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DILJA/247: Passend gemacht ... (SB)


Kriegsjuristische Weichenstellungen?


In der Nachkriegszeit war die Forderung, von deutschem Boden solle nie wieder Krieg ausgehen, allgegenwärtig. Die Spuren dieser weitverbreiteten Überzeugung fanden bekanntlich auch im Grundgesetz ihren Niederschlag. In Art. 26 Abs. 1 werden "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskriegs vorzubereiten" als verfassungswidrig bezeichnet, sie sind unter Strafe zu stellen. So geschehen in § 80 des Strafgesetzbuchs, der bis zum 1. Januar 2017, dem Tag seiner Außerkraftsetzung, folgenden Wortlaut hatte: [1]

Vorbereitung eines Angriffskrieges
Wer einen Angriffskrieg (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, vorbereitet und dadurch die Gefahr eines Krieges für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.

Aus dieser vom 1. Januar 1975 bis zum 1. Januar 2017 gültigen Fassung geht unzweideutig hervor, daß durch diese Strafnorm die Beteiligung Deutschlands an einem Angriffskrieg ganz generell, also für jeden Beteiligten und bereits im frühesten Stadium seiner Vorbereitung, geahndet werden soll. Aus der bisherigen Kriegsgeschichte sind nun allerdings zahlreiche Beispiele bekannt, in denen ein Aggressor einen Angriff gegen sich vortäuschte, um den von ihm beabsichtigten Krieg als Abwehrmaßnahme darstellen zu können. Der bekannteste Fall ist wohl der von der SS simulierte Angriff auf den Sender Gleiwitz, um den Überfall auf Polen und damit den Zweiten Weltkrieg auszulösen. Kurz zuvor hatte Hitler vor Oberbefehlshabern der Wehrmacht den Weg in den Krieg folgendermaßen erklärt: "Die Auslösung des Konflikts wird durch eine geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht." [2]

Daß Sieger kraft ihrer nicht zuletzt auf Gewalt beruhenden Überlegenheit auch Recht setzen könnten, so wie es ihren Interessen entspricht, stellt eine mit demokratischen Rechtsstaatsprinzipien unvereinbare These dar. In einem demokratischen Rechtsstaat wird insbesondere das Verfassungsrecht gern als ein absolut gültiges Recht verstanden, was, träfe dies zu, auch für das Verbot des Angriffskrieges gelten müßte. Wie aber wäre dann zu erklären, daß von deutschem Boden doch wieder Krieg ausgehen konnte, um nur an das Beispiel des völkerrechtlich nicht legitimierten NATO-Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zu erinnern?

Die Antwort ist in ihrer scheinbaren Banalität so erschreckend wie entlarvend. Es war kein Angriffskrieg, zumindest nicht nach Ansicht derer, die ihn führten. Sogar das Gegenteil ist ihrer Meinung nach der Fall, wurde doch die sogenannte "Operation Allied Force", so die Bezeichnung der NATO für ihren vom 24. März bis 10. Juni 1999 gegen Jugoslawien geführten Luftkrieg, als humanitäre Intervention deklariert. Unbestreitbar ist, daß dieser Krieg weder durch ein UN-Mandat gedeckt noch als Bündnisfall der NATO ausgerufen wurde, was ihn - und diese Auffassung wird von Völkerrechtlern mehrheitlich vertreten - zu einem illegitimen Angriffskrieg hätte gemacht haben müssen. Hätte, wäre, wenn - diese Dinge müssen im Konjunktiv formuliert werden, weil nichts dergleichen tatsächlich eintrat. Die NATO konnte diesen Krieg führen ungeachtet seiner vielfach in Abrede gestellten Vereinbarkeit mit geltendem Völkerrecht.

