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VÖLKERRECHT/055: Wie funktioniert das Völkerrecht? (friZ)


friZ - Zeitschrift für Friedenspolitik 2/08 - Juni 2008

Wie funktioniert das Völkerrecht?

Von Anne Peters


Wie funktioniert Völkerrecht? Oder sollte man angesichts immer wieder aufbrechender Konflikte mit internationalen Bezügen an vielen Orten der Welt, wie z.B. in Palästina, Tibet, oder Sudan nicht besser fragen: Funktioniert das Völkerrecht überhaupt?


Als Geburtsstunde des modernen Völkerrechts gilt der Westfälische Frieden von 1648, der den dreissigjährigen Krieg in Europa beendete. In den Friedensverträgen wurden die Fürsten (als Repräsentanten der Staaten) sinngemäss als souverän anerkannt. Damit wurde ein zwischenstaatliches System, das heisst eine Rechtsordnung zwischen souveränen Staaten geