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ZEITZEUGEN LINKS/013: Zufallsfrei - Vorbilder und ein grader Weg ...    Georges Hallermayer im Gespräch (SB)


Grafik: copy; 2016 by Schattenblick

Gespräch mit Georges Hallermayer am 17. Januar 2017 in Saarbrücken - Teil 1

Wie wird so ein Mensch Kommunist? In einer streng katholischen Arbeiterfamilie aufgewachsen, bei einer Bank gelernt, als Steuerinspektor in den Öffentlichen Dienst gewechselt, Abendschule, Studium und manches andere - Georges Hallermayer hat es in jungen Jahren nicht leicht gehabt, und er hat es sich später nicht leicht gemacht. Seine Politisierung in den 1960er Jahren führte folgerichtig zum Austritt aus der Kirche, zur Verweigerung des Dienstes an der Waffe, zu den Jusos und schließlich zur DKP. Einmal die Spur der streitbaren Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen aufgenommen hieß für ihn, die breite Straße des geringsten Widerstandes zu meiden und sich auf dem schmalen, beschwerlicheren Weg durch das gesellschaftliche Unterholz zu schlagen. Wo andere sich eröffnende Karrierechancen auch zum Preis mancher Kehrtwende bereitwillig ergriffen, gelangte er nach reiflicher Überlegung zu dem Schluß, das allzu Naheliegende zu verweigern.

Im Gespräch mit dem Schattenblick am 17. Januar in Saarbrücken blickt der Journalist, Historiker und Gewerkschafter Georges Hallermayer mit zwei lachenden Augen zurück auf ein bewegtes Leben, das sich auch in Zukunft an den unverändert inakzeptablen Verhältnissen reiben wird.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Georges Hallermayer
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Hallermayer, Sie sind in der Nachkriegszeit in einem katholischen Umfeld in München aufgewachsen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt und wie sind Sie Kommunist geworden?

Georges Hallermayer (GH): Da muß ich weit ausholen, war ein weiter und widersprüchlicher Umweg. Ich habe zwischen Ruinen gespielt, dieses war verboten, das sollten wir nicht machen, haben es aber trotzdem getan. Ich bin Arbeiterkind, mein Vater war von Beruf Bäcker, Konditor. Er war sechs Jahre Soldat, in Norwegen stationiert. An der Ostfront und den schlimmsten Dingen ist er vorbeigekommen. Auf dem Heimweg aus der kurzen britischen Gefangenschaft hat er seine Frau kennengelernt, die bereits ein uneheliches Kind hatte. Die beiden zogen nach München. Wie eine Frau aus dem bäuerlichen Bereich in die Großstadt in ein proletarisches Umfeld kommt ist für sich gesehen eine eigene Geschichte.

Mein Vater ist dann bei der Bundesbahn untergekommen. Ich bin damals in einem der Arbeiterhäuser der Bundesbahn in München aufgewachsen, das längst abgerissen ist. Wir haben, das ist heute unvorstellbar, auf 35 Quadratmeter mit am Ende fünf Kindern gelebt: ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Zimmer mit 4 Etagenbetten, wo wir Jungs zu viert wohnten. Die Kleinste schlief als Baby noch bei den Eltern. Wasser und Toilette waren auf dem Flur, die Kohlen und Kartoffeln mußten wir Jungs jeden Tag aus dem Keller in den zweiten Stock hochholen. Wir waren natürlich immer draußen. Unsere Mutter hat uns angehalten, wir sollten lernen und lernen, das war eine der großen Lehren, die mich mein Leben begleitet haben und immer noch begleiten. Die proletarische Kindheit, die Narben der Armut habe ich heute noch, kann ich auch nicht vergessen, von daher war es nicht schwierig, Kommunist zu bleiben.

Vier Buben und dann ein kleines Mädchen als Nachkömmling. Mein älterer Bruder, den unsere Mutter in die Ehe mitbrachte, ist mittlerweile tot, an Krebs gestorben, das Mädchen auch. Jetzt sind wir noch drei Brüder, und wir halten heute noch zusammen. Einer lebt in der Region München, der andere in Niederbayern, und ich hier in Saargemünd. Der jüngste, Gerhard, ging in die SDAJ, lernte dort seine Frau kennen, der andere Bruder, Michael, wurde Automechaniker. Der eine wurde Parteiarbeiter beim Filmverleih Unidoc und stellt heute sein Hobby Filmen in den Dienst der Bewegung, der andere Gewerkschafter und sitzt heute als Industriemeister noch für die IG Metall im Meisterprüfungs-Ausschuß der Handwerkskammer.

Wie wird so jemand Kommunist?

Auf Umwegen... Ich habe ein Jahr in einer Bank gelernt. In der Berufsschule war ich der Beste, in der Bank der Schlechteste. In die Gewerkschaft zu gehen, damals HBV, war für mich selbstverständlich. Für die Praxis war ich total überfordert. Ich war 17 oder 18, da ist unsere Mutter gestorben. Das hat unser Weltbild erschüttert und mein Leben wie das meiner Brüder revolutioniert. Ich bin dann in den Öffentlichen Dienst als Inspektoranwärter gewechselt, wofür heute ein Fachhochschulstudium verlangt wird. Durch den Tod unserer Mutter, die mit 43 Jahren nach einer Operation im Krankenhaus gestorben ist, begann mein katholisches Weltbild zu wanken. Wir waren alle sehr gläubig und ich wollte als Kind Priester werden. Aber durch den Tod unser Mutter wurde unser Verhältnis zu Gott sehr kritisch, und das hat sich dann durch Austritt gegeben.

