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ZEITZEUGEN LINKS/015: Zufallsfrei - prinzipientreu, bewegungsoffen ...    Georges Hallermayer im Gespräch (SB)


Grafik: copy; 2016 by Schattenblick

Gespräch mit Georges Hallermayer am 17. Januar 2017 in Saarbrücken - Teil 3

Er sei ein "pädagogischer Optimist" geblieben, nicht weil er einem bildungsbürgerlichen Ideal folgt, sondern weil an objektiven Klasseninteressen kein Mangel herrscht. Wenn man sich im Kapitalismus auf etwas verlassen kann, dann daß das Feuer sozialer Widersprüche stets neue Nahrung erhält. Ich kenne keine Linken und keine Rechten mehr, sondern nur noch Franzosen, meint Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron unisono mit alten wie neuen Volkstribunen, denen das dröhnende Bekenntnis zur Nation Mittel zum Zweck aggressiver Interessendurchsetzung und Klassenherrschaft ist. Wo der Kampf um die Deutungsmacht in Staat und Gesellschaft für beendet erklärt wird, weil marktregulative Sachzwanglogik letztinstanzlich für alle Fragen des Lebens und Sterbens zuständig sei, da bleibt kein Raum mehr für die Vielfalt eines Denkens, das in seiner dialektischen Konsequenz den Schritt über die Grenze des Erwünschten und Erlaubten hinaus möglich macht.

Georges Hallermayer ist einer Bildungsarbeit verpflichtet, die er "umfassend als einen Anker im täglichen Leben, als Theorie und Praxis" versteht. Die gemeinsame "Freude am Erkennen von Ursachen und von Möglichkeiten, die Folgen von Ausbeutung solidarisch zu bekämpfen und weitere Streiter zu gewinnen", könnte ein guter Grund dafür sein, im Bemühen um Lesen und Schreiben, Hören und Sprechen nicht nachzulassen. Der demagogischen Einebnung aller realen, in ihrer materialistischen Grundlegung unbestreitbaren Unterschiede zur Etablierung unumkehrbarer Gewaltverhältnisse solidarisch zu widerstehen ist in Zeiten nationalchauvinistischer Restauration nichts geringeres als eine existentielle Notwendigkeit.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Georges Hallermayer
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: In der DKP wird zum einen die Unterstützung der Partei Die Linke gefordert, zum andern will man selbst zur Bundestagswahl antreten. Ist es nicht ein Grundproblem kommunistischer Parteien, einen reformistischen und radikalen Flügel zu haben?

GH: Gegen Flügel habe ich im Prinzip nichts, solange sie in die gleiche Richtung fliegen, also in Bündnissen zum Beispiel. Das heißt aber für die Partei, solange der demokratische Zentralismus wirklich gelebt wird. Ich bin zwar nicht deiner Meinung, aber in Herrgotts Namen, das machen wir jetzt zusammen und werten das aus. Aber wehe die nächste Abstimmung, dann komme ich wieder. Wenn der demokratische Zentralismus bei allem Widerspruch wirklich demokratisch gelebt wird. Dann ja. Mir gefällt etliches nicht, an der UZ nicht, an diesem und jenem nicht, aber okay, das mache ich bis zum mal gucken. Flügel in dem Sinn können sein, Fraktionen sind was anderes. Und da setzt es aus, weil dann gilt dieser demokratische Zentralismus nicht mehr, wird nicht mehr geschlossen gekämpft.

Diese Flügelarbeit kenne ich ja aus der SPD, und diese Flügelarbeit gibt es in der Linken. Und es gibt sie auch in der DKP. Nur die Frage, die jetzt zur Entscheidung stand, wollen wir als winzige Partei kandidieren, wozu, schaden wir da nicht dieser sogenannten Linken, nicht nur der linken Partei, sondern insgesamt der linken Bewegung? Tja, da fällt mir nur ein, daß dort, wo Kommunisten stärker geworden sind, ist die linke Bewegung insgesamt stärker geworden. Und als klassisches Beispiel fällt mir nur Chile ein. Es gibt auch noch andere Beispiele, aber das zieht nicht.

