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DILJA/238: Entschädigung für Magnus Gäfgen - Folterverbot wird mehr und mehr aufgeweicht (SB)


Der Fall Gäfgen trägt zur Aufweichung des Folterverbots bei

Frankfurter Landgericht gesteht dem Straftäter eine Entschädigung zu


Es gibt wohl kaum ein Verbrechen, das in allen Kulturen der menschlichen Gesellschaft sowie in allen Epochen ihrer geschichtlichen Entwicklung so einhellig verurteilt und mit schwersten Strafen geahndet wurde und wird wie die Ermordung eines Kindes. Vielfach verbürgt sind Schilderungen, denen zufolge Kindsmörder in den Gefängnissen nicht nur mit der Ablehnung der übrigen Strafgefangenen leben müssen, sondern von diesen nicht selten auf den sich ihnen bietenden Wegen und sehr wohl mit körperlicher Gewalt ein weiteres Mal "bestraft" werden. Unter "Knackis" soll es, mag dies für Außenstehende auch schwer nachprüfbar sein, eine Art Ehrenkodex geben, demzufolge die begangene Straftat im allgemeinen nicht der Erwähnung für wert befunden wird - mit einer einzigen Ausnahme: Wer ein Kind getötet hat, kann nicht auf die geringste Akzeptanz seiner Mithäftlinge hoffen.

Die öffentliche und mediale Empörung über die am 4. August vom Landgericht Frankfurt getroffene Entscheidung, dem wegen der Ermordung des Bankierssohns Jakob Metzler verurteilten Magnus Gäfgen eine Entschädigung in Höhe von 3.000 Euro zuzugestehen, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Der zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte Gäfgen hatte in diesem Zivilprozeß gegen das Land Hessen eine noch höhere Summe, nämlich 10.000 Euro, herausklagen wollen. Die von ihm gestellten Forderungen nach Schadensersatz bzw. Schmerzensgeld wurden von dem Gericht abgelehnt. Die besagte Entschädigung wurde ihm mit der Begründung zuerkannt, daß die ihm von der Polizei zugefügte Folterandrohung eine schwere Verletzung der Menschenwürde sei, "die nicht auf andere Weise befriedigend ausgeglichen werden kann" [1], so der Vorsitzende Richter Christoph Hefter.

Mit Unverständnis und Wut wurde diese Entscheidung im Gerichtssaal wie in der Öffentlichkeit kommentiert. Magnus Gäfgen, der sein Jurastudium in der Haft zum Abschluß bringen konnte, hat bereits durch seine Tat jegliche Sympathie verloren. Der von ihm beantragte Schadensersatz für die ihm während der Entführung zugefügte Folterung - die Androhung von Folter stellt ihrerseits bereits eine Folter dar - wird seine gesellschaftliche Ablehnung, so dies überhaupt noch möglich ist, noch weiter gesteigert haben. Diese Ablehnung verwischt sich zu einer Art Volkszorn, der seinerseits eine gefährliche Gemengelage bildet, da dies der Stoff ist, mit dem polizeistaatliche Methoden begründet und, befeuert durch die ihnen entgegengebrachte gesellschaftliche Akzeptanz, mittel- bis langfristig bis zur Schwelle von Folter und sogar bis zur Todesstrafe gesteigert werden könnten.

Die Richter des Frankfurter Landgerichts hatten, juristisch gesehen, keine andere Wahl, als die Folterandrohung als rechtswidrig zu bewerten. In seiner 45minütigen Begründung führte Richter Hefter dazu aus: "Das Verbot der Folter gilt absolut und duldet keine Ausnahme." Seine Begründungen nahmen den Charakter einer Rechtfertigung an und wirkten wie aus einem Lehrbuch über Verfassungsrecht zitiert: "Das Recht auf Achtung seiner Würde kann auch dem Straftäter nicht abgesprochen werden, mag er sich auch in noch so schwerer und unerträglicher Weise gegen die Werteordnung der Verfassung vergangen haben." [1] Hefter nannte das Verhalten der Polizeibeamten "rechtswidrig und verwerflich" und erinnerte daran, daß Gäfgen die Schmerzen nicht nur angedroht worden seien, sondern daß "auch die Durchführung einer entsprechenden Behandlung vorbereitet worden" sei.