Nach einem Jahr Banklehre und in der Ausbildung bei der Stadt merkte ich dann, daß ich total verblöde, wenn ich mein Leben weiter so führe. Es klingt arg überheblich, aber wir haben damals eine Arbeit gemacht, die heute ein Computer, ja sogar ein Kopiergerät macht. Im ersten Jahr habe ich Versicherungskarten kopiert und neue ausgefüllt, das mußte ein Beamter tun, weil der das Siegel darunterhaut, damit das beglaubigt war. Im zweiten Jahr habe ich Einwohnermeldekarteien mit der Schreibmaschine übertragen. Bei dieser Arbeit habe ich mir die Augen verdorben. Das wollte ich nicht mein Leben lang tun, sondern weiter lernen und studieren. Ich bin dann zur Abendschule und habe Kurse belegt, um das sogenannte Begabtenabitur zu machen.

Die Stadt München hat diese Kurse gegen das bayrische Kultusministerium durchgesetzt, weil man dort der Meinung war, Begabung läßt sich nicht lernen. Begabung hat man oder hat man nicht. Das sogenannte Begabtenabitur war das kleine Schlupfloch der Staatsregierung, um Prominentenkinder an die Uni zu schleusen. Jedenfalls hat die Stadt München dieses Loch geweitet, aber die Staatsregierung hat es ganz schnell wieder verstopft. Wir waren über 60 Personen in drei Klassen, und ich weiß nur noch, daß wir die Prüfung zu zwölft gemacht haben und acht durchgekommen sind. Die Kurse fanden jeden Abend von sechs bis neun statt, danach nach Hause fahren, Hausaufgaben machen, schlafen, morgens um viertel nach sieben wieder bis mittags arbeiten, und nachmittags Studium in der Bayrischen Verwaltungsschule, heute Fachhochschule.

Die Kollegen haben mir auch geholfen, ab und an konnte ich im Aktenkämmerchen schlafen, wenn ich zu müde war, um nach Hause zu fahren. So verlief meine Jugend zwischen 18 und 22 - keine Freundin, keine Kneipe, höchstens mal am Wochenende. Ich habe gelernt und gelernt und es dann auch geschafft. Ich habe zuerst die Inspektorenprüfung gemacht. Da ich die beste Prüfung in München absolviert hatte, saß ich auf der Karriereleiter. Die wollten mich ins Personalreferat nehmen, aber ich wollte lieber studieren. Das war das erste Mal, daß ich nein zu einer Karriere sagte. So viele Karrierechancen hat man nicht im Leben, aber ich war ein Dickschädel mit einem Ziel vor Augen: Lehrer. Aber das war meine erste Chance, die ich ausgeschlagen habe.

Ich habe dann noch das letzte Jahr Abendschule absolviert und tagsüber gearbeitet. Im dritten Jahr, als ich im Einziehungsamt arbeitete, was so etwas wie der Gerichtsvollzieher der Stadt ist, der die Steuerschuld der Kommunalsteuern einzuziehen hatte, habe ich einen Kommunisten kennengelernt. Er war dort Personalrat. Ich katholisch, Münchner-Merkur-Leser, die haben mich jeden Tag beim Mittagessen in der Kantine unter den Tisch argumentiert, und ich habe am nächsten Tag wieder gefragt und diskutiert. Ich muß dazusagen, es war eine großartige Schule, ich hatte nur Mittlere Reife, und habe die ganzen lateinischen Wörter nicht kapiert. Ich habe die Zeitung gelesen, und jedes Wort, was ich nicht verstanden hatte, nachgeschaut im Lexikon, und das x-mal. Ich mache das heute noch mit dem Wörterbuch. Wenn ich Englisch und Französisch lese, perfekt bin ich nicht, kann zwar flüssig lesen, aber holpere doch über etliche Steine, da muß ich halt nachgucken, weil ich mir nicht sicher bin oder die Wörter nicht kenne. Das war eine große Schule. Heinz Huber, einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, es gibt mittlerweile eine Stiftung unter seinem Namen. Jedenfalls hat mich das politisiert. Als erstes in meiner politischen Entwicklung bin ich aus der Kirche ausgetreten. Heinz Huber wie der Bundesvorsitzende H. M. Vogel waren damals in der Internationalen der Kriegsdienstgegner in München. Daher war das Zweite, daß ich den Kriegsdienst verweigert habe. Ich habe dann jeden Tag Kriegsdienstverweigerer beraten, bin natürlich mit auf die Demonstrationen gegangen, auch in der Uni, das hat mich alles ziemlich politisiert. Das war zwischen 1965 und 1968, also mit Anfang 20.