Und zum zweiten, ich schäme mich für einige Genossen, warum? Die Kommunistische Partei ist heute immer noch verboten, aber in den 60er Jahren und in den 70er Jahren noch haben einzelne Kommunisten den Mut gefaßt, sich offiziell als Direktkandidaten aufstellen zu lassen. Ich möchte kandidieren, ich möchte meine Meinung verbreiten können. Diese einzelnen Kommunisten hat man ins Gefängnis gesteckt dafür, daß sie zum Beispiel die Anerkennung der DDR forderten, gegen den kalten Krieg auftraten. Sie wollten die Wiedervereinigung Deutschlands, sie wollten keine NATO und keine Wiederbewaffnung, Der Verfassungsschutz kannte sie, sie wurden daraufhin, weil das angeblich kommunistische Propaganda war, ins Gefängnis gesteckt. Und ich bin heute sehr betroffen in Gedenken an diese Genossen, daß der saarländische DKP-Bezirk mit knapper Mehrheit beschlossen hat, nicht zu kandidieren, keine Landesliste aufzustellen.

Dazu kommt, daß es in der Partei Widersprüche gibt, eigentlich auch unversöhnliche. Es sind im Prinzip die gleichen, die mich damals bewogen haben, von der SPD zur DKP überzutreten. Dazu muß ich sagen, wie wird einer Kommunist? Ich war damals nicht Kommunist, auch wenn die Kommunistische Partei sagt, jetzt bin ich einer. Vor allen Dingen war ich belesen und auch beeindruckt von Lenins Analysen und Politik. Mit Stalin hatte ich schon immer meine Probleme. Aber: Ein alter Genosse von der VVN, der im KZ gesessen hatte, schenkte mir seine Stalin-Bände. "Halte sie in Ehren", sagte er. Ich habe sie immer noch. Vielleicht habe ich in den 30 Jahren paarmal reingeguckt (lacht). Aber dem Genossen hat Stalin zum Überleben im KZ geholfen, den Kopf aufrecht zu halten. Nein, Stalin ist eine eigene Geschichte, will ich gar nicht drüber reden.

Jetzt auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz hat Patrick Köbele wieder betont, daß die Friedensfrage und die Regierungsbeteiligung wesentlich dafür ist, was uns von der Linkspartei unterscheidet, und die Frage nach der "Korrumpierbarkeit" zentral ist. Meinen Studierenden, Eierköpfe aus internationalen Gegenden, Lateinamerika, China und auch Afrika, habe ich immer gesagt: Am schwierigsten in Ihrem Leben wird es sein, immer unbestechlich zu bleiben. Und das ist genau die Frage: Korrumpierbar ist man ja nicht, indem man Geld annimmt oder ins Hotel geht, das ist ein Klacks, korrumpierbar ist man, wenn man sich in diesem System auf einmal anders entscheidet - die NATO eben nicht mehr abschaffen will. Oder zum Beispiel aktuell, wo ich selbst Augenzeuge bin: Die Linke hat den Slogan "Hartz IV muß weg" aufgegeben. Und warum aufgegeben? Damit sie regierungsfähig ist. Damit sie nicht mehr antreten muß mit "Hartz IV muß weg", sondern "wir leben mit Hartz IV, Hartz IV muß modifiziert werden". Und Oskar Lafontaine hat sich hier in Saarbrücken nicht entblödet zu behaupten, dieser Slogan mußte weg, weil wenn Hartz IV wegkommt, dann wissen die Leute ja nicht, was kommt dann - noch etwas Schlimmeres?

Jedenfalls ist die Geschichte mit der Linkspartei für mich gegessen bei aller guten Zusammenarbeit. Die Frage ist nur - in der DKP gibt es auch einen Generationenwechsel, auch eine Generationenfrage, und das ist eine sehr schwierige Sache. Ich war jahrelang im Landesvorstand der GEW, jetzt im Februar ist meine letzte Sitzung dort. Und ein Generationenwechsel ist sehr schwer zu bewerkstelligen. In den letzten zehn Jahren haben wir uns die ganze Zeit gefragt, wer denn nach uns kommen kann, da war ich 60, heute bin ich 70. In der Kommunistischen Partei sind heute noch Leute, die illegal waren, dann dazukamen, und immer noch so eine Art In-Group bilden. Ich kann es mir nicht anders erklären, daß da einzelne theoretische Verhärtungen aufgetreten sind, aber ich sehe das Problem, daß sich möglicherweise die Fronten verhärten.

