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LATEINAMERIKA/071: Wie sich die Lateinamerikaner ihre Heiligen selbst erfinden (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 6/2011

Beten zu Banditen
Wie sich die Lateinamerikaner ihre Heiligen selbst erfinden

Von Sebastian Grundberger


So genannte "Santos populares", Volksheilige, sind nirgendwo sonst so verbreitet wie in Lateinamerika. Ihre Verehrung reicht vom transnationalen Kult bis hin zu unscheinbaren Altären neben der Straße. Sie versprechen ihre Wunder auch denen, die in Kirche und Gesellschaft abseits stehen, Arme und Kriminelle, Behinderte und Obdachlose. Die katholische Kirche befindet sich gegenüber den Volksheiligen in einem Dilemma.


"Vor Deinem Bild eine Kerze / angezündet zu Deiner Ehre / Dein Bild trage ich stets / wohin auch immer ich gehe / besonders in meinen Geschäften / bin ich mir Deines Segens gewiss". In der hundert Jahre alten Spelunke "Zum alten Frieden" der nordmexikanischen Stadt Chihuahua geht es hoch her, als der Mariachi-Sänger dieses Lied schmettert. Die Stunde ist fortgeschritten und die Augen der fast ausschließlich männlichen Gäste angefeuchtet von Emotion und Tequila. Das Akkordeon dröhnt, die Gläser klappern und die Cowboystiefel blitzen. Wäre der Adressat dieser Ode heute anwesend, er würde sich gewiss wohl fühlen. Wer der Unbekannte ist, weiß jeder Mexikaner sofort: Jesús Malverde. Oder wie seine "Gläubigen" ihn nennen - der "Heilige Jesús Malverde".

Auch draußen, auf der Straße vor dem "alten Frieden" lässt Jesús Malverde sich finden. Von den Tassen, T-Shirts, Geldbörsen, Goldketten oder Schlüsselanhängern, die Carlos verkauft, grüßt sein (schnurr-)bärtiges Gesicht. Mehr Devotionalien als von Jesús Malverde verkauft der fliegende Händler nur von der Jungfrau von Guadalupe und dem Fußballclub "Indios" aus dem nahegelegenen Ciudad Juárez. Und selbst wenn Carlos seine Stadt einmal verlassen möchte, muss er auf den Beistand "seines" Heiligen nicht verzichten. Auf der Autobahn zum Flughafen gibt es eine kleine Kapelle zu Ehren des Jesús Malverde. Hinter der Statue Malverdes mit seiner schwarzen Fliege auf weißem Anzug ist die Wand übersät mit Votivtafeln, auf denen Gläubige ihm für allerlei Wundertaten danken.

Ein ganz normaler Heiliger, angereichert mit viel lateinamerikanischem Pathos, könnte der unwissende Beobachter meinen. Doch nichts ist weiter von der Realität entfernt. Diejenigen, die Jesús Malverde verehren, sind immer wieder Mitglieder der Halbwelt: Banditen, Mafiosi und Drogendealer. Alles Aktivitäten, denen die katholische Kirche nicht viel Positives abgewinnt. Das hält viele gläubige Nordmexikaner jedoch nicht davon ab, diesen "Berufen" nachzugehen. Der heilige Franziskus, der heilige Dominikus oder die heilige Agatha lassen sich aber nur schlecht zu Hilfe ziehen, wenn es darum geht, eine möglichst große Menge weißen Pulvers hinter die Grenze in die USA zu schmuggeln und dafür ein paar Revolver zurückzuschleusen. Deshalb musste ein eigener Heiliger her, einer von ihnen.

Wer genau Jesús Malverde war, weiß dabei niemand so ganz genau. Es gibt mindestens so viele Theorien wie Volkslieder über ihn. Wahrscheinlich wurde er irgendwann in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts im nordostmexikanischen Bundesstaat Sinaloa geboren und "verdiente" sein Geld mit Raubüberfällen. Die Menschen erzählen sich, dass er vor allem reiche und ausbeuterische Großgrundbesitzer bestahl, um seine Beute an Besitzlose zu verteilen - eine Art Robin Hood also. Um den Tod Malverdes ranken sich Legenden. So soll er 1909 bei einem Schusswechsel mit der Polizei durch eine Kugel schwer verwundet worden sein. Als er merkte, dass es mit ihm zu Ende ging, habe Malverde einen Begleiter gebeten, ihn den Behörden auszuliefern. Er solle dabei aber genau darauf achten, das auf Malverde ausgesetzte Kopfgeld zu kassieren, um dies anschließend an die Armen zu verteilen.