SB: Hat die damals aufbrechende linke Jugend Einfluß auf Ihre Entwicklung gehabt?

GH: Ja, großen. Wir haben praktisch jede Woche demonstriert. Im Amt sah ich die Ungerechtigkeit, daß zum Beispiel dem Reifenfabrikanten Metzler Steuerschulden in fünfstelliger Höhe gestundet wurden - ersparte dem Unternehmen Kreditzinsen und half über liquide Engpässe hinweg -, während ich die Hundesteuer von Rentnerinnen in drei Monatsraten reinholen sollte - dem ich aber abhelfen konnte. Am Tage des Erlasses der Notstandsgesetze streikten wir zu dritt in der Kantine. Die "dienstliche Belehrung" zu unterschreiben, verweigerte ich per Unterschrift. Mein Protest ging sogar so weit, daß ich barfuß und mit Friedensbutton im Amt erschien

Es gab damals den SDS an der Uni, das hat mich erst betroffen, als ich später an der Uni war. Vorher haben wir als Friedensbewegung sehr viel mitgemacht. Die außerparlamentarische Opposition bestand ja aus vielen Organisationen, wir waren immer auf der Straße. Ich weiß noch, wie Heinz Huber mich warnte, wenn die zum dritten Mal sagen, geh weg, dann gehst du weg. Bleib ja nicht sitzen, verdirb dir nicht deine Zukunft. Hat er wohl recht gehabt. Ich weiß heute noch, wie die uns mit dem Wasserwerfer weggespritzt haben. Aber einmal habe ich bei der dritten Aufforderung der Polizei den Schwanz eingezogen und diese Demo mit unheimlich schlechtem Gewissen verlassen. Aber das war wohl vernünftig.

Weil ich an der Abendschule einen Schülerstreik organisiert hatte, lud man mich bei der Polizei vor. "Sind Sie das auf dem Foto?" Ich war ganz klar zu erkennen, das war Landfriedensbruch damals. Ich war damals schon Inspektoranwärter, und sie ließen mich im Polizeipräsidium drei Stunden schwitzen, bis ich am Ende gesagt habe: "Nein, das bin ich nicht". Dann sagten sie "Gut, das geben wir zu Protokoll, Sie sind neben der Demonstration hergelaufen" - unterschrieben. Das haben die damals durchgehen lassen.

Einen von den liberaldemokratischen Studenten hatte ich in der Abendschule kennengelernt, wo er über die außerparlamentarische Opposition erzählte. Ich war davon sehr beeindruckt. Er kam aus einer Juristendynastie, Vater Bayer, Verfassungsrichter. Er wurde wegen Landfriedensbruch verurteilt, durfte kein juristisches Staatsexamen mehr machen. Sein Marsch durch die Institutionen endete in der Roten Armee Fraktion, er wurde später erschossen. Das war mir mahnende Lehre.

Bevor ich meinen Beamtenstatus aufgegeben habe, studierte ich erst einmal ein Semester Politikwissenschaften nach der Arbeit, um zu sehen, ob ich das schaffe. Die Professoren haben mich ermutigt, diesen Schritt zu tun. Im 3. Semester habe ich eine Griechin kennengelernt. Obwohl sie die Pille nahm, ist sie auf einmal schwanger geworden. Und dann saß ich da. Erst einmal "mußte" ich mich verloben, ich wollte nicht heiraten, um Gottes Willen, aber das mußte sein, sonst hätte ihr Vater sie zurück nach Griechenland geholt. Er war total konservativ, Bürgermeister in einem griechischen Dorf, und die Obristen waren an der Macht.

Eine Abtreibung, die damals noch verboten war, ging nicht, zwei Ärzte verweigerten. Dann habe ich gesagt, in Teufels Namen, mein Vater hat als Arbeiter fünf Kinder großgezogen, dann werde ich wohl eins großkriegen. Jedenfalls mußte ich mir einen Job suchen. Ja gut, damals ging das. Heute wäre das vielleicht gar nicht mehr möglich. Damals hatte ich 300 Mark Bafög gekriegt. 150 Mark Miete kostete mein Einzimmer-Apartment, das heißt, ich konnte von dem Stipendium leben. Aber nicht mehr mit Kind. Jetzt war die Lebensplanung im Eimer.

Da bot mir mein Lehrer von der Abendschule, Landtagsabgeordneter der SPD, einen Job als Juso-Sekretär an. Das war dann die große Verführung. Es war eine große Schule, aber auch eine Verführung. Der jüngste meiner Brüder war schon etwas radikalisierter als ich. Er war vier Jahre jünger und damals in der SDAJ. Ich war eher freischwebender Linker, bin aber dann der SPD beigetreten. Wenn man bei den Jusos arbeitet, will man die Ideologie der SPD verändern. Der Ketzer muß in der Kirche sein. Im dritten Semester bin ich zu den Jusos, im vierten Semester hatte ich praktisch alle Scheine fürs Examen, ich war fleißig und habe alles gelernt. Aber dann habe ich es versaubeutelt. Die Politik hat mich unheimlich interessiert. Die hat mich richtig aufgefressen.