Ich bin der Meinung, daß man sich streiten, ja sogar anschreien kann, aber nach einer Pause muß man wieder miteinander ein Bier trinken können. So wie mit meinen Brüdern, wir streiten uns auch, wir waren praktisch die drei klassischen Fronten innerhalb der Arbeiterbewegung. Ein Bruder privatisiert jetzt, er reist in der Weltgeschichte rum, kann sich das endlich leisten. Als Gewerkschafter macht er noch seine Meisterprüfungen in der IG Metall, aber sonst macht er nichts mehr. Gut, mein anderer Bruder ist in der DKP aktiv, er macht jetzt Filme auch für die VVN, und ich bin auch noch der DKP, wir beide sind noch in der DKP.

SB: Wie beurteilen Sie die Politik der Gewerkschaften in der Bundesrepublik, vielleicht im Vergleich zu Frankreich, was zum Beispiel die Frage einer geschlossenen Front gegen Sozialabbau, gegen Arbeitsverdichtung betrifft?

GH: Der DGB hat gesehen, er ist schlecht aufgestellt. Und die Spartengewerkschaften, insbesondere die der Lokführer, haben Dampf gemacht. Der DGB braucht, wie Karl May sagen würde, wie Indianer ein Ohr auf der Schiene. Also haben sie das Statut geändert und jetzt die Kreisverbände ehrenamtlich wiederbelebt. Das heißt also, sie wollten aus dem ehrenamtlichen Bereich den hauptamtlichen Bereich unterfüttern, den sie ja aus Mitgliedsgeldern, aus der Europäischen Union und sonst woher überall gut finanziert bekommen. Ich habe vergessen, wie viele Millionen aus der Europäischen Union an den DGB fließen. Sie haben gesehen, daß die Zeiten härter werden. Nur inwieweit sie kämpfen, wird an der Basis entschieden.

Meine Gewerkschaft, die GEW, hat im letzten Jahr einen Wahnsinnsarbeitskampf gemacht, obwohl sie eigentlich zum Streik nicht vorbereitet waren, die Beamten, die Herren Lehrer, Studienräte (lacht), aber die Kindergärtnerinnen haben gestreikt. Und das war ein Wahnsinnsding, das war eine Wahnsinnserfahrung. Die ging sogar so weit, daß ich gesagt habe als Alter, ihr müßt die Senioren reanimieren, die Gruppe, die nur als Beitragszahler relevant ist. Ja, der DGB, nach 50 Jahren Gewerkschaftsmitgliedschaft - vielleicht belebt Konkurrenz das Geschäft - ich weiß es nicht. In Südafrika wird zur Zeit ein revolutionärer Gewerkschaftsverband gegründet. Warum? Weil die COSATU noch enger mit der Regierung verbandelt ist als bei uns der DGB mit der SPD und der Regierung, das ist dann schon ein bißchen vermittelter. Im Frühjahr soll dort ein eigener Verband gegründet werden. Inwieweit das in Deutschland anstehen müßte, weiß ich nicht, manchmal denke ich daran.

SB: Haben Sie nicht den Eindruck, daß die deutschen Lohnabhängigen leicht zu korrumpieren sind, indem man ihnen suggeriert, sie würden im weltweiten Vergleich auf der Seite der relativen Gewinner stehen? Es wird immer darauf hingewiesen, daß es woanders noch schlechter sei, und so wird nach unten anstatt nach oben abgeglichen. Ist der geringe Widerstandsgeist und das starke Standortdenken nicht typisch dafür?

GH: Das Standortdenken ist ganz typisch, natürlich, aber das ist ganz gewollt von der Bourgeoisie, von den Kapitaleignern, das ist völlig klar. Wenn es mir gut geht, sollt ihr eure Brosamen haben, wenn es uns schlecht geht, ja gut, es tut mir sehr leid, aber da muß ich euch entlassen. Hauptsache, ich habe mein Scherflein im Trockenen und kann etwas anderes tun. Das ist klassisch. Daß sich Standortlogik durchsetzt ist kapitalistische Logik. Wohin das führt, wenn das wieder auf die Nationen übergreift, ist auch klar, haben wir schon mal gesehen. Schlimme Kriege, gut, nach mir die Sintflut. Für meine Kinder habe ich echt Angst. Das ist das eine.