Solche Geschichten haben Jesús Malverde-Kapellen in ganz Nordmexiko aus dem Boden sprießen lassen. Sein "Urheiligtum" neben der Bahnstrecke in der Stadt Culiacán ist sogar zweistöckig und mittlerweile die wohl wichtigste Sehenswürdigkeit der sonst unspektakulären 600.000-Einwohner-Metropole. Angeblich sollen sich hier auch die Gebeine Malverdes befinden. In kleinen Kapellen stapeln sich Malverde-Bilder und Statuen. Fischer danken dem "Heiligen" mit in Formaldehyd eingelegten Meeresfrüchten und Eltern "schenken" ihm Fotos ihrer Kinder. Sogar eine Biermarke ist nach dem "Heiligen der Drogendealer" benannt worden.


Der Kult zu Jesús Malverde macht aber nicht an den mexikanischen Landesgrenzen halt. Der "großzügige Bandit" wird auch überall dort verehrt, wo es entweder besonders viele Mexikaner oder Drogendealer gibt. So finden sich Malverde-Kapellen etwa im kalifornischen Los Angeles oder in der kolumbianischen Drogenmetropole Cali. Immer wieder hört man Berichte, nach denen Jesús Malverde erschienen sein soll. Besonders Drogenschmuggler wollen von ihm auf dem Weg über die Grenze in die USA begleitet worden sein.


Wie der Himmel der Halbwelt Beistand leistet

Für die meisten Mexikaner ist der gleichzeitige Glaube an Jesús Malverde und die katholische Kirche kein Widerspruch. Nach dem Sonntagsgottesdienst bekommt auch der weißgewandete Bandit noch seine Kerze. Das sonntägliche Almosen teilt man in Coahuila auf. Die Hälfte für die diözesane Armenspeisung, die andere Hälfte für die Kiste vor dem Bild Malverdes, auf der steht: "Werfen Sie hier ihren Umschlag hinein. Helfen Sie, zu helfen". Gerne stellt man dem "Engel der Armen" auch noch eine billige Whiskyflasche hin. Sicher ist sicher. So bleibt den Priestern nur übrig, die Kirchen von Jesús Malverde-Devotionalien zu säubern und ab und an schwachen Protest anzumelden, wenn der Kult gar zu weit getrieben wird. Anlässlich der Einweihung eines neuen Malverde-Heiligtums stellte der Sprecher der Diözese in Baja California klar: "Für die katholische Kirche hat Jesús Malverde keine Wunder getan, die ihn zu einer Heiligsprechung berechtigen. Es gibt ja noch nicht einmal konkrete Beweise, dass er überhaupt existiert hat."


Eine Art argentinisches Mekka

Ähnliche Probleme hat auch der katholische Priester einige Tausend Kilometer südlich in der Ortschaft Vallecito in der westargentinischen Provinz San Juan. Dort gibt es eine kleine katholische Kapelle, "Nuestra Señora del Carmen". Allerdings hat das Kirchlein keine Chance, gegen das, was nur wenige Meter gegenüber aus dem Boden gewachsen ist: das Heiligtum der "Difunta Correa". Wäre die "Difunta" nicht, würde kaum jemand nach Vallecito kommen, einem trostlosen Flecken an der Schnellstraße "Ruta 141" zwischen San Luis und San Juan mitten in der immertrockenen Pampa. Dank der Difunta ist es jedoch zu einer Art argentinischem Mekka geworden. Jeder Argentinier sollte ihr wenigstens einmal im Leben eine Aufwartung gemacht haben. Jedes Jahr tut dies eine halbe Million Argentinier.


Difunta Correa, die "Verblichene Correa", war eine Frau, die Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Namen "María Antonia Deolinda Correa" gelebt haben soll. Da ihr Mann in den Krieg gegen die Spanier ziehen musste, entschloss sie sich um 1840, ihm gemeinsam mit ihrem Neugeborenen nachzufolgen. Doch schon bald forderte die trockene Pampa ihren Tribut. Die Wasservorräte der Deolinda Correa gingen zur Neige und sie fand auf einem Hügel nahe San Juan den Tod. Einige Tage später, so die Legende, sei sie dann von Gauchos tot aufgefunden worden. Ihr Baby habe jedoch noch immer an ihrer Brust gelegen. Der Muttermilchstrom sei nicht versiegt. Das Kind habe so quicklebendig geborgen werden können.