Außerdem war es eine neue Welt für mich. Business Class fliegen nach Berlin, Bonn, Hamburg, in Sternehotels übernachten, das war schon eine Verführung. Die SPD wußte schon, wie sie ihren Nachwuchs herholte und band. Das war meine Generation, ich war damals mit Wieczorek-Zeul, mit Schröder und dem unsäglichen Scharping zusammen im Bundesausschuß der Jungsozialisten. Ich war Jugendsekretär der SPD Südbayern, Bezirkssekretär der Jusos, Chef des Stamokap in Südbayern, hatte aber mit dem Stamokap im Norden in Hamburg oder Berlin wenig zu tun. Ich war mehr ein freischwebender Stamokap, beeinflußt durch DDR-Ökonomen und Paul Boccara (PCF). Ich hatte damals für "Juso 11" eine Schulungsbroschüre dazu gemacht.

SB: Aber Sie hatten die gleiche Ausgangsposition und hätten vielleicht eine dementsprechende Karriere machen können?

GH: Ich saß im Pool. Das war die zweite große Chance für mich zu einer Karriere, die ich ausgeschlagen habe. Man kennt meinen Namen heute noch in München. Ich habe damals eine kleine Broschüre gemacht, die ich heute verleugnen würde (lacht), aber die immer noch für die Jusos nachgedruckt wurde: zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Nach 1919 ist die Geschichte der KP dann sehr knapp. Für mich war damals die Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Kommunisten unheimlich zentral, die chilenischen Erfahrungen.

Mein Bruder war Kommunist, der andere wurde auch Kommunist, ich war Student und Sozialist und strebte den Sozialismus auch an. In den Diskussionen mit meinen Brüdern habe ich mich mal dazu hinreißen lassen und gesagt, "wenn ich sehe, daß die den Sozialismus nicht wollen, daß es unmöglich ist, dann komme ich zu euch". Und irgendwann habe ich es auch eingesehen. Der unsägliche Scharping tanzte um das goldene Kalb, Schröder, Heidi Wieczorek-Zeul. Es hat mich angeekelt.

SB: Wie hat sich das bemerkbar gemacht? Haben Sie gesehen, daß diese jungen Genossen bürgerliche Allüren hatten, oder haben sie sich eher ideologisch abgegrenzt?

GH: Die bürgerlichen Allüren waren nicht das Problem. Nein, ich habe ja selber gesehen und bin heute noch der Meinung, es sollte möglichst allen gutgehen (lacht). Sterne-Hotels sollen nicht Reichen vorbehalten sein, sondern möglichst allen offenstehen, wie in der DDR als Kinderheim zum Beispiel. Eine Angleichung nach oben und nicht nach unten. Da habe ich heute kein schlechtes Gewissen, nein, das war es nicht, sondern ich habe die Rotiererei ums "goldene Kalb", die politische Karriere gesehen. Ich habe mitdiskutiert, wer sollte Vorsitzender werden und so und so. Ich hatte zwar nie eine große Stimme, aber ich habe es beobachtet. Und ich habe gesehen, zu welchen Kompromissen die alle bereit waren, ideologisch-politisch. Ich bin nicht im Prinzip gegen Kompromisse, es kommt darauf an, bis zu welcher Grenze man sie macht. Nicht die Grünen haben die Co-Leitung, die Co-Führung erfunden, sondern das waren wir Jusos. Ich habe damals als Erster in der Bundesrepublik zusammen mit Janis Sakalariou, Europaabgeordneter später, in München den Juso-Vorsitz innegehabt, partnerschaftlich, da gab es noch gar keine Grünen. Ich wußte, wir sitzen alle in dem Boot, wir machen Karriere. Wir waren die nächste Generation. Wofür ich vorgesehen war? In der Kommunalpolitik oder so etwas. Ich will aber nicht spekulieren.

Es war erst einmal ein langer Prozeß klarzuwerden, daß die Jusos nur der Schwanz sind, mit dem die SPD wedelt, und die SPD nicht ändern können. Im Gegenteil, der Marsch der außerparlamentarischen Opposition durch die Institutionen hatte zum Ziel, diese Institutionen zu ändern. Aber dieser Marsch änderte einen selbst, das habe ich an mir gesehen. Es ging mir so gut wie nie zuvor in meinem Leben. Ich hatte keine Existenzsorgen, ich hatte immer mehr Geld, als ich für meine bescheidenen Verhältnisse brauchte. Zum Beispiel hatte ich für ein Referat auf einem Wochenendseminar 250 Mark bekommen. Das in einer Zeit, als die Monatsmiete 200 Euro kostete. Bei einem Referat, Thema weiß ich nicht mehr, saß hinten ein Landtagsabgeordneter, und mir war völlig klar, daß er mich beobachten und einen Bericht über mich schreiben würde. Da habe ich gemerkt, daß ich nicht mehr so rede, wie ich denke. Das hat mich so erschreckt, daß ich gesagt habe, nein, bis hier und nicht weiter. Nein, wenn ich mich verändere, nur damit ich einen Pluspunkt mache, damit mich der da hinten empfiehlt, das war der Knackpunkt, an dem es endete.