Das andere ist links-rechts. Das heißt also, wo stehen die Klassen. Man hat jahrzehntelang behauptet, es gibt keine Arbeiterklasse mehr, bloß weil sie heute Ingenieure sind und eine Krawatte tragen (lacht). Es gibt keine Arbeiterklasse mehr, was heißt also links-rechts, es gibt keine Kämpfe mehr, wozu, was soll das alles? Tja, ich glaube, mittlerweile klärt sich da einiges ganz faktisch, so daß man es auch in der Ideologie nicht mehr leugnen kann. Daß die Arbeiterklasse nicht mehr wie die Malocher bei Émile Zola ausschauen, sondern jetzt eine Krawatte tragen und mal da und mal da beschäftigt sind und vielleicht auch nicht. In den Gewerkschaften rumort es, in der GEW rumort es. Die GEW ist als die linke Gewerkschaft verschrien, aber ich weiß, welche Schwierigkeiten ich als Kommunist dort hatte. Aber man hat immer auf meine Stimme gehört. Wenn ich den Mund aufgemacht habe, hat man zugehört, und das war wichtig. Zum Teil konnte ich auch einiges klarstellen.

Ich kann jetzt einen französischen Gewerkschafter zitieren, Henri Krasucki, den früheren Vorsitzenden der CGT: "In Zeiten der sozialen Regression wird nicht verhandelt, es wird gekämpft. Verhandelt wird in Zeiten der Progression." Und das finde ich, ist einer der wichtigen Gedanken, den die CGT aufrechterhält, aber wie weiter, wir werden es jetzt sehen. Jetzt zur Zeit laufen in Frankreich die Wahlen bei den kleinen und mittleren Unternehmen bis Januar. Die CGT hat schon einige kleine Betriebe gewonnen, aber die CFDT erwartet, daß sie stärkste Gewerkschaft werden und die CGT rausfliegt. Deshalb wird auch alles getan, um die CGT zu kriminalisieren. Es gibt einen Button, der ist bösartig, aber er trifft in gewisser Weise auf den DGB zu, und das sage ich als alter Gewerkschafter: "Wenn die PS die Sklaverei wieder einführen würde, würde die CFDT das Gewicht der Ketten verhandeln." Das ist ein Wahnsinnszitat. Tragen die jungen Leute als Button (lacht). Aber das ist genau die Funktion der Sozialdemokratie bis hin zur Linkspartei. Der arme Kerl, Wohnungsbau-Senator in Berlin, was hat er in seinem Lebenslauf verschwiegen, daß er beim Geheimdienst war, um den Sozialismus zu schützen.

Ich schreibe jetzt einen kleinen Artikel über ein Krankenhaus im Süden Frankreichs. Dort haben sie jetzt 98 Tage gestreikt. Personal muß eingestellt werden, Zeitverträge werden Festanstellungen, ihre Pausen verlängert, und sie kriegen noch eine Prämie. Sie haben gewonnen. Nach 98 Tagen. Was heißt das? In Frankreich gibt es keine Streikgelder, sie müssen unterstützt werden nicht nur von ihren Verwandten, sondern auch von den kleinen Handwerkern und Bäckern, von allen, die drumherum sind, die ihnen zu essen gegeben haben. Das nötigt mir unheimlichen Respekt ab. Was vor Hollande noch toleriert wurde, um für den Erhalt der Arbeitsplätze einzutreten, wird heute anders gewichtet. Wenn ich eine Fabrik besetze oder zum Beispiel den Manager in seinem Büro einsperre (lacht), dann wird das mittlerweile auch in Frankreich anders bewertet, um diesen Widerstand zu brechen. Ich sehe in der Gewerkschaftsjugend unheimlich viel Potential. Ich konnte auf zwei Camps einen Vortrag zu Klassenkämpfen in Frankreich halten, und die waren hochinteressiert daran. Im zweiten Camp konnten sie abstimmen, in welchen Arbeitskreis sie wollten, und die meisten sind zum Thema der Kämpfe in Frankreich gekommen, obwohl ich mich nicht optimal vorgestellt habe und die vielleicht dachten, was machen wir mit dem Alten da? (lacht)


Georges Hallermayer lacht - Foto: © 2017 by Schattenblick

Dem sauertöpfischen Rigorismus unterstellter Sachzwänge mit einem Lachen entgegentreten ...
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Gerade deshalb interessiert uns die Frage, wie werden Menschen zu Sozialkämpfern, zu Kommunisten, was bewegt sie dazu, über den Tellerrand zu schauen und über ihren Schatten zu springen.

