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DILJA/218: Arbeitsrecht bleibt Arbeitsunrecht - "Emmelys" Kündigung aufgehoben (SB)


Das Bundesarbeitsgericht hebt die umstrittene Kündigung "Emmelys" auf

Am grundlegenden Verhältnis zwischen arbeitsabhängigen Menschen und dem Arbeits(un)recht einer entlarvten Klassenjustiz ändert dies nichts


Am 10. Juni 2010 schrieb das Bundesarbeitsgericht in Erfurt, wenn man denn so will, Rechtsgeschichte, indem es die fristlose und in zwei Vorinstanzen bestätigte Kündigung einer 52jährigen Kassiererin in einem Berliner Supermarkt aufhob. Barbara E., besser bekannt als "Emmely", die im Jahre 2008 wegen des gegen sie erhobenen Verdachts, sie habe zwei herrenlose Pfandbons im Wert von zusammen 1,30 Euro an sich genommen, ohne vorherige Abmahnung entlassen worden war, muß von ihrem früheren Arbeitgeber, der Kaiser's Tengelmann GmbH, wieder beschäftigt werden. Das Bundesarbeitsgericht begründete seine Entscheidung damit, daß zwar eine erhebliche Pflichtwidrigkeit vorgelegen habe, die allerdings eine fristlose Kündigung nach 31jähriger Betriebszugehörigkeit nicht rechtfertige. Da die Schädigung nur eine relative gewesen sei und es sich um keine Eigentumsdelikte gehandelt habe, hätte nach Ansicht der Bundesrichter eine Abmahnung genügt.

So sehr im Interesse der Betroffenen diese Entscheidung zu begrüßen und so sehr im übrigen nachzuvollziehen ist, daß in den Reihen ihrer Unterstützer, die sich in den zurückliegenden Jahren zu einer Solidaritätsbewegung zusammengefunden und eine nicht unerhebliche Öffentlichkeitsarbeit geleistet haben, die an diesem Urteilsspruch sicherlich ihren Anteil hatte, die Freude groß ist, darf doch nicht außer acht gelassen werden, daß dies der buchstäbliche Tropfen auf dem heißen Stein ist. "Emmely" ist keineswegs die einzige, die in der jüngeren Vergangenheit wegen nachgewiesener oder auch nur unterstellter angeblicher Verfehlungen, die so minimal sind, daß der Verdacht, hier wollten Arbeitgeber mit fingierten Bezichtigungen den Kündigungsschutz unterlaufen, auf der Hand liegt, ihren Arbeitsplatz verloren hat.

Mit dieser Praxis werden bundesdeutsche Unternehmen ungeachtet des nun ergangenen Urteils des Bundesarbeitsgerichts im Fall "Emmely" ungerührt fortfahren, zumal es die obersten Arbeitsrichter verabsäumt haben, anläßlich dieser Entscheidung eine generelle Richterschelte zu üben oder die arbeitsrechtlichen Grundlagen in Frage zu stellen oder kritisch zu beurteilen. Das Erfurter Gericht hat stattdessen ausdrücklich die Möglichkeit fristlos vorgenommener Kündigungen im Verdachtsfall bestätigt und lediglich entschieden, daß im Fall "Emmely" diese Kündigung unverhältnismäßig war. Dies wiederum deshalb, weil es sich um eine so geringe und einmalige Verfehlung nach einer über dreißigjährigen Zusammenarbeit gehandelt habe, daß das in dieser Zeit erwachsene Vertrauen "nicht aufgezehrt" worden sei. Die tatsächliche Einseitigkeit des Arbeitsrechts bzw. der Arbeitsrechtsprechung läßt sich an dieser Begründung ablesen, verlagert sie doch die Kriterien der Entscheidungsfindung einzig und allein in die Sphäre des Arbeitgebers, über dessen Vorrat an Vertrauen gegenüber einer ihm womöglich lästig gewordenen Angestellten Mutmaßungen angestellt werden.

Diese Urteilsbegründung liefert insofern nicht nur keinerlei Anhaltspunkte für eine von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ausgehenden Signalwirkung auf ähnlich gelagerte Fälle, sondern leistet ungeachtet der Tatsache, daß im Fall "Emmely" die Kündigung aufgehoben wurde, einer Entwicklung weiteren Vorschub, bei der der Kündigungsschutz immer weiter ausgehöhlt wird. Das Bestreben der Unternehmerseite, Menschen loszuwerden, an deren Arbeitskraft kein weiteres Verwertungsinteresse mehr besteht, wird durch eine begleitende Rechtsprechung abgesichert. Dem Arbeitsrechtler Rolf Geffken kommt das Verdienst zu, im Zuge der bundesweiten Solidarisierung für den Fall "Emmely" schon frühzeitig darauf aufmerksam gemacht zu haben, wie fehlangewandt der Begriff "Vertrauen" in diesem Zusammenhang ist. Mit der Behauptung, nicht der tatsächliche Schaden, sondern ein angeblich entstandener "Vertrauensverlust" würde eine fristlose Kündigung rechtfertigen, hatte das Landesarbeitsgericht Berlin im Februar 2009 die Entlassung der Berliner Kassiererin noch bestätigt.