SB: Worauf führen Sie zurück, daß es im Unterschied zu anderen arbeitersozialisierten Sozialdemokraten, die den Sprung, wenn man es hart sagt, auf die Gegenseite gemacht haben, bei Ihnen anders war?

GH: Vielleicht habe ich diesem System nicht den frühen Tod meiner Mutter verziehen. Vermute ich mal. Wir drei Brüder waren davon unheimlich betroffen und sind es bis heute noch. Jetzt bin ich 70. Vielleicht war es das, vielleicht war es aber auch die proletarische Herkunft und nicht die kleinbürgerliche, weil das meist Kleinbürger waren. Ich führe das auf meine proletarische Herkunft zurück und vor allen Dingen darauf, daß ich in einer ständigen lebhaften Diskussion mit meinen Brüdern und anderen Genossen stand. Mein Vater ließ mich zweimal in die Kinderferien in die DDR, auf Rügen einmal und nach Thüringen, was die illegale KPD organisiert hatte. Außerdem war damals das Studieren der Klassiker eine große Hilfe, den roten Faden nicht aus den Augen zu verlieren. Hätte ich bei den sozialdemokratischen Genossen so weitergemacht, wäre ich abgeschwommen wie die anderen auch. Ich wehrte mich gegen den Vorwurf meiner Juso-Freunde, unsolidarisch zu sein. Solidarisch mit wem?

Da habe ich gesehen, das es nicht mehr geht. Aber es hat noch relativ lang gedauert, bis ich mich entschieden habe. Mein Einfluß wurde Stück für Stück eingegrenzt. Peter Glotz hat mich auch aus der Bildungsarbeit beim Bayer-Seminar für Politik rausgedrängt, selbst keine Seminarleitung mehr. Begründung war, ich sollte das Staatsexamen machen und bekam als Ausgleich das Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung. Der spätere Landesvorsitzende der ÖTV in Bayern, Mitherausgeber der Zeitschrift "Sozialismus" Michael Wendl, mit dem ich bei den "Juso 11" aktiv war, schrieb mir in sein erstes Buch eine Widmung als sein "erster marxistischer Lehrer". Der Unvereinbarkeitsbeschluß des SPD-Parteivorstands, mit Kommunisten zusammenzuarbeiten, war dann das endgültige Ende. Gegen mich und ein paar andere Genossen wurden Parteiordnungsverfahren eröffnet.

Ja, so entfernte ich mich immer mehr von der SPD, und dann habe ich gesagt, okay, ich bleibe nicht mehr Bezirkssekretär und nehme das Stipendium, denn ich muß jetzt mein Examen machen. Das passierte alles in einem Jahr, und das Jahr war sehr schwer. Das war die schwerste Entscheidung meines Lebens. Es hat mich ja niemand gezwungen, und was mich erwartete, war mir klar. Berufsverbot haben die Genossen gekriegt, die schon Kommunisten waren. Ich war ja kein Kommunist, ich bin auch kein Kommunist geworden mit dem Übertritt, sondern Kommunist wird man in den Kämpfen, die dann kommen. Aber erst einmal hatte ich einen sehr harten ideologischen und charakterlichen Kampf mit mir selbst auszufechten. Es gibt ja keinen schlimmeren Kritiker als einen selber. Mit so etwas wie einem schlechten Gewissen zu leben, das ist Wahnsinn.

Die Umstände waren die: Ich war verheiratet mit einer Griechin, die sich scheiden lassen wollte. Meine Tochter war körperbehindert, sie konnte nicht laufen, ich war dann viel zu Hause und habe sie herumgetragen, später trug sie eine Schiene. Jedenfalls hatte ich ein körperbehindertes Kind und keinen Job. Meinen Beamtenberuf, den ich vorher aufgegeben hatte, kriege ich nie wieder. Wenn ich Berufsverbot kriege, bin ich bei beiden Karrieren draußen. Denn ich brauchte ja noch das Referendariat und das zweite Staatsexamen danach, um am Gymnasium arbeiten zu können.

Ich war in diesem inneren Dilemma psychisch ziemlich down. Jedenfalls habe ich mich vor dem Examen entschieden und bin aus der SPD ausgetreten. Ich habe dann auch noch im Examen aus Trotz in meinem Spezialgebiet mittelalterliche Sozialgeschichte Lenin und Marx in meiner Klausurarbeit zitiert. Mich hatte kein Schwein gezwungen, im Gegenteil. Ich habe die ganzen Jahre vorher brav nie Marx zitiert. In meiner Staatsarbeit habe ich Max Weber kaputtgemacht mit Hegel und Marx, ohne Marx zu zitieren. Ich habe brav die Hegel-Stellen gesucht und das andere als eigene Positionen ausgegeben (lacht). Dafür gab es eine Fünf, und warum? Ich habe es hinterher mit meinem Professor beredet, und der hat mir von einer Klage gegen den rechtslastigen Korrektor aus Würzburg abgeraten Jedenfalls wäre ich beinahe durchs Examen gerauscht. Ich habe die Fünf in Mittelalterliche Geschichte mit einer Eins im Mündlichen ausgeglichen, indem ich über den Marienkult in der frühbürgerlichen Revolution in den Bauernkriegen erzählte - ein Aufsatz aus der DDR war da hilfreich (lacht). Dann hatte ich es begriffen. Ich wollte das Examen haben, um Gotteswillen, wenn ich so lange drauf hingearbeitet hatte.