GH: Das sind wichtige Fragen, und die müßten mehr propagiert werden. Wir müssen Mut machen, mehr mit den Betroffenen reden, sie ermutigen, sich zu organisieren. Nur gemeinsam können wir kämpfen. Wie? Wird sich zeigen. In der Region Paris war eine Kassiererin schwanger, sie wollte weg, der Chef sagte nein. Sie erlitt eine Frühgeburt.

SB: Geschichten wie diese gehören etwa in Bangladesch zum Alltag. Menschen sterben bei der Arbeit, doch es darf zu keiner Unterbrechung kommen.

GH: Bangladesch ist viel zu weit weg. Das juckt viele gar nicht. Frankreich juckt da eher. In Deutschland haben wir keinen Streikmonitor. In Frankreich gibt es überall Observatorien, die beobachten, registrieren und veröffentlichen. Selbstmorde in der Arbeit, wie viele gab es damals, als die DDR vereinnahmt wurde? Das erscheint in keiner Statistik. Wie viele gab es damals, als die Post privatisiert wurde? Obwohl das mit Pensionierungen geschah, anders als in Frankreich, die die harte Tour durchgezogen haben. In Frankreich haben sie in privater Initiative, mittlerweile ist es staatlich, ein Observatorium gemacht. Jetzt haben die großen Bosse von France Telecom immer noch ein Gerichtsverfahren am Hals, obwohl sie schon längst in Pension sind und ihre Millionen verfuttern. Kommt der Winterkorn bei uns in Gefängnis, wird der angeklagt, dieser Betrüger?

SB: Sie sind im Vorstand der Marx-Engels-Stiftung: Gibt es in der Bundesrepublik Ihrer Ansicht nach noch etwas in Sachen Bewußtseinsarbeit zu gewinnen? Sehen Sie Chancen, über das Erkenntnisinteresse der Menschen ein stärkeres Streitpotential zu entfachen?

GH: Herbert Sandberg hatte einen Zyklus aus Holzschnitten gemacht zum Kommunistischen Manifest. Eins mit der Sonne und den zerbrochenen Ketten drunter hing, so sagte man mir, jahrzehntelang im ZK der SED im Sitzungszimmer: "Wir haben nichts zu verlieren als unsere Ketten." Und er hat da eine Klasse mit Männern an Schulbänken geschnitzt, die lernen: "Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden - die modernen Arbeiter, die Proletarier." Und darum wollte ich Lehrer werden, lernen zu kämpfen, das ist einer meiner Lebensgrundsätze. Das Kapital schafft permanent seine eigenen Gegner, die Proletarier, sonst kann es selbst nicht überleben, wie es umgekehrt die Proletarier zwingt, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Es ist die Frage, ob es dem Imperialismus weiter gelingt, links und rechts verschwimmen zu lassen, die sozialistische Alternative zu verteufeln und nur noch mit Stimmungen zu arbeiten. Dann haben wir so etwas wie den arabischen Frühling, den haut er nieder, und fertig bis zum nächsten Mal. Das ist die Frage.

Nach der großen Niederlage des sozialistischen Systems, das hat mich richtig umgeschmissen. So 90/91 habe ich brav die Marxistischen Blätter weiter abonniert, aber ich konnte sie nicht mehr lesen. Die UZ habe ich weiter abonniert, aber ich konnte nur ein bißchen lesen. Ich hatte genug Probleme um die Ohren. Aber meine Frage war: Wie konnte eine Wissenschaft, die behauptet, das überlegene System zu repräsentieren, wie kann die ihre eigene Unzulänglichkeit nicht erkennen? Das heißt also, wie wenig selbstkritisch ist sie? Das ist für mich eine der zentralen Frage, kritisch müssen wir sein, auch selbstkritisch. Es gab immer einen Grundsatz, daß Kommunistische Parteien die dreckige Wäsche nicht nach außen waschen. Sondern nur intern Kritik äußern, auch in ihren Publikationen nicht. Ich halte diesen Grundsatz für richtig, aber durch die Praktikabilität von Multimedia-Medien für obsolet, kaum mehr aufrechtzuerhalten durch die Praxis.