Geffken wies in einem im Juli 2009 veröffentlichten Beitrag [2] darauf hin, daß das Postulat eines "Wegfalls des Vertrauens", das ein Arbeitgeber gegenüber seinen Angestellten und insbesondere bei Kassierern habe, keine arbeitsvertragliche Basis hat. In den Arbeitsgesetzen tauchte dieses Konstrukt erstmals als Folge des "personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses" in dem 1934 von den Nazis erlassenen Gesetz über die Ordnung der nationalen Arbeit auf. Die darauf gestützte "Verdachtskündigung" des Reichsarbeitsgerichts wurde 1955 nahtlos vom Bundesarbeitsgericht übernommen und bis heute nicht abgeschafft. Im Fall "Emmely" beispielsweise hatte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg ein "Prognoseprinzip" geltend gemacht, um in Hinsicht auf arbeitsrechtliche Fragen durchzusetzen, was im Strafrecht im allgemeinen (noch?) nicht möglich ist. Eine Verurteilung kann auf den bloßen Verdacht hin, womöglich eine Straftat begangen zu haben, nicht so ohne weiteres erfolgen; im Arbeits(un)recht hingegen wird danach entschieden, ob dem Unternehmer angesichts bestehender Verdachtsmomente eine Weiterbeschäftigung des Betroffenen noch zuzumuten ist.

Ein weiterer Arbeitsrechtler, der ehemalige Arbeitsrichter Klaus Hennemann - er ist Sprecher der Fachgruppe Arbeitsrecht der Neuen Richtervereinigung -, hat sich demgegenüber in einem Gespräch mit der jungen Welt dahingehend kritisch geäußert, daß seiner Meinung nach zu leichtfertig mit dem Begriff "Vertrauen" umgegangen werde [3]:

Was mich in letzter Zeit umtreibt, nachdem ich mich dreieinhalb Jahrzehnte mit Arbeitsrecht und Kündigungsrecht befaßt habe, ist der unbedachte Umgang mit dem Begriff des Vertrauens in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. Bei der Beurteilung einer fristlosen Kündigung kommt es auf die Abwägung der Interessen an. In einer Waagschale liegt ein 30jähriges Arbeitsverhältnis, in der anderen Waagschale ein Pfandbon, eine Bulette oder im Extremfall das Aufladen eines Handys auf Firmenkosten. Da hätte der Richter wohl ein sehr schlechtes Gewissen, wenn er sagen würde, die Kündigung sei wirksam. Deshalb wird das Leichtgewicht der Bulette oder des Pfandbons aus der Waagschale genommen und der moralisch hoch aufgeladene Begriff des Vertrauens hineingelegt. Ich glaube, daß man mitunter leichtfertig mit diesem Begriff umgeht.

Befragt danach, daß im Beamtenrecht bei etwaigen Verfehlungen eine Bagatellgrenze von 50 Euro besteht, hat Hennemann zu einer Thematik Stellung genommen, die ob ihres Klassencharakters - abhängig Beschäftigte werden wegen geringfügigster Vorwürfe schon im Verdachtsfall abgestraft, während gutsituierte Staatsbedienste und mehr noch höchstbezahlte Manager selbst bei ihnen zulastbaren Millionenverlusten unbehelligt bleiben - zu besonders großem Unmut geführt hat:

Danke für das Stichwort - ich bin mir darüber im klaren, daß die Verwaltungsgerichte keinesfalls von einer irreparablen Zerstörung des Vertrauens ausgehen, wenn ein Beamter, ein Soldat oder ein Richter einen Betrag unter 50 Euro zweckentfremdet und für eigene Zwecke benutzt. Es führt folglich auch nicht zur Entlassung.

Hennemann geht nicht so weit, die Verdachtskündigung grundlegend abzulehnen und ihre ersatzlose Streichung zu fordern, wie es beispielsweise der stellvertretende Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), Gerd Herzberg, sowie die Sprecherin für Arbeit und Mitbestimmung in der Bundestagsfraktion der Linken, Jutta Krellmann, anläßlich der jetzigen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum Fall "Emmely" getan haben. Hennemann hingegen bezeichnet das Vorgehen der Arbeitgeber, "Kleinbetragsfälle zu mißbrauchen, um eine fristlose Kündigung auszusprechen", zwar als "obszön", legt die Axt der Kritik jedoch nicht am arbeitsrechtlichen Instrumentarium der Verdachtskündigung an. Hennemann trägt es den Arbeitsrichtern auf, derartigen Obszönitäten Rechnung zu tragen, indem sie die "Motivationslage des Arbeitsgebers" ausleuchten.

Gegenüber der langjährigen Praxis der Arbeits(un)rechtssprechung ist dies kein lammfrommer, sondern wohl eher ein scheinheiliger Appell, so als wäre die (Klassen-) Justiz in diesem Punkt tatsächlich, was sie zu sein vorgibt, nämlich eine unparteiische dritte Instanz, die in diesen Konflikten die gegensätzlichen Interessen sorgfältig abwägt, und nicht der verlängerte juristische Arm eines Staates, der sich in einer kapitalistisch strukturieren Gesellschaft bis zur Ununterscheidbarkeit mit der einen, der vermeintlich stärkeren Seite verbunden hat.

Anmerkungen

[1] Siehe zu diesem Thema auch im Schattenblick -> INFOPOOL -> RECHT -> MEINUNGEN (3.3.2009):
DILJA/187: "Emmelys" Kündigung - Arbeitgeber hat Justiz und Politik auf seiner Seite (SB)

[2] Ohne Tünche. Ein Münchner Jura-Professor äußert sich zum Fall "Emmely": Sie soll keine Arbeit mehr finden und strafrechtlich verfolgt werden, von Rolf Geffken, junge Welt, 28.7.2009, S. 3

[3] "Dieses Vorgehen ist obszön". Heute entscheidet das Bundesarbeitsgericht über die fristlose Kündigung der Supermarktkassiererin Barbara E., genannt Emmely. Ein Gespräch mit Klaus Hennemann, von Claudia Wangerin, junge Welt, 10.6.2010, S. 8

11. Juni 2010