Die Bild-Zeitung titelte "Kommunistisches U-Boot aufgetaucht", als ich mit zwei anderen Genossen in München von der SPD in die DKP übergetreten waren. Diesen Artikel präsentierte mir der Regierungsrat bei der Anhörung im Kultusministerium mit der Frage, ob denn ich Mitglied der DKP sei. Ich verweigerte die Antwort und bestritt die Rechtmäßigkeit seiner Frage, bezog mich auf das Grundgesetz und fragte ihn im Gegenzug, was denn seine Behörde in den drei dicken vor ihm liegenden Aktenstößen über mich gesammelt habe. Ein weiteres jämmerliches Schauspiel wurde mir geboten: Ich wurde auch noch zur Vereidigung eingeladen - eine bizarre Runde, der Studiendirektor tat so als sei alles wie immer - leider könne er mir die Urkunde zur Ernennung als Studienreferendar nicht aushändigen, sei wohl vergessen worden. Mein Rechtsanwalt Schmitt-Lermann riet mir, von einer Klage abzusehen - keine Chance. In der Münchner Stadtzeitung der DKP begründete ich meinen Schritt: "Ich habe mich befreit". Befreit von "der Illusion, die SPD vertrete eine Politik im Interesse der Arbeitnehmer" und von der Illusion der Jusos - "selbst in fruchtlosem Theoriestreit, in antikommunistischen Tabus befangen" -, die SPD in eine sozialistische Richtung drängen zu können. Und ich engagierte mich in der DKP-Mieterberatung. Ich sollte herumreisen und erklären, warum ich in die DKP eingetreten bin. Psychisch so kaputt habe ich es nur einmal gemacht. Um meinen Streß zu beschreiben: Das Fernsehen der DDR war da, aber ich hatte Angst, daß meine Frau das sehen könnte und sich dann wirklich scheiden lassen würde. Total irrational, wo hätte sie denn DDR-Fernsehen sehen sollen?

Das erste, was mich etwas aufgerichtet hatte, war die Solidarität der Genossen: ein Job im Damnitz-Verlag. Oskar und Liesl Neumann haben sich ein bißchen um mich gekümmert. Oskar Neumann war der Herausgeber der der Literaturzeitschrift Kürbiskern und der Reihe Die kleine Arbeiterbibliothek, große Kultur. Die haben mir einen Job gegeben, wo ich Bücher verpacken konnte, Interviews abschreiben, einfach nur raus von zu Hause und was zu tun. Und dann habe ich bei den Volkshochschulen Arbeit gesucht. Ich habe einfach Marktlücken gesucht. Welche Volkshochschule hatte keine Deutschkurse? Dort habe ich Kurse angeboten wie "Bayrisch für Preußen" oder zu Oskar Maria Graf. Dann hat mir eine SPD-Genossin einen Kurs an der Pädagogischen Hochschule München gegeben. Ich habe den Job gekriegt, aber sie wurde kurz darauf versetzt.

Damals habe ich auch Science-Fiction-Seminare am Kommunalen Kino veranstaltet. Wir schauen uns einen Science-Fiction-Film an wie "Solaris" von Stanislav Lem, was damals ganz neu war, und ich habe mit dem Publikum darüber diskutiert. Kleinvieh macht auch Mist, und ich mußte ja leben. Außerdem habe ich Ausstellungen über Kinderliteratur gemacht. Ich hatte die Verlage angeschrieben, die mir dann jahrelang Kinderliteratur geschickt haben - meine beiden großen Töchter haben noch halbe Bibliotheken davon -, und in den Ausstellungen Videos zum Thema gezeigt. Nach einer Einführung wurde dann diskutiert, wenn man wollte, den ganzen Tag lang. Das habe ich ein paarmal gemacht, das gab auch ein paar Mark.

Dann habe ich bei den Carl-Duisberg-Centren angefangen, Deutschkurse nebenher zu geben, und dann über den Genossen Peter Knoch, der am Institut für Städtebau und Wohnungswesen an der Technischen Universität arbeitete, dort die Stelle als Verwaltungs-Assistent bekommen. Sie brauchten jemand, der die Abrechnungen der Fördergelder macht. Ich war als Inspektor dafür qualifiziert und hatte einen wunderbaren Halbtagsjob, von dem ich leben konnte.