Bildungsarbeit halte ich für eine große Chance und für äußerst notwendig. Die ideologische Front des Klassenkampfes ist weitgehend durch viele Varianten bürgerlicher Ideologie hegemonisiert und durch das Strampeln durch die fetischisierte Warenwelt geprägt. Wir haben eine ganze Generation verloren durch den Niedergang des sozialistischen Weltsystems. Es fehlt eine ganze Generation Kommunisten. Gibt es nicht, haben Karriere gemacht, alles mögliche. Ich sehe es an meinen Kindern, die wollen vom Kommunismus nichts wissen, auch wenn sie sich ihren kritischen Geist bewahrt haben.

Aber Bildungsarbeit verstehe ich umfassend als einen Anker im täglichen Leben, als Theorie und Praxis. Klassenbewußtsein gibt es ja. Es schafft sich immer wieder neu, und es braucht Kommunisten wie wir, die in aller Bescheidenheit, in aller Kleinheit nicht vergessen, im Unterschied zur gewerkschaftlichen Arbeit zu sagen, dahin wollen wir - die Ausbeutung abschaffen, den Sozialismus. Ach Gott, acht Leute sind jetzt so reich wie die Hälfte der Erde. Und was sagt das Institut der Deutschen Wirtschaft - lenkt ab: das ist doch völlig irrelevant, wir müssen doch fragen, wie können wir denn diese Hälfte der Erde reicher machen. Nein, die entblöden sich nicht zu schreiben, wir wollen doch die Armut bekämpfen. Punkt.

Ich bin ein pädagogischer Optimist geblieben, und Klasseninteressen sind objektiv da. Es ist die Frage, wie sie sich artikulieren und wie man sie gemeinsam verfolgt. Ich bin hier gehandikapt, weil ich in Frankreich wohne, schreibe ein bißchen in der UZ und jungen Welt, in der Lëtzebuerger Vollek. Bildungsarbeit ist für mich Kulturarbeit. Und das Erleben von solidarischem Miteinander steht für mich im Mittelpunkt. Spaß, nein nicht Spaß sollen wir haben, sondern gemeinsam Freude am Erkennen von Ursachen und von Möglichkeiten, die Folgen von Ausbeutung solidarisch zu bekämpfen und weitere Streiter zu gewinnen. Der Wahlkampf gibt den Anstoß, neue Kontakte zu knüpfen, mit Nachbarn zu sprechen, Sympathien zu gewinnen. Was sollte uns daran hindern, nach dem Wahlkampf uns systematisch zu fragen, was wir mit (auch neuen) Freunden zusammen machen, lesen, singen tun wollen - und dann Klassiker lesen, Arbeiterlieder singen, zusammen Videos anschauen, historische Ausflüge machen etc. ...

SB: Bei der Frage nach Institutionen, die eine solche Arbeit unterstützen können, könnte man an die Rosa-Luxemburg-Stiftung denken. Sie ist quasi das große Bildungswerk der Linkspartei und auch das finanzkräftigste der Linken.

GH: In der Marx-Engels-Stiftung, in deren Vorstand ich bin, arbeiten wir mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung auch zusammen, wo es geht. Die Peter-Imandt-Gesellschaft macht gute antifaschistische Arbeit hier im Saarland. Sie haben zum Beispiel jetzt einen Doktoranden unterstützt, der die Biographien der saarländischen Spanienkämpfer untersucht hat. Aber die in ihr vertretene Ideologie ist diffus, das heißt die marxistisch-leninistische Theorie bedarf eigener Anstrengungen der kommunistischen Partei, einen Thinktank zu entwickeln.

SB: Trifft der Eindruck zu, daß die französische Sprache in Deutschland eher auf dem Rückzug ist oder sich zumindest keiner anwachsenden Beliebtheit erfreut? Welches Verhältnis haben Sie zum Erlernen von Fremdsprachen?

