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DILJA/209: "Sicherungsverwahrung" - Präventivhaft von Straßburger Gericht gerügt (SB)


Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte beanstandet
Menschenrechtsverletzungen in Deutschland

"Sicherungsverwahrung" alias Präventivhaft nur in stark
eingeschränktem Maße gerügt


Mit dem Rechtsempfinden vieler Bundesbürger ist die Bestrafung eines Menschen für eine Tat, die er nicht begangen hat, aber begehen könnte, nicht zu vereinbaren. Strenggenommen könnte dann jeder Mensch generalpräventiv mit dem scheinbar unwiderlegbaren Argument, von ihm könne eine Gefahr für seine Mitmenschen und damit die Gesellschaft ausgehen, inhaftiert werden, was, derart auf die Spitze getrieben, auch unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten "keinen Sinn macht" und politisch nicht durchsetzbar wäre. Die Kernidee präventiver Bestrafung hat gleichwohl längst Einzug gehalten in die bundesrepublikanische Strafgerichtsbarkeit, obwohl sie einen eklatanten Bruch sowohl mit dem Menschenbild der Väter und Mütter des Grundgesetzes wie auch den Grundsätzen eines auf Resozialisierung abstellenden liberalen Strafrechts beinhaltet, um von der großen inhaltlichen Nähe zum NS-Strafrecht, in dem ein straffällig gewordener Mensch als Dieb oder Mörder, nicht jedoch wegen Diebstahls oder Mordes verurteilt wurde, was eine Reinwaschung von der ihm auferlegten Schuld von vornherein ausschließt, gar nicht erst zu reden.

Mit dem Rechtskonstrukt der "Sicherungsverwahrung" hat das NS-Täterstrafrecht klammheimlich und durch die Hintertür längst wieder Einzug gehalten in bundesdeutsche Gerichtssäle mit für die Betroffenen zum Teil extremen und katastrophalen Folgen. Da jedoch gegen niemanden die "Sicherungsverwahrung" genannte Präventivhaft verhängt werden kann, der nicht straffällig geworden ist und anschließend, da von Gutachtern als "gefährlich" eingestuft, auf zunächst noch begrenzte und inzwischen sogar unbegrenzte Zeit eingesperrt werden kann, finden sich nur sehr wenige Menschen oder auch Organisationen bereit, sich für die Rechte der Betroffenen einzusetzen oder auch nur diesbezügliche Fragen aufzuwerfen. Dabei kann die Sicherungsverwahrung ihrer Natur nach nichts anderes als eine vorweggenommene Bestrafung einer nicht begangenen Straftat sein, wobei sich die Gegenprobe, nämlich die Frage, ob die von Gutachtern und den zuständigen Gerichten angenommene und für wahrscheinlich gehaltene Begehung einer weiteren Straftat tatsächlich auch begangen werden würde, nie machen läßt, weil der Betroffene gar nicht die Möglichkeit erhält, sich nach seiner Haftentlassung zu bewähren und die Negativ-Prognosen zu widerlegen.

Da der Sicherungsverwahrung keine Straftat zugrundeliegt, gilt sie auch nicht als "Strafe", sondern als "Maßregel zur Besserung und Sicherung". Für die Betroffenen ist dieser juristische Winkelzug in Hinsicht auf ihre Haftrealität unerheblich; es sind in aller Regel dieselben Gefängnisse, Zellenwände und Einschränkungen, denen Gefangene in Strafhaft oder Maßregelvollzug unterworfen sind. Die psychologische Situation dürfte bei denjenigen, die inhaftiert werden bzw. bleiben, obwohl sie die gegen sie verhängten Freiheitsstrafen bis zum letzten Tag abgesessen haben, noch negativer sein, zumal nach geltender Rechtslage für Sicherungsverwahrte kein und sei es noch so weit in der Ferne liegender Entlassungstermin, also ein Haftende in Aussicht steht, auf das hinzuarbeiten sich lohnen könnte. Eine Freilassung ist keineswegs ausgeschlossen, setzt allerdings den Befund der Gutachter und die Entscheidung der zuständigen Richter voraus, die zuvor erfolgte Gefährlichkeitseinstufung aufzuheben.

Da die "Gefährdung" eine Bewertung ist, die aufgrund ihres prognostistischen Charakters nur spekulativ sein ist, ist es die "Ungefährlichkeit" natürlich nicht minder. Da bei keinem Menschen die Möglichkeit, eine Straftat zu begehen, ausgeschlossen werden kann, also auch bei Vorbestraften nicht, könnte eine Gutachter- und Richterentscheidung zugunsten des in Sicherungsverwahrung genommenen Häftlings zu negativen Konsequenzen oder sogar direkten Repressionen wie Schadenersatzforderungen führen, sollte ein Freigelassener ihrer Prognose entgegen doch rückfällig werden. Die Bereitschaft dieser Funktionsträger, der Freiheit eine Chance zu geben und damit womöglich ein persönliches Risiko einzugehen, wird vor dem Hintergrund dieser Umstände sehr gering sein, während im umgekehrten Fall der fortgesetzten und fortgesetzten Sicherungsverwahrung die Entscheidungsträger stets für sich in Anspruch nehmen können, in dem Glauben gehandelt zu haben, die Gesellschaft vor gefährlichen Menschen zu schützen.