Dann versuchte ich die Promotion - wer nichts wird, der promoviert. Mein Doktorvater, Professor Bosl, bei dem ich die Examensarbeitarbeit "Zur Relevanz Max Webers für die Geschichtswissenschaft" eingereicht hatte, hatte mir damals gesagt: "Das gefällt mir gar nicht, was Sie geschrieben haben, aber wie Sie es geschrieben haben, ist exzellent". Das war einer der sehr konservativen Professoren, aber er war wissenschaftlich-methodisch sauber. Er hat mich als letzten aufgenommen in sein Doktoranden-Kolloquium, nur ist er nach einem halben Jahr für zwei Jahre nach Japan gegangen. Jedenfalls war es dann sehr schwierig, erstens wieder reinzukommen und zweitens hatte ich auch keine Lust mehr. Und drittens natürlich das Geldverdienen. Ich hatte damals einen Aufsatz geschrieben zur Revolution 1917 in Pasing. Ich saß lange im Stadtarchiv München und wertete die Originalquellen aus - den müßte ich eigentlich zum Revolutionsjahr wiederveröffentlichen. Pasing war damals eine eigene Stadt neben München. Das hat mir mehr Spaß gemacht als dieser Max Weber (lacht).

Ich hatte bei den Carl-Duisberg-Centren in München im Deutschkurs als Krankheitsvertretung ausgeholfen - ich kannte den Fachleiter noch von den Jusos. Jedenfalls habe ich 1980 einen Job als stellvertretender Leiter des Carl-Duisberg-Centrums in Dortmund angeboten bekommen. Ich konnte mir den Job aussuchen, ob Dozent in Köln oder stellvertretender Leiter dieses Zentrums. Ich habe mich gefragt: Wo ist die Zentrale, in Köln, gut möglichst weit weg, und der bessere Job ist es auch, also nach Dortmund. Ich war die einzige personelle Fehlentscheidung vom Big Boß, wie er mir bei seiner Verabschiedung mit dem Champagner in der Hand gestand: "Ich wünsche Ihnen alles Gute, Sie sind meine einzige personelle Fehlentscheidung." Trotzdem haben wir dann einen getrunken. Ich kam aus München, er hatte in München studiert, er kannte auch den Professor Bosl.

Ich habe natürlich nicht in meinem Lebenslauf geschrieben, daß ich in die DKP gegangen bin. Daß ich Berufsverbot gekriegt hatte, stand auch nicht darin. Das habe ich verschwiegen. Eine Anfrage beim Verfassungsschutz war jedenfalls nicht erfolgt, aber ein Gutachten bei einem Graphologen. Jedenfalls hatte ich diesen Job und es war eine phantastische Zeit. Das Carl-Duisberg-Centrum in Dortmund ist mittlerweile geschlossen.

Ich weiß heute nicht, wie ich das alles geschafft habe. Die Arbeit, die Politik und das Familienleben mit zwei Töchtern. Ich habe ein Lehrbuch geschrieben in Fachdeutsch im Telekom-Bereich für die ausländischen Studenten, die vor allen Dingen aus China kamen. Nebenbei habe ich Chinesisch gelernt, weil ich gerne nach China gehen wollte. Drei Jahre habe ich das an der Uni in Bochum studiert. Ein Juso-Freund aus München, dessen Antrittsvorlesung hier in Saarbrücken ich besuchen konnte (lacht), riet mir, in Bochum den Doktor in Didaktik zu machen, ich hätte doch mit dem Lehrbuch schon alles beieinander. Also habe ich auch daran gearbeitet.

Ich wohnte in Schwerte und habe dort eine neue Parteigruppe aufgebaut. Die Schwerter Friedens-Initiative wurde gegründet, ich initiierte eine Frauen-Gruppe, wurde allerdings umgehend ausgeladen. Die jungen schlossen sich zu einer SDAJ-Gruppe zusammen. Genossen sangen in einem Chor, andere machten mit der Schwerter "Schweine-Combo" eine Tournee in Afrika mit "Freiheit für Nelson Mandela". Dazu habe ich fast jeden Samstag die UZ verkauft. Als ich 1990 weggegangen bin, waren wir über 20 Mitglieder, das war eine heiße Zeit.

Ich hatte dann 1986 die Rosa-Luxemburg-Gesellschaft Kreis Unna-Hamm-Soest e.V. als gemeinnützigen Verein gegründet und fürs Wintersemester 1987/1988 ein Bildungsprogramm aufgelegt. Dazu habe ich in allen Parteigruppen eine Moderation zur Bildungsarbeit gemacht. Auf Karten schrieben die Genossinnen und Genossen, was sie gerne machen würden, theoretisch und praktisch, z.B. Arbeiterlieder zusammen singen, Marx lesen. In der gemeinsamen Auswertung der Vorschläge waren interessierte Genossinnen und Genossen motiviert, mit Freunden im kleinen Kreis was zu machen. Termine und Ort waren schnell gefunden, das Programm gedruckt. Die Referenten spendeten ihr Honorar und bekamen, wer wollte, eine steuerabzugsfähige Bescheinigung. Anfang der 90er Jahre machte das Amtsgericht Unna meine französische Anschrift ausfindig und holte meine Zustimmung ein, den Verein aus dem Vereinsregister zu löschen. Offensichtlich stand er einer deutschlandweiten Registrierung der von der Linkspartei ins Leben gerufenen Rosa-Luxemburg-Stiftung im Weg. Leider kam ein Folgeprogramm für die Rosa-Luxemburg Gesellschaft nicht mehr zustande, weil mein Leben in Turbulenzen kam.