GH: Ich habe mehr Sprachen vergessen als andere gelernt haben. Aber Spaß beiseite. Ich finde Sprachen immer wichtig, Sprachen zu lernen, und die französische Sprache erst recht - warum: weil in Fremdsprachen sehr viele Gedanken anders ausgedrückt werden als im Deutschen. Und auch andere Gedanken entstehen. Zum Beispiel: Chinesen denken anders, wie uns die Semantik zeigt. Als die Schere im Kopf in Deutschland noch funktionierte beziehungsweise mit Gefängnis bedroht war wie etwa in der deutsche Klassik, da konnte man in der Literatur die Scheren im Denken und auch in der Ausdrucksweise erkennen. Der Verkauf deutscher Soldaten an die Engländer für den Krieg in den USA wird bei Schillers "Räubern" nur angedeutet. Wer die Geschichte nicht kennt, der überhört das. So geht es auch in der eigenen Sprache mit marxistischer Terminologie. Um sich klar und deutlich auszudrücken, muß man die Dinge beim Namen nennen. Das hat nichts mit Dogmatismus zu tun, sondern mit wissenschaftlicher Klarheit, Genauigkeit. Mit der Sprache ist es so wie mit dem Hegemon. Französisch war der kulturelle und auch der politische Hegemon in Zeiten nach Louis XIV. und das ganz selbstverständlich.

Jetzt ist Englisch Hegemon, nur, wenn die Engländer ausscheren, dann wird vielleicht auch dieser Beschluß, den man damals in Lissabon getroffen hatte, nämlich daß Englisch die zentrale Sprache in der Europäischen Union ist, fallen. Na gut, ich bin erschüttert, wenn man jetzt im Deutschen Fernsehen ein Programm "One" nennt. In Frankreich gibt es eine ähnliche Tendenz zum Englischen, aber dort gibt es auch eine Akademie francaise, die die eigene Sprache hochhält. Mein Schwiegervater zum Beispiel hat jahrzehntelang mitgemacht, wenn im französischen Fernsehen ein öffentliches Diktat abgehalten wurde. Die Besten bekamen Preise, wenn sie älter sind, und Stipendien, wenn sie jünger sind. Stellen Sie sich das vor, es gibt im Deutschen Fernsehen ein Diktat in deutscher Sprache. Da lachen die Hühner. Wenn ich dem Redakteur des Saarländischen Rundfunks im dritten Radioprogramm sagen muß: Eigentlich wäre doch eine Einstellungsvoraussetzung für hauptamtliche Redakteure, daß sie Deutsch fehlerfrei beherrschten.

SB: Finden Sie eine Sprachpolitik, die in Frankreich vom Staat ausgeht, wünschenswert?

GH: In Frankreich gibt es die Regelung, zumindest habe ich davon gehört, daß in den Musiksendungen in staatlichen Sendern zur Hälfte französische Titel gespielt werden müssen. Finde ich gut. So wie ein Schutzzoll die Ökonomie schützt, sollte auch unsere Kultur geschützt werden. Schutzzölle sind jetzt wieder modern (lacht). Natürlich bin ich dafür, ich halte das für sehr vernünftig. Vor allen Dingen, daß es in Frankreich eine Institution wie die Akademie der Wissenschaften gibt, die für neue Wörter eigene Begriffe findet, nicht "Personal Computer" sagt, sondern "Ordinateur". Wir erfinden ein "Handy", absoluter Ungeist. Wir erfinden dann "postfaktisch". Ich habe erst einmal nachgelesen, was das bedeuten soll. Aber die Tendenz geht jetzt auch schon dahin, daß sie einfach englische Begriffe und auch deren Bedeutung übernehmen. Das findet vor allem unter jungen Leuten statt, aber es ist dort gesiebter, gefilterter. In Deutschland schlägt das voll durch. Ich behaupte, das ist nicht nur eine kulturelle Hegemonie, auch eine kulturelle Infantilität.

SB: Das hierzulande bekannteste Beispiel für deutsch-französische Zusammenarbeit im kulturellen Bereich ist sicherlich der Fernsehsender Arte. Für wie wichtig halten sie solche Verständigungsversuche?