Wenn der ahnungslose Reisende das Heiligtum der "Verblichenen" betritt, wird er fast erschlagen von all dem, was da um einen großen Erdhügel herum aufgebaut ist. Zentrum des Heiligtums ist das angebliche Grab der Difunta. Eine liegende Statue zeigt, wie die Tote ihr Neugeborenes säugt. Auf die Statue haben die Menschen Blumen und unzählige Zettel mit Gebetsanliegen geworfen. Vereinzelt sind auch Kerzen angezündet. Allerdings schenken die Argentinier ihrer Difunta noch lieber etwas anderes - volle Plastikflaschen mit Trinkwasser. Überall im Heiligtum liegen sie auf riesigen Haufen gestapelt herum. Als ob die Difunta nicht noch einmal in der trockenen Pampa verdursten dürfe. Die "Gläubigen" bauen ihr auch kleine Modellhäuschen. Schließlich fand die Verstorbene ihren Tod ja unter freiem Himmel.


Um die Grabkapelle herum haben sich mit der Zeit weit über ein Dutzend weitere Kapellen gruppiert - gestiftet von wohlhabenden Anhängern der Verstorbenen. Nach und nach ordneten sie sich verschiedenen Mottos zu. So gibt es die "Kapelle der Sicherheitskräfte". In ihr finden sich neben Wasserflaschen vor allem Uniformen und Helme dankbarer Polizisten. Die "Kapelle des Sports" ist außer den Wasserflaschen bis an die Decke mit Pokalen und Mannschaftsfotos der fußballverrückten Argentinier gefüllt. Die Difunta soll schon so manchen Elfmeter versenkt und Torpfosten verbogen haben. Auch als Heiratsvermittlerin wird die Tote gerne bemüht. Offenbar mit Erfolg, wenn man dem glaubt, was sich in der "Kapelle der Brautleute" stapelt. Jedes Brautmodenmuseum wäre glücklich, so viele Hochzeitskleider in allen Größen und Ausfertigungen zu besitzen, wie die Difunta - angereichert durch zahlreiche Wasserflaschen, versteht sich.

Eine besondere Wirkung hat die Difunta jedoch von jeher auf die Fernfahrer, die "Camioneros". So ist die "Kapelle der Camioneros" eine der größten Attraktionen von Vallecito und Argentiniens beliebtester Schauplatz für Autosegnungen. Hier finden sich unzählige Fotos von Fahrzeugen neben Modellautos, ausgebauten Motoren, Felgen und Reifen. Aber auch wenn die Lastwagenfahrer ihre Reifen noch selbst brauchen, donnert auf der "Ruta 141" kaum einer an der Ortschaft vorbei, ohne der Difunta wenigstens eine Wasserflasche zu "opfern". Häufig haben die Camioneros ihrer "Mutter" auch weitab von Vallecito am Straßenrand Altäre gebaut. Eine Wasserflasche dann und wann soll eine sichere Fahrt gewährleisten. Zu der besonderen Beziehung der Difunta zu den Fernfahrern passt es auch, das sich der spanische Nachname Correa mit "Keilriemen" übersetzen lässt. Eine "Difunta Correa" wäre demnach ein "kaputter Keilriemen".


Wie ein Serienmörder heiliggesprochen werden kann

Die katholische Kirche reagiert alles andere als erfreut, wenn die "Difunta Correa" immer wieder als "heimliche Patronin Argentiniens" bezeichnet wird. Trotzdem ist sie vorsichtig, die Gläubigen von Vallecito zu scharf zu kritisieren. Gustavo D'Apice, Theologieprofessor an der mit der römischen "Gregoriana" verbundenen Pontificia Universidad Católica Argentiniens, hebt durchaus moralische Vorzüge der Deolinda Correa hervor. Solche seien die Treue gegenüber ihrem Mann sowie die Liebe zu ihrem Kind. "Leider" fügt er jedoch milde hinzu, gebe es keine gesicherten Daten über ihr Leben und Sterben, um möglicherweise einen Heiligsprechungsprozess einzuleiten. Selbstverständlich dürfe man für die Seele der Difunta wie für die jedes Verstorbenen beten. Allerdings: "Die Ausdrücke des Volksglaubens gegenüber Verstorbenen stören den Glauben der Kirche, wenn man ihnen einen öffentlichen und maßlosen Kult zukommen lässt. Die Verehrung ihnen gegenüber sollte deshalb immer nur privat geschehen."