In der Bundesrepublik Deutschland, die aus historischen Gründen mehr noch als jeder andere Staat dem Frieden verpflichtet zu sein stets vorgegeben hatte, wurde die "humanitäre Karte" voll ausgespielt. Rudolf Scharping in seiner Funktion als Bundesverteidigungsminister unterstrich gegenüber Öffentlichkeit und Medien den Begriff einer humanitären Katastrophe mit Massaker-Bildern. Joschka Fischer, damaliger Bundesaußenminister, hielt im Bundestag Brandreden, indem er das bundesdeutsche Nachkriegsgelübde "nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" auseinanderriß, um das eine mit dem anderen dem Schein nach zu legitimieren: "Wir haben immer gesagt: 'Nie wieder Krieg!' Aber wir haben auch immer gesagt: 'Nie wieder Auschwitz!'" [3]

Also Kriegführen, um ein zweites Auschwitz zu verhindern? Diese Position konnte durchgesetzt werden, doch keineswegs widerspruchslos. So versuchten Kritiker, mit legalistischen Mitteln dem bereits entfachten Bombenkrieg Einhalt zu gebieten. Gegen damalige Verantwortungsträger - Bundeskanzler Gerhard Schröder, Bundesaußenminister Joschka Fischer, Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping sowie nachgeordnete Beamte der Bundesregierung und der Bundeswehr - wurde Anzeige nach § 80 StGB erstattet, weil sie nach Ansicht des Anzeigeerstatters der Vorbereitung eines Angriffskriegs dringend verdächtig waren. In einem aus diesem Anlaß an die Bonner Kriminalpolizei gesandten und im Internet veröffentlichten Brief begründete der Anzeigeerstatter diesen Schritt u.a. folgendermaßen: "Strafgesetzbuch und Grundgesetz sehen keine Ausnahme vor, nach der ein Angriffskrieg etwa aus humanitären Gründen straffrei sein könnte. Daher sind die Gründe für den Angriffskrieg unerheblich." [4]

Ein Jahr, nachdem die NATO und insbesondere auch die Bundesluftwaffe am 24. März 1999 mit den Bombenangriffen gegen Jugoslawien begonnen hatten, veröffentlichte die Berliner Zeitung einen Beitrag, in dem brisante Fragen, die das sogenannte Massaker in Racak, einem Dorf im damals noch zu Serbien und Jugoslawien gehörenden Kosovo, betrafen. Am 15. Januar 1999 hätten serbische Sicherheitskräfte in dem von Albanern bewohnten Dorf zahlreiche unbewaffnete Zivilisten regelrecht hingerichtet, lautete der von Politikern der NATO-Staaten erhobene Vorwurf. Wie die Berliner Zeitung am 24. März 2000 berichtete, hätten ihr geheim gehaltene Dokumente vorgelegen, die an dieser Version der Ereignisse zweifeln ließen. Nach Darstellung der jugoslawischen Regierung habe es sich um eine Polizeiaktion gegen UCK-Kämpfer gehandelt. Die dabei Getöteten seien am Abend des 15. Januar von der UCK eingesammelt und dann als zivile Opfer präsentiert worden. [5]

Mit der Obduktion der Opfer wurde ein finnisches gerichtsmedizinisches Team unter Leitung von Dr. Helena Ranta beauftragt. Obwohl die Analysen noch nicht fertig gewesen seien, wurde Dr. Ranta den Angaben zufolge zu einer Pressekonferenz gedrängt. Ihre eher uneindeutigen Angaben, die sie als ihre persönliche Meinung verstanden wissen wollte, seien von westlichen Politikern als Bestätigung der von ihnen behaupteten Massenhinrichtung aufgefaßt worden. US-Präsident Bill Clinton habe beispielsweise davon gesprochen, daß "unschuldige Männer, Frauen und Kinder" aus ihren Häusern getrieben und anschließend niedergemäht worden seien. Eine Woche später habe der Krieg begonnen, die Berichte seien geheim geblieben. Doch dann, aus der Perspektive vom März 2000, hieß es in dem Zeitungsbericht: [5]

Jetzt konnte die "Berliner Zeitung" Kopien der Obduktionsunterlagen einsehen. Das Ergebnis: All diese Berichte enthalten keine Beweise für ein Hinrichtungsszenarium. Bei einem einzigen Opfer haben die finnischen Gerichtsmediziner und ihre jugoslawischen und belorussischen Kollegen Spuren entdeckt, die auf einen Schuss aus "relativer Nähe" hindeuten könnten. In den anderen Fällen war das Ergebnis negativ.

Die Zweifel sind bis heute geblieben. Es kann gemutmaßt werden, daß der - damals noch bestehende - § 80 StGB, auf dessen Grundlage Versuche unternommen wurden, kriegführende Politiker strafrechtlich zu belangen, diesen ein Dorn im Auge war. Ihn abzuschaffen verbot sich, stellte er doch die Umsetzung des in Art. 26 GG niedergelegten Gebots dar, den für verfassungswidrig erklärten Angriffskrieg auch unter Strafe zu stellen.

