mit der der 79-jährige Bergoglio den Amtsvorgänger betitelte, gehört zu den Imponderabilien der postbenediktinischen Spekulationsindustrie.

Ungeachtet aller Mutmaßungen um »zwei konkurrierende Machtzentren« im Vatikan, eine angebliche »Doppelherrschaft« von Papst und Gegen- oder Schattenpapst sowie aller demonstrativen Dementis solcher Argwöhnungen ist eines in den vergangenen dreieinhalb Jahren evident geworden: Ratzinger und sein pontifikaler Nachfolger Jorge Mario Bergoglio sind apostolische Antipoden, deren Diskrepanz durch die veritable Präsenz des Ex-Papstes innerhalb der Leoninischen Mauern sowie seine mündlichen und schriftlichen Kundgaben an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Eine Diskrepanz, die diametral zum Verhältnis steht zwischen Benedikt und seinem Vorgänger Johannes Paul II., dem der deutsche Prälat Jahrzehnte als harter Hüter des rechten Glaubens den Rücken für spektakuläre Reisen und publikumswirksame Auftritte freihielt.

Es dürfte für Ratzinger eine herbe Enttäuschung darstellen, dass die Kirche, der er nach dem polnischen Populär-Papst eine innere theologisch-dogmatische Stabilisierung bereiten wollte, durch Bergoglio in eine schwere institutionelle Krise manövriert wurde. Der argentinische Jesuit, dessen pragmatisches Naturell geradezu geschaffen schien für die Inangriffnahme einer grundstürzenden Kirchenreform, ging dieses Projekt indes wohl allzu forsch und voluntaristisch an, sodass sich die zunächst schwer verunsicherte Kurie angesichts der vielen offenen Baustellen inzwischen in einer komfortablen Unübersichtlichkeit eingerichtet hat. Eine denkbar schlechte Situation für die dringend notwendige geistige, geistliche und spirituelle Erneuerung der Una Sancta.

Von der Mainstreampresse wird Franziskus trotz gelegentlicher Peinlichkeitsausbrüche (»würdevolles« Schlagen von Kindern, Vermehrung von Katholiken »wie Karnickel«) bejubelt. Dank gängiger medialer Mimetik generieren seine Äußerungen über aktuelle Probleme wie Flüchtlingskrise, Umweltzerstörung oder Wirtschaftswahn zu beispielhaften und beispielgebenden Autoritätsargumenten - so, als würde es sich nicht um den faktischen CEO eines international agierenden Glaubenskonzerns handeln, sondern um einen überkonfessionellen spirituellen Weltführer. Ähnlich dem Dalai Lama, dessen Auslassungen, so banal sie auch sein mögen, als Trägersubstanz tiefsten tibetischen Geistes gelten.

Das Kerngeschäft eines Papstes, das sollte bei aller Euphorie über dessen potenzielle Zeitgeist-Kompatibilität nicht vergessen werden, bleibt die Verbreitung und Festigung des christlichen Gottesglaubens, der Botschaft des Evangeliums. Ratzinger hatte sich als Papst dieser Aufgabe mit Wucht und Vehemenz gewidmet. Waren seine Reden, Aufsätze und Bücher auch nicht unbedingt von volkstümlicher Verständlichkeit geprägt, so waren sie doch trotz aller dogmatischen Strenge stets intellektuelle Herausforderungen, die heftige Auseinandersetzungen zwischen Für und Wider, zwischen Begeisterung und Verdammung nicht nur unter Theologen beider christlicher Konfessionen auslösten.

Wie ist es hingegen um die theologische Tiefe des Jesuiten-Papstes bestellt? Der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek fällt in seiner brillanten, im Meer der Franziskus-Literatur singulären kritischen Biografie des aktuellen Bischofs von Rom ein vernichtendes Urteil: »In seinen Büchern und Schriften legt uns der Papst das naivste, fundamentalistischste, unkritischste, von jeglichem Zweifel unberührteste Gottes-, Jesus-, Marien-, Kirchen- und Teufelsbild vor, das man sich nur denken kann, ja heute eigentlich gar nicht mehr denken darf, weil es eine kindlich-simple Dogmatik ist, die schon der gewöhnliche Menschenverstand, noch mehr jede historisch-kritische Überlegung gar nicht anders als ablehnen muss. Man wundert sich, dass ein großer deutscher Verlag diese Bücher verlegt hat.«

Ratzinger war nie ein Lauer, ein Kompromissler. Er war der »Hardliner«, der »Großinquisitor«. Ratzinger polarisierte. Bergoglio relativiert. Kämpfte Ratzinger gegen die »Diktatur des Relativismus«, so kämpft Bergoglio für die Relativierung der Diktatur der Dogmen.