Folter in Deutschland? Angesichts des Zorns und der Empörung, die der wegen Kindesmord verurteilte Gäfgen auf sich zieht, mutet es zynisch, gleichgültig oder schlicht reaktionär an, auf das strikte Verbot der Folter zu pochen. Der damalige Vorfall stellt einen Meilenstein in einer Entwicklung dar, die - losgelöst von diesem Entführungs- und Mordfall - auf eine Aufweichung und letzten Endes Aufhebung des Folterverbots abzuzielen scheint. Wie von den USA bereits vorexerziert, macht sich auch in der Bundesrepublik Deutschland ein Denken, aber auch Fühlen breit, dessen Stoßrichtung auf die Aufhebung des Rechtsstaates und damit auch der Schutzansprüche aller Menschen vor Übergriffen der Träger staatlicher Gewalt abzielt. Ein Mensch wie Magnus Gäfgen eignet sich hervorragend, um das gesellschaftlich vorherrschende Empfinden in dieser Hinsicht zu beackern. Warum soll nicht, so würde in logischer Konsequenz dessen die nächste Frage lauten, ein Kindesentführer solange gequält werden, bis er den Aufenthaltsort seines Opfers preisgibt?

Ja, warum nicht? In erstaunlicher Geschwindigkeit scheinen die Grundwerte des demokratischen Rechtsstaates auf der Müllhalde der (Verfassungs-) Geschichte zu landen ganz so, als habe es nie die in diesem Zusammenhang so gern herangezogenen Schrecken des NS-Staates gegeben. Wenn auch nur ein einziger Fall, in dem unter bestimmten Voraussetzungen das Folterverbot offiziell außer Kraft gesetzt werden darf, auf dem Rechtswege geschaffen und konstruiert werden würde, wäre der Rückfall in die NS-Zeit vorprogrammiert. Durch ein solches Nadelöhr, ganz egal, wie klein es sein mag, würde jeder Mensch gezogen werden können, den Ermittlungs- oder Gefängnisbeamte für folterwürdig erachten. Der Fall Magnus Gäfgen würde deshalb, gerade weil dieser Straftäter die Aufweichung des Folterverbots fast provozieren zu wollen scheint, Anlaß bieten, um diesen Tendenzen entgegenzutreten.

Der Nährboden für totalitäre Systeme, wie es sie in Deutschland "nie wieder" geben sollte, ist längst vorhanden, und tritt nun, angesichts des entfachten Volkszorns, umso deutlicher in Erscheinung - etwa in Zeitungskommentaren wie dem folgenden, in denen ganz unverhohlen Folter akzeptiert wird [2]:

Gäfgen hat ein Kind grausam ermordet. Wer so etwas tut, hat das Recht verwirkt, sich in irgendeiner Form als Leidender darzustellen. Schon gar nicht im Zusammenhang mit einem Vorfall, der sich vor seiner Verurteilung und Strafverbüßung ereignet hat. Um so absurder kommt die Begründung des Urteils daher. Selbst wenn die Folterknechte schon unterwegs waren, und selbst wenn es zu Folter oder der Verabreichung eines Wahrheitsserums gekommen wäre: Magnus Gäfgen ist kein Opfer fragwürdiger Polizeimethoden.


Anmerkungen

[1] Wirbel um Entschädigung. Polizei hatte Kindsmörder Magnus Gäfgen im Verhör mit Folter gedroht. Dithmarscher Landeszeitung, 5.8.2011, S. 1

[2] Urteil im Fall Gäfgen. Bis zur Lächerlichkeit. Von Gerhard Wagner, Dithmarscher Landeszeitung, 5.8.2011, S. 2

5. August 2011