Von privater Verehrung will das Volk jedoch nichts wissen. Es hat die Difunta längst heiliggesprochen. Und auf verschlungenen Wegen hat sie es sogar in das seriöse Ökumenische Heiligenlexikon in deutscher Sprache geschafft. Die Beschreibung ihrer Biografie endet aber mit dem Hinweis: "Die Verehrung der Difunta Correa beruht auf dem Volksglauben und ist ohne kirchliche Anerkennung".


Auf der anderen Seite der Anden kann Emile Dubois von so viel Berühmtheit nur träumen. Sein Grab in einer Ecke des Friedhofs der chilenischen Hafenstadt Valparaíso ist eher ein Insidertip. Das Bild, welches sich diesem "Insider" bietet, ist eine Grabplatte mit einem schwarzen Holzkreuz. Dahinter eine kleine Kapelle mit unzähligen brennenden Kerzen. Eine aufgeschlagene Bibel und auf ihr ein Kruzifix. Frische Blumen. Votivtafeln, wohin das Auge blickt. "Tausendfach Danke für Gebetserhörung" steht darauf oder "Beschütze meine Tochter Rubi für immer".

Die Existenz des Grabinsassen, der seine letzte Ruhestätte mit bestem Blick auf den pazifischen Ozean gefunden hat, ist im Gegensatz zu Jesus Malverde und der Deolinda Correa zumindest zweifelsfrei erwiesen. Allerdings war er nach offizieller Geschichtsschreibung alles andere als ein Heiliger. Im Jahr 1907 wurde im Gefängnis von Valparaíso ein Mann wegen Mordes an vier Geschäftsleuten durch Erschießen hingerichtet. Emile Dubois, wie sich der mysteriöse französische Einwanderer nannte, beteuerte bis zuletzt seine Unschuld. Bei seiner Erschießung verweigerte der stets mit einem Zylinder bekleidete Dubois kühn, sich die Augen verbinden zu lassen. Stattdessen riet er seinen Henkern, doch "gut auf das Herz zu zielen".

So viel Heldenmut kam an im Volk. Schnell ergriffen die "Porteños", wie sich die Bewohner Valparaísos stolz nennen, Partei für den stets eloquent parlierenden Ganoven mit der angeblich unwiderstehlichen Anziehung auf das weibliche Geschlecht. Man begann sich zu erzählen, "Don Emilio" habe zu Lebzeiten die Reichen bestohlen, um den Armen zu helfen. Jeder Zweifel an der Unschuld "Don Emilios" verschwand, als der chilenische Präsident Pedro Montt, der Dubois die Begnadigung verweigert hatte, kurze Zeit später in Europa an einer rätselhaften Krankheit starb. Don Emilio, so war schnell klar, wirke aus dem Jenseits weiter und bestrafe Ungerechtigkeit.

Seitdem kann nichts und niemand verhindern, dass die Menschen von Valparaíso zu ihrem "Don Emilio" beten. So existiert eigens ein Verein der Emile-Dubois-Gläubigen, der durchaus die Massen zu mobilisieren weiß. Als einmal erwogen wurde, das Grab ihres Idols aufzulösen und Dubois in ein Massengrab für Kriminelle zu verlegen, war der Protest groß. Demonstrationen und Unterschriftenaktionen erreichten schließlich sogar die Umbettung in ein größeres Grab. Bis heute darf sich der verurteilte Mörder von dort aus darum kümmern, dass die Ehe des Sohnes gut verläuft oder dass die Tochter ihren Universitätsabschluss erreicht. Vielleicht kann Emile Dubois so nach seinem Tod einiges von dem wieder gut machen, was er im Leben verbockt hat.


Emile Dubois, Difunta Correa und Jesús Malverde. Dies sind nur drei Exemplare einer Spezies, die nirgendwo sonst so verbreitet ist, wie in Lateinamerika. Bezeichnet werden sie im Spanischen meist als "Santos populares" (Volksheilige) oder "Animitas" (kleine Seelen). Zwischen Rio Grande und Feuerland gibt es unzählige von ihnen. Die Palette reicht vom transnationalen Kult bis hin zu ganz unscheinbaren Altären neben einer Straße, von denen noch nicht einmal bekannt ist, für wen sie eigentlich errichtet wurden.