Ratzinger war nie ein Lauer, ein Kompromissler. Er war der »Hardliner«, der »Großinquisitor«. Ratzinger polarisierte. Bergoglio relativiert. Kämpfte Ratzinger gegen die »Diktatur des Relativismus«, so kämpft Bergoglio für die Relativierung der Diktatur der Dogmen. Exemplarisch zeigte sich das in der Debatte zum Umgang mit wiederverheirateten geschiedenen Katholiken. Nachdem Franziskus dabei die Tendenz zu einer behutsamen Konzilianz hatte erkennen lassen, korrigierte Ratzinger in der Neuauflage seiner »Gesammelten Schriften« ausgerechnet jene Passage eines Aufsatzes von 1972, in dem es um den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen geht. Zulassung zur Kommunion, in der Erstfassung eine Option, wird nun strikt verworfen. Zufall oder sanfte Entscheidungshilfe vom zweiten für den ersten »Mann in Weiß«?

Nachdem Franziskus im März dieses Jahres in seinem Schreiben »Amoris laetitia« sogar »mildernde Bedingungen und Umstände« mit Blick auf Scheidung und Neuverehelichung ins Spiel brachte, kam sehr offene und sehr harsche Kritik von dem renommierten konservativ-katholischen Philosophen Robert Spaemann: »Die Folgen sind jetzt schon abzusehen: Verunsicherung und Verwirrung von den Bischofskonferenzen bis zum kleinen Pfarrer im Urwald.« Ein Verdikt, das Ratzinger wohl teilen dürfte, dessen »strikter und treuer Parteigänger« Spaemann stets war, wie mir Franziskus-Biograf Mynarek im Gespräch versicherte.

Als ich im Dezember 2004 als einer der ersten Journalisten eine mögliche Wahl Ratzingers zum Nachfolger des schwer kranken Karol Wojtyla ins Kalkül zog, verwies ich auf die Ansicht des damaligen Kurienkardinals, der »feste Glaube der Muslime an Gott« sei auch »eine positive Herausforderung« für das europäische Christentum. Das Konfrontative im Verhältnis der beiden Großreligionen machte der nunmehrige Papst Benedikt XVI. im Herbst 2006 deutlich, als er vor Wissenschaftlern an der Universität Regensburg eine Vorlesung hielt, in deren Text der byzantinische Kaiser Manuel II. Palaiologos (1350-1425) zitiert wurde: »Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.« Ob die folgenden Tumulte, Proteste und christenfeindlichen Gewaltausbrüche in der islamischen Welt ebenso exzessiv gewesen wären, wenn Benedikt statt des christlichen Monarchen den iranischen Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini (1902-1989) zitiert hätte? Zum Beispiel aus dessen theologischem Traktat mit dem Titel »Der Islam ist keine Religion für Pazifisten«, in dem es heißt: »Der Islam sagt: Töte alle Ungläubigen, ansonsten werden sie dich töten! ... Der Islam sagt: Alles Gute, was ist, existiert dank des Schwertes und des Schattens des Schwertes!« Khomeini, immerhin einer der exzellentesten Deuter islamischer Texte und Traditionen, müsste sich heute vom Papst über den »wahren Islam« belehren lassen. Franziskus gab sich im Apostolischen Schreiben »Evangelii gaudium« überzeugt: »Der wahre Islam und eine angemessene Interpretation des Korans stehen jeder Gewalt entgegen.« Bei Benedikt-Ratzinger, der sich während seines Pontifikats durchaus um ein entspanntes sachlich-koexistentes Verhältnis zur islamischen Welt bemühte, wäre ein solcher Satz undenkbar. Ebenso undenkbar wie die päpstliche Fußwaschung muslimischer Migranten am Gründonnerstag.

Anlässlich des von ihm ausgerufenen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit erklärte Franziskus sinngemäß, dass die Angehörigen verschiedener Religionen Dinge unterschiedlich sehen. Doch gelte für alle, dass sie Gott zwar auf je anderen Wegen suchen, aber im Wesentlichen übereinstimmen, weil sie an die Liebe glauben. Das Bemühen des Bergoglio-Papstes, eine Harmonisierung der Religionen zu erreichen (was ihm im Übrigen seitens des Islam bislang keinerlei akklamatorisches Echo eintrug), erinnert an das von Hans Küng ins Leben gerufene Weltethos-Projekt. Es birgt allerdings eine nicht zu unterschätzende Gefahr: Wenn der Stellvertreter Christi, die oberste Autorität der Romkirche, meint, die Wahrheit sei auch in anderen Religionen zu finden - warum, um Gottes Willen, sollte dann die eigene, die katholische Religion noch verteidigt werden? Will Franziskus das? Was will er überhaupt?

Die Frage bleibt. Egal, ob im Vatikan ein Papst oder zwei Päpste logieren. Oder bald drei? Dem von Franziskus während der Flugzeugpressekonferenz geäußerten Satz »Doch es gibt nur einen Papst, der andere ist emeritiert« folgte nämlich ein weiterer, der in der medialen Berichterstattung merkwürdigerweise keine Beachtung fand: »In der Zukunft wird es vielleicht zwei oder drei geben können, doch sie sind emeritiert.« Zwei oder drei Päpste? Hat Bergoglio bereits seinen eigenen Rücktritt im Blick? Um dann zusammen mit Benedikt im Kloster Mater Ecclesiae dem nächsten Papst die Leviten zu lesen? Es könnte noch spannend werden.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Juli 2016
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 09./10.07.2016
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1018050.apostolische-antipoden.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2016

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