Meine Frau hatte das alles lange toleriert. Als ich einen festen Job hatte, haben wir ein zweites Kind gekriegt, eine Chance für einen Neuanfang. Sie hatte einen Studenten geheiratet, der auf dem Karriereschlitten saß. Dann aber mit dem Berufsverbot das Aus. Nunmehr stellvertretender Leiter von einem Fortbildungszentrum, immerhin kein schlechter Job. Aber das Familienleben kam durch die Parteiarbeit zu kurz, was meine Frau 1988 zur Trennung veranlaßte. Als junge Griechin vom Land gekommen, hatte sie sich emanzipiert (auch von mir) und selbständig gemacht.

Ich war im Gesamtbetriebsrat der Carl-Duisberg-Centren, im Wirtschaftsausschuß und andererseits im Leitungsgremium dazu. Die Geschäftsführung war gestresst, weil sie immer darauf achten mußte, nichts gegen die Gewerkschaften und den Betriebsrat zu sagen, dann wäre ich in die Parade gefahren. Ich war damals ziemlich rotzfrech.

Ich war in Dortmund stellvertretender Leiter des Centrums und Betriebsrat. Nach sechs oder sieben Jahren hatten die Kolleginnen beschlossen, nein, das ginge nicht, er trägt mit beiden Funktionen auf zwei Schultern, der ist als Personalrat untragbar, auch wenn mir nichts vorzuwerfen war. Wir kandidieren gegen ihn. Ich wußte, damit war ich zum Abschuß freigegeben. Aber sie haben gesagt, egal, ist dein Problem. Die haben mich dann abgewählt und Frauen als Betriebsrat gewählt, und ich habe danach sofort die erste Abmahnung gekriegt. Eine Kollegin war gestorben, und ich brauchte jemanden in der Küche, die sonst zusammengebrochen wäre. Also habe ich sofort jemanden übers Arbeitsamt eingestellt, und aus dem Abmahnungsbescheid ging hervor, daß ich den Betriebsrat übergangen hätte.

Das war ein Witz. Mir als Betriebsrat zu sagen, die Stellungnahme nicht eingeholt zu haben. Es war ja Not am Mann gewesen, von daher war das juristisch klar, daß man das offiziell nachholen konnte. Aber egal, die Abmahnung war da, das Zeichen war klar. Aber beim nächsten Besuch, als Big Boß kam: "Kommen Sie bitte rein, ich muß mit Ihnen reden". Er hat schon gewußt warum. "Hier ist meine Hand, schlagen Sie ein. Sie haben einen loyalen stellvertretenden Leiter, ich bin kein Betriebsrat mehr, schlagen Sie ein und wir vergessen die Abmahnung". Er hat total überrascht meine Hand genommen und nahm die Abmahnung zurück. Gut, damit war Waffenstillstand geschlossen. Das war glaube ich 1988.

Ich war dann wohl untragbar geworden für die Sponsoren, der Konzern Bayer und die Landesregierung NRW. Ich habe auch an mehreren Führungsseminaren bei Bayer teilgenommen. Präsentationstechniken und Moderatorentrainings und viel dabei gelernt. Natürlich suchen die ihren Nachwuchs, aber ich kam nicht in Frage. An eine Episode erinnere ich mich noch: das berühmte Argumentations-Spiel "Büro einrichten" - wer gewinnt, kriegt das bessere Büro. Zwar hatte ich gewonnen, das bessere Büro, aber habe gesagt: "Komm, wir ziehen zusammen". Und das war für den Psychologen natürlich der Casus belli (lacht). Jedenfalls sagte der Geschäftsführer 1989: "Entweder Sie gehen, oder ich schmeiß' Sie". Andere haben gemeint, das hätte der nie gemacht, für mich war es klar, wenn mich jemand schmeißen will, kann er. Kannst du nie was gegen machen. Jedenfalls sollte ich mit meinem Kollegen in München tauschen, der dort unglücklich alkoholkrank wurde. Ich habe gesagt "Gut, aber wenn ich nach München gehe, will ich 1000 Mark mehr. Das Wohnen ist zu teuer". "Nein, mache ich nicht." "Ja gut, was haben wir sonst?" "Saarbrücken." Also bin ich am 1.1.1990 nach Saarbrücken.

Ich muß dazu sagen, meine Frau hatte sich vorher von mir getrennt, sich meinem besten Freund, der auch ein Nachbar war, zugewandt. Dadurch ging auch die Nachbarschaft kaputt. Wir hatten jeden Monat eine Nachbarschaftsfete, bei vier, fünf Nachbarn gibt es mindestens jeden Monat einen Geburtstag. Ich habe es einmal erlebt, der saß ganz allein in der Ecke, und mich haben sie bedauert. Und meine große Tochter war 18, hatte gerade Abitur gemacht, ich wußte, sie will studieren. Sie hat gesagt, "Papa, ich gehe nach Marburg, da bin ich genau in der Mitte, du in Saarbrücken, Mama hier". Und die kleine Tochter blieb bei der Mutter. Ich hatte keine Chance damals. Ich hatte danach ein paar wilde Affären, aber dann bin ich nach Saarbrücken gegangen.

(wird fortgesetzt)

2. Mai 2017


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