Weitere Negativauswirkungen der Sicherungsverwahrung können auch für die Strafhaft und ihren ohnehin bezweifelbaren Wert in Hinsicht auf eine "Besserung" des Täters und dessen späteren gesellschaftliches Leben auftreten. Da dem gesamten Strafjustizsystem die Option offensteht, einen Menschen faktisch für immer wegzuschließen, auch wenn die ihm zur Last gelegte Straftat mit einem weitaus geringeren Strafrahmen als einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe versehen ist und das ursprünglich gegen ihn verhängte Urteil auch weit niedriger war, muß man sich mit der sogenannten Resozialisierung Strafgefangener auch keine Mühe mehr geben. Wäre es ein striktes Votum, daß ein Mensch, der beispielsweise wegen versuchten Raubmordes zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt wurde, nach spätestens fünf Jahren auch entlassen werden muß, wäre es aus generalpräventiven Gesichtspunkten geboten, ihm jede nur erdenkliche Unterstützung zukommen zu lassen und dafür Sorge zu tragen, daß seine Lebensverhältnisse nach der Entlassung so stabil und gesichert sind, daß er nicht als Arbeits- und/oder Wohnungsloser einer erhöhten Rückfallgefahr ausgesetzt ist.

Mit der Realität in bundesdeutschen Gefängnissen haben Ideen dieser Art, obwohl sie voll und ganz dem Resozialisierungsgedanken entsprechen, der für die bundesdeutsche Justiz einmal maßgeblich war, kaum noch etwas gemein. Nun hat am Freitag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die nachträgliche Sicherungsverwahrung in Deutschland gerügt und die Bundesregierung zur Zahlung von 50.000 Euro Schmerzensgeld an einen Betroffenen verurteilt. Diese Entscheidung hat für einiges Aufsehen gesorgt, sah sich doch die Bundesregierung unangenehm berührt durch einen Urteilsspruch, der sie als Menschenrechtsverletzer hinstellt. Bei genauerem Hinsehen stellt sich allerdings schnell heraus, daß die Kritik der Straßburger Richter so spezifisch und lediglich auf bestimmte Teilaspekte bezogen ist, daß ihre Entscheidung im Grundsatz einer Akzeptanz und Bestätigung der bundesdeutschen Sicherungsverwahrung gleichkommt.

Ein heute 52jähriger, der die letzten 18 (!) Jahre in Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt zubringen mußte, hatte in Straßburg geklagt, nachdem der bundesdeutsche Rechtsweg für ihn ergebnislos ausgeschöpft worden war. Der Kläger war im Jahre 1986 wegen versuchten Raubmordes zu fünf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Da zum Zeitpunkt seiner Verurteilung die Gesetzeslage eine Höchstdauer der Sicherungsverwahrung von zehn Jahren vorsah, hätte er spätestens am 8. September 2001 freigelassen werden müssen. Doch da im Jahre 1998 die zeitliche Befristung der Sicherungsverwahrung aufgehoben worden war, entschieden die zuständigen Richter im Frühjahr 2001, die gegen den Betroffenen verhängte Sicherungsverwahrung auf unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten.

Gegen diesen Beschluß versuchte der Inhaftierte vor dem Bundesverfassungsgericht, seine Freilassung durchzusetzen, blieb dabei jedoch erfolglos. Im Februar 2004 billigte das höchste deutsche Gericht diese Praxis und verfiel, um diese Entscheidung zu begründen, auf folgende Argumentation: Da die Sicherungsverwahrung gar keine Strafe, sondern eine Maßregel zur Besserung und Sicherung sei, würde keine Verletzung des Rückwirkungsverbots für Strafen vorliegen. Allein diesen Punkt sahen die Straßburger Richter nun anders. Sie befanden, daß die Inhaftierung im Maßregelvollzug - der Kläger wurde in einem ganz normalen Gefängnis untergebracht - sehr wohl ein Freiheitsentzug und damit eine Strafe sei, weshalb das Rückwirkungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention ("Keine Strafe ohne Gesetz") hier sehr wohl zum Tragen komme.

Die Straßburger Richter monierten, daß die von den deutschen Gerichten festgestellte Gefahr, die von dem Kläger angeblich ausgehe, nicht "konkret und spezifisch genug" ausgewiesen worden sei, womit der Gerichtshof für Menschenrechte seine grundsätzliche Akzeptanz der Präventivhaft zum Ausdruck brachte, stellt er doch lediglich die Bedingung, daß die behauptete Gefahr nicht zu pauschal formuliert werden dürfe. Der Kläger unterdessen wird, obwohl ihm das Straßburger Urteil scheinbar Recht gegeben hat, keineswegs freigelassen, wiewohl sein Anwalt sogleich seine Freilassung beantragt hat. Die Bundesregierung hat drei Monate Zeit, um gegen diese Entscheidung anzugehen und die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs anzurufen. Das Bundesjustizministerium kündigte eine "sorgfältige Analyse" des Urteils an, was bereits andeutet, daß sich die Bundesregierung die ohnehin höchst verhaltene Menschenrechtskritik aus Straßburg nicht sonderlich zu Herzen nimmt.

Theoretisch könnte die Entscheidung verbindlich werden, sollte auch die Große Kammer desselben Gerichts zu derselben Beurteilung kommen. Deutschland wäre dann verpflichtet, das Urteil aus Straßburg umzusetzen, wobei jedoch noch der Haken besteht, daß es dem deutschen Gesetzgeber überlassen bliebe, die Art und Weise der Umsetzung zu bestimmen. Die direkte und unmittelbare Freilassung eines Menschen, der bereits ein Vielfaches der Zeit, die er laut Urteil in Haft zu verbringen hat, abgesessen hat, kann der Europäische Gerichtshof ohnehin nicht durchsetzen.

20. Dezember 2009



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