GH: Ich mache auch Führungen nach Verdun für saarländische Schulklassen. Die ersten fangen jetzt im Februar wieder an. Und es ist gut, wenn diese Zusammenarbeit läuft, weil es auf alle Fälle unterschiedliche Sichtweisen, auch Standpunkte gibt. In Frankreich ist Klassenkampf Alltagsbewußtsein. Nur wenn rinks und lechts verwechselt wird, so wie der Ernst Jandl gesagt hat, wird es langsam eine Einheitssoße. Wenn ich den Nachrichtenkanal der ARD und Arte-Nachrichten sehe, sehe ich die gleichen Schwerpunkte, mainstream. Auf Arte gibt es einige Lichtblicke wie die geopolitische Sendung "Mit offenen Karten". Jean-Christophe Victor, der die Sendung phantastisch gemacht und auch klar nach Interessen abgegrenzt hat, ist jetzt leider gestorben. Jetzt gucke ich schon den französischen Auslandsnachrichtensender, France 24, der bringt dann schon mehr und vor allem viel über Afrika. Aber der Eurozentrismus zum Beispiel auf Arte und bei den deutschen Sendern ist immens, die Amerika-Hörigkeit, ich sage ganz bewußt Hörigkeit. Wenn der Trump einen Furz läßt, ist er hier im Fernsehen, bei Arte wie im deutschen Fernsehen.

SB: Man kann den Eindruck erhalten, daß der Abstand zwischen Deutschland und Frankreich viel größer ist, als man sich im Rahmen der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der EU eingesteht. Sehen Sie eine zunehmende Annäherung, oder verbleibt man in der jeweils eigenen Weltsicht?

GH: Ich denke, die Tendenz läuft zunehmend auf eine stärkere Artikulierung des Nationalbewußtseins. Es gibt einmal die französische Filmkultur, die in Deutschland wohlbekannt ist, zumindest bei den Intellektuellen. Auch die Eßkultur, obwohl die Internationalisierung jetzt viele anderen Interessen, viele andere Küchen des Orients bekannt gemacht hat. Aber die französische Küche hat immer noch einen Namen. Frankreich als Urlaubsland ist immer noch beliebt. Frankreichs Ökonomie wird in den deutschen Massenmedien als minderwertig behandelt, was sie nicht ist. Sie ist nicht im Export dermaßen stark wie die Bundesrepublik, aber ansonsten gibt es keine großen Produktivitätsunterschiede. Die Bourgeoisie in Frankreich macht horrende Dividende, in Deutschland auch (lacht). Und die Arbeiterklasse und die abhängig Beschäftigten werden ähnlich mies bezahlt wie in Deutschland, nur gibt es andere Graduierungen. Deutschland ist Meister im Selektieren. Die neue Welle der Einwanderer bildet eine neue Unterschicht. So wie ich als Kind gelebt habe, so leben die Migranten heute. Wasser irgendwo, Dusche, Bad, weiß der Teufel, ach, mir wird das Herz schwer.

In Frankreich ist es mit der mittlerweile jahrzehntelangen Orientierung auf den Mindestlohn eine andere Sache. Die Arbeitslosigkeit ist offiziell größer in Frankreich, stimmt ja gar nicht, ist ein Statistiktrick. Hollande ist zu spät draufgekommen. Der hat das erst im letzten Jahr gemacht, die Statistik umzustellen. Hätte er das doch gleich am Anfang gemacht (lacht), hätte all die Kranken und die auf Fortbildung sind rausgerechnet. Er läßt dies nunmehr mit den kurzfristig Beschäftigten rausrechnen. Mittlerweile gibt es drei verschiedene Kriterien an Arbeitslosen in Frankreich, und jetzt ist auch eingetreten, was Hollande so lange beschworen hat: nicht mehr das Ansteigen, sondern das Abschwächen der Kurve der Arbeitslosigkeit. In Deutschland hat Schröder das geschafft mit Hartz IV. Braucht man Hartz IV, wenn sie ihre drei oder vier Jobs haben oder auch nicht, jedenfalls sind sie raus aus der Arbeitslosenstatistik. Sie zahlen Steuern, sie zahlen Sozialabgaben, hallo, sie sind auch da noch eine Melkkuh. In Frankreich haben sie das noch nicht durchgesetzt. Aber der Fillon packt das jetzt an. Aber noch extremer als die Deutschen. So wie sie mit dem Loi El Khomri die Gewerkschaften verdrängen wollen.

SB: Herr Hallermayer, vielen Dank für das Gespräch.


Hinterhof mit Eingang zu Café und Kino - Foto: © 2017 by Schattenblick

Treffpunkt Café Kostbar im Kultur- und Werkhof im Nauwieser Viertel in Saarbrücken
Foto: © 2017 by Schattenblick


12. Mai 2017


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