Abgesehen von den drei Beschriebenen lässt sich die Liste der "Volksheiligen" fast endlos erweitern. Da sind Gaucho Gil (Corrientes, Argentinien), der seinen Henker aufgefordert haben soll, zu ihm zu beten, die synkretistische Totenkopf-Figur der "Santísima Muerte" (Tepito, Mexiko), der tote Deserteur "Ánimá de la Yaguara" (Carabobo, Venezuela), der von der Polizei getötete und unter falschem Namen begrabene Frauenheld Curuzú Cedro (Tuyutimi, Paraguay) das Kinderskelett "Niño Compadrito" (Cuzco, Peru), das angeblich geistig behinderte Mordopfer Romualdito (Santiago, Chile) oder der auf eine Indio-Gottheit zurückgehende und von der katholischen Kirche zum Judas Iskariot erklärte "San Simón" (San Andrés Itzapa, Guatemala).


Kurioses Ableben als Heiligkeitsmerkmal

Neben dem ungläubigen Staunen der Reisenden hat die bunte Truppe der "Animitas" auch immer wieder das Interesse seriöser Wissenschaftler auf sich gezogen. Einer von ihnen ist Frank Graziano aus Connecticut, USA. In seinem Buch "Cultures of Devotion. Folk Saints in Spanish America" beschreibt er, wie viele dieser Volksheiligen durch die Vermischung des Gebetes "für" und "zu" den Toten entstanden sind. Wenn dann etwa Familienangehörige des Toten von Wundern berichteten, werde die Grenze zum Kult schnell überschritten, der Tote verwandle sich in eine verehrte "Animita".

Graziano fällt zudem die Nähe fast aller lateinamerikanischen Volksheiligen zum Tod auf, wie sie in der extremsten Form im Gebet zu Skeletten oder, wie bei der venezolanischen "Momia San Jorge", zu Mumien Ausdruck findet. Dieses Phänomen erklärt der Wissenschaftler auch mit der Ikonographie des hispanischen Katholizismus: "Die Nähe der Volksheiligen zum Tod geschieht im Kontext einer größeren Todesorientierung des hispanischen Katholizismus insgesamt. Die Kirchen Spanisch-Amerikas sind voll von Bildern von Tod und Leiden. Die allgegenwärtigen grausamen Bilder Christi, gequält, gekreuzigt, tot, bilden das Zentrum und werden ergänzt durch Totenschädel, Höllendarstellungen, Martyrien, Geißelungen und Knochenreliquien."

Nichtsdestotrotz gebe es einen großen Unterschied zwischen dem katholischen Glauben und den Volksheiligen. Im Katholizismus seien Tod und Leiden nicht Selbstzweck, sondern in ein sinnvolles Konzept eingebunden, etwa als Sühne. Bei den "Animitas" werde der Tod selbst jedoch direkt als Mittel für praktische Veränderung und Wunder anerkannt. Während die offiziellen Heiligen der Kirche oft wegen ihres tugendhaften Lebens verehrt werden, liegt der Grund der Verehrung vieler lateinamerikanischer Volksheiligen in den Umständen ihres Todes. Ein besonders merkwürdiges, tragisches oder geheimnisvolles Ableben wird dabei zum göttlichen Siegel, zum Heiligkeitsmerkmal. Dabei werde der Tod keineswegs "aus morbider Attraktion oder passiver Kontemplation betrachtet, sondern zum Einsatz seiner außer-weltlichen Kräfte, um das eigene Leben in dieser Welt zu verbessern".


Auffällig am Kult zu den Volksheiligen ist auch die große Nähe zu katholischen Ritualen. So werden Emile Dubois und Co. meist nicht um ihrer selbst willen verehrt, sondern wegen ihrer angeblichen Beziehung zu und ihrer Fürsprache bei Gott. "Du, der du im Ruhm wohnst und ganz nahe bei Gott bist, höre auf die Leiden dieses armen Sünders", heißt es etwa in einem Gebet zum "heiligen Banditen" Jesús Malverde. "Oh unsere wundertätige Herrin Deolinda Correa, danke, dass Du unsere Bitten und Gebete hörst, die durch Dich zu unserem Herrn Jesus Christus gelangen", beten im gleichen Sinne die Difunta-Correa-Gläubigen.

