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DILJA/225: Strasbourger Moral - Rechtswidriges Öcalan-Urteil bleibt bestehen (SB)


Gegen den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan wird nicht neu verhandelt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte läßt ein für rechtswidrig erklärtes Verfahren samt Urteil bestehen


Wäre die richterliche Urteilsfindung, wie stets suggeriert wird, um mit der vermeintlichen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative den besonderen Schutz der Bürger vor staatlicher Willkür und Repression zu unterstreichen, tatsächlich so unabhängig, wie behauptet wird, dürfte es keine nach staatspolitischen Maßgaben und exekutiven Notwendigkeiten gefällten Gerichtsentscheidungen geben. Dies gilt nicht nur für die Gerichtsbarkeiten nationaler Staaten, sondern selbstverständlich auch für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg, der für die Bürger der europäischen Staaten einen letzten Hort der Hoffnung darstellt, so sie mit ihrem Bestreben, sich gegen Menschenrechtsverletzungen und illegitime Übergriffe staatlicher Organe im eigenen Land zur Wehr zu setzen, gescheitert sind und den nationalen Rechtsweg bis zu Ende beschritten haben, ohne mit ihren Klagen Erfolg zu haben.

Als im Mai 2005 der Strasbourger Gerichtshof einer von dem noch immer inhaftierten Vorsitzenden der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, gegen die Türkei eingereichten Menschenrechtsklage zumindest in Teilaspekten stattgab, dürften nicht wenige Kurden dies als einen Hoffnungsschimmer bewertet haben. In dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof war es keineswegs um die Frage gegangen, ob die höchste juristische Instanz Europas in Sachen Menschenrechte das gegen Öcalan 1999 vom Staatssicherheitsgerichtshof wegen Separatismus und Hochverrat ergangene Todesurteil aufheben könne. Die von Öcalans Anwälten in Strasbourg vorgebrachte Beschwerde zielte einzig darauf ab, ein neues Verfahren gegen den PKK-Vorsitzenden zu erwirken.

Zu diesem Zweck hatten Öcalans Anwälte Verstöße der Türkei gegen die Europäische Charta für Menschenrechte geltend gemacht und in ihrer Klage angeführt, daß ihr Mandant zwischen seiner Verschleppung am 16. Februar und dem 23. Februar 1999 von den türkischen Sicherheitskräften verhört worden war, ohne Kontakt zu seinen Anwälten aufnehmen zu können. Auch die weitere Inhaftierung sei, so war der Klage zu entnehmen, nicht "fair" gewesen, weil der Kontakt Öcalans zu Anwälten und Angehörigen stark eingeschränkt und gegen Öcalan eine Isolationshaft verhängt worden war. Selbstverständlich hatten Öcalans Anwälte in ihrer damaligen Klageschrift auch die Beteiligung des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA sowie des israelischen Mossad an der Entführung ihres Mandanten zum Gegenstand der Beschwerde gemacht.

In großen Teilen ließ der Europäische Gerichtshof die vorgebrachten Menschenrechtsverletzungen ungerügt. Weder Öcalans Entführung noch die gegen ihn angewandte Isolationshaft, deren Aufhebung seitens des Antifolterkomitees des Europarates (CPT) im Falle Öcalans wiederholt gefordert worden war, erschienen den Richtern der Großen Strafkammer des Menschenrechtsgerichtshof Grund genug für eine Verurteilung der Türkei. Gleichwohl ging Ankara nicht völlig straffrei aus, wobei von einer "Strafe" im konventionell-juristischen Sinne nicht im mindesten die Rede sein kann. In ihrer letztinstanzlichen Berufungsentscheidung haben die Strasbourger Richter gleichwohl festgestellt, daß das Strafverfahren gegen Öcalan unfair und somit rechtswidrig gewesen sei. Dieses Urteil stellte jedoch nicht viel mehr als eine Urteilsschelte gegenüber dem türkischen Staatssicherheitsgerichtshof dar, denn keineswegs wurde das gegen Öcalan verhängte Todesurteil, das 2002 in lebenslange Haft umgewandelt worden war, aufgehoben und ebensowenig wurde die Türkei dazu verurteilt, den gesamten Prozeß gegen Öcalan von vorne zu beginnen.