Ein gangbarer Ausweg aus diesem Dilemma könnte sich 2010 im Zusammenhang mit der Überprüfungskonferenz der Vertragsstaaten des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs in Kampala ergeben haben. Erstmals hatten sich die beteiligten Staaten hier auf eine Definition des Tatbestands der Aggression einigen können, was der Bundesgerichtshof als einen "historischen Durchbruch" bewertete. [6] Als einer der ersten Vertragsstaaten ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland die in Kampala beschlossenen Änderungen, was in der Folge zur Abschaffung des bisherigen § 80 StGB und der Neueinführung von § 13 VStGB am 1. Januar 2017 führte.

Beim Vergleich der beiden Vorschriften fällt ins Auge, daß es möglicherweise doch gravierende Unterschiede zwischen ihnen geben könnte. Dem abgeschafften § 80 StGB zufolge sollte bestraft werden, wer "einen Angriffskrieg (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, vorbereitet." Der mögliche Anwendungsbereich dieser Vorschrift beträfe also Bestrebungen, von Deutschland aus oder mit deutscher Beteiligung gegen andere Staaten einen (verfassungswidrigen) Angriffskrieg zu führen.

Im neuen § 13 Abs. 1 VStGB heißt es, daß mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden soll, "wer einen Angriffskrieg führt oder eine sonstige Angriffshandlung begeht, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt." Dies hätte vielleicht als Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Norm aufgefaßt werden können, wenn nicht mit dem kleinen Wörtchen "offenkundig" eine gezielte Unbestimmtheit in diese Strafvorschrift implementiert worden wäre. Welcher Krieg, welche völkerrechtliche Aggression könnte dieses Kriterium erfüllen, zumal sich doch gerade in militärischen Auseinandersetzungen die Konfliktparteien mit ihren jeweils bevorzugten Wahrheiten unversöhnlich gegenüberstehen?

Und wer verfügt, so wäre desweiteren zu klären, über die Definitionshoheit beispielsweise bei der Frage, ob der Krieg gegen Jugoslawien eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen gewesen ist? Gründe genug, dies so zu sehen, mag es geben, doch scheint die Durchsetzung dieser Auffassung oder eben einer anderen nicht minder an Macht- und Gewaltverhältnisse gebunden zu sein wie die Fähigkeit, die eigenen Kriegsabsichten und -handlungen in ihr Gegenteil schönzureden mit der Behauptung, es handele sich um die Erfüllung humanitärer Verpflichtungen.

Die Aufregung, die kurz nach dem 1. Januar 2017 vor allem in den sozialen Medien aufgekommen war wegen der Mutmaßung, mit der Abschaffung des § 80 StGB sollten fürderhin Angriffskriege aus der Strafbarkeit entlassen und damit ermöglicht werden, hat sich schnell wieder gelegt, ließ sich doch in aller Kürze darüber aufklären, daß eine neue Strafbarkeitsnorm für derartige Verbrechen geschaffen wurde. Deren Modalitäten allerdings lassen befürchten, daß das deutsche Strafrecht unter Wahrung des verfassungsrechtlich gebotenen Scheins mehr noch als bisher kriegführungstauglich gemacht werden soll.


Fußnoten:

[1] http://lexetius.com/StGB/80,2

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Überfall_auf_den_Sender_Gleiwitz

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Allied_Force

[4] https://groups.google.com/forum/#!msg/maus.recht/ZLFIkoUeKr8/W-jCXx0Jq9kJ

[5] http://www.berliner-zeitung.de/im-januar-1999-starben-in-racak-ueber-40-albanergeheime-berichte-widersprechen-der-these-von-einer-gezielten-hinrichtung-vor-einem-jahr-begannen-die-luftschlaege-gegen-serbien--mit-denen-die-nato-das-morden-im-kosovo-beenden-wollte--ein-schluesselereignis-auf-dem-weg-in-den-krieg-war-das-massaker-im-dorf-racak--aber-was-geschah-dort-wirklichich-spuerte--da-stimmte-etwas-nicht--16146578

[6] http://www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP18/V/Voelkerstgb.html?nn=639344

10. Februar 2017


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