Rituale wie das Anzünden von Kerzen, das Knien vor Gebeinen der Heiligen, das Durchführen von Wallfahrten, das Hinterlassen von Fotos der Liebsten oder das Anbringen von Votivtafeln lassen sich auch an den Gräbern des heiligen Pater Pio in Italien oder des heiligen Thomas in Indien beobachten. Fast alle "Gläubigen" der Volksheiligen sind katholisch getauft und viele von ihnen besuchen neben den "Animitas" auch die Heilige Messe. Okkultistische und bizarre Rituale sucht man in den Volksheiligtümern meist genauso vergebens wie Verhöhnungen des Christentums. Stattdessen finden sich in praktisch jedem derartigen Tempel Kreuze. Man besucht San Simón zu Allerheiligen und betet vor dem Bild des Gaucho Gil das Vater Unser. Auf mexikanischen Hausaltären finden sich nebeneinander Bilder der Jungfrau von Guadalupe, von Jesús Malverde, Judas Thaddäus und der "Santísima Muerte".


Fast alle "Gläubigen" der Volksheiligen sind katholisch getauft

Warum aber begnügen sich gläubige Lateinamerikaner nicht mit den Heiligen der Kirche, von denen es spätestens seit den zahlreichen Heiligsprechungen durch Johannes Paul II. auch auf ihrem Kontinent viele gibt? Für Frank Graziano versprechen "Animitas" auch denen Wunder, "die keine Unterstützung oder Möglichkeiten innerhalb des bestehenden Systems" erhalten: Arme, Kriminelle, Behinderte, Obdachlose. Die Heiligenverehrung werde so zu einer Art Protest der Armen und Ausgestoßenen, die vom Staat oder auch von der Kirche nichts zu erwarten haben: "Wenn in den Mythen der Volksheiligen Schurken auftauchen, sind diese meist repressive Autoritäten". Auf der anderen Seite steht dann oft der "Heilige", der außerhalb der bestehenden Strukturen Gerechtigkeit herstellt, etwa durch das Bestehlen der Reichen und Ausbeuter.

Ein weiterer "Vorteil" der Volksheiligen ist ihre Nähe zur lateinamerikanischen Kultur. Während sich der Heilige Franziskus, der Heilige Dominikus und selbst die Heilige Rosa von Lima in den Kirchen verstecken, sind die "Animitas" dort, wo die Menschen leben: am Straßenrand, im Elendsviertel, auf der Kuhweide. Sie gehören zum Leben der Menschen selbstverständlich dazu. Graziano berichtet, viele "Gläubige" hätten in Interviews erklärt, dass sie die Volksheiligen einfach deshalb bevorzugen, da sie "uns gehören" - im Gegensatz zu den importierten und bunt bemalten Statuen in den Kirchen.


Volksheilige als Teil der Legenden und Leidenschaften der Lateinamerikaner

Die katholische Kirche befindet sich demgegenüber in einem Dilemma. Geht sie zu hart gegen die Volksheiligen vor, trifft sie die Identität der Menschen. Wahrscheinlich würde sie damit nur erreichen, dass manche Gläubigen die Kirchen nicht mehr betreten. Auf der anderen Seite handelt es sich natürlich um Kulte, die sich teilweise außerhalb der Kirche befinden und die teilweise ihren Lehren widersprechen. Die Kirche versucht deshalb, die Menschen durch religiöse Erziehung von der Falschheit der Kulte zu überzeugen und sie andererseits schlicht wieder abzuwerben, etwa durch die Errichtung einer Kapelle gegenüber dem Heiligtum der Difunta Correa.


Der Weg dazu ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Anders als die meisten offiziellen Heiligen sind die Volksheiligen Teil der Legenden, Lieder und Leidenschaften der Lateinamerikaner. Und so kaufen die Mexikaner weiter Jesús-Malverde-Halsketten von Carlos, dem fliegenden Händler, während die Mariachis in der hundert Jahre alten Spelunke "Zum alten Frieden" von Chihuahua zwischen Tacos und Tequilas "ihren" Heiligen besingen. Das Akkordeon dröhnt, die Gläser klappern und die Cowboystiefel blitzen, als der Sänger die letzte Strophe seiner Ode an den "Engel der Armen" anstimmt. Nach und nach fällt das fast ausschließlich männliche Publikum mit von Emotion und Tequila angefeuchteten Augen in den Chorus ein: "Ich lege mein Glück in Deine Hände / Deine großzügige Gnade / Ich komme nächstes Jahr wieder / Schließlich will ich ja nicht geizig sein / Danke für alles, was Du mir gabst / Und für Deine Wundertätigkeit".


Sebastian Grundberger M.A. studierte Politikwissenschaft, Geschichte Lateinamerikas und Amerikanistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Derzeit arbeitet er als freier Autor und Journalist zu Lateinamerika und dem Nahen Osten.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 6, Juni 2011, S. 308-312
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2011