Begründet wurde die Strasbourger Entscheidung damit, daß in dem Verfahren ein Militärrichter anwesend gewesen ist. Der Regierung in Ankara wurde lediglich empfohlen, das Verfahren gegen Öcalan neu aufzurollen, was diese selbstverständlich von sich aus nicht tat. Öcalan selbst unternahm daraufhin einen abermaligen Versuch, sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Nachdem das Schwurgericht von Istanbul im Jahre 2006 eine Neuverhandlung mit dem Argument abgelehnt hatte, daß auch ohne Militärrichter gegen Öcalan dasselbe Urteil verhängt worden wäre, versuchte er, einen neuen Prozeß vor dem Strasbourger Gericht zu erstreiten; schließlich hatte dieser das gegen ihn geführte Verfahren als rechtswidrig bezeichnet.

Im Februar 2007 hatte bereits das mit der Überwachung der Strasbourger Urteile befaßte Ministerkomitee des Europarats die Entscheidung der Türkei, Öcalan kein neues Verfahren zu gewähren, akzeptiert. Nun schloß sich diesem Votum auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an. Wie ein Gerichtssprecher am 16. Juli bekanntgab, hätten die sieben mit Öcalans Beschwerde befaßten Richter diese für nicht zulässig erklärt. Im juristischen Prozedere bedeutet dies, daß sie von vornherein abgelehnt und gar nicht erst einer genaueren inhaltlichen Prüfung unterzogen wird. Der Gerichtshof lehnt es somit ab, sich mit ihr näher zu befassen. Damit erweisen die Strasbourger Richter der Reputation ihres eigenen Gerichtshofes einen Bärendienst, denn wie relevant können die Entscheidungen eines solchen Gremiums schon noch sein in den Augen vieler EU-Bürger, wenn seinen Richtern die Umsetzung ihrer eigenen Entscheidungen so wenig wert ist?

In der gegenwärtigen Situation kann zudem geargwöhnt werden, daß politische Überlegungen in diese Entscheidung mit eingeflossen sein könnten. Da die PKK in Reaktion auf die militärischen Angriffe der türkischen Armee sowie die nach und nach erfolgten Verbote sämtlicher kurdischer Parteien, die auf ein demokratisches Zusammenleben von Türken und Kurden innerhalb der Türkischen Republik hinarbeiteten, am 1. Juni dieses Jahres ihre einseitig gebliebene Waffenstillstandserklärung aufgekündigt haben, ist es in den kurdischen Gebieten der Türkei, aber auch gegenüber bewaffneten kurdischen Einheiten im Irak und in Syrien, zu verstärkten militärischen Auseinandersetzungen mit deutlich mehr Todesopfern als in all den Jahren des von der PKK erklärten Waffenstillstandes zuvor gekommen.

Da Abdullah Öcalan auch angesichts der aktuellen Eskalation aus dem Gefängnis heraus auf einen abermaligen Waffenstillstand hinzuwirken versuchte und nach Angaben der Nachrichtenagentur Firat vom 2.7.2010 [1] einen "gegenseitigen Prozeß" des Gewaltverzichts als möglich bezeichnete, darf angenommen werden, daß er auch im Rahmen eines neuen Strafverfahrens zu dem nach wie vor völlig ungelösten Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bevölkerung Stellung genommen und einer Verhandlungslösung das Wort gesprochen hätte. Ob diese Annahme zutreffend ist oder nicht, wird sich weder bestätigen noch widerlegen lassen. Nach dem jetzigen Votum des höchsten europäischen Gerichts in Sachen Menschenrechte wird es, da dieses sich nicht einmal bereit fand, die Beschwerde Öcalans zur Entscheidung anzunehmen, zu keinem neuen Verfahren in der Türkei gegen Öcalan kommen.

[1] Türkische Luftwaffe greift Kurden an, junge Welt, 3.7.2010, S. 2

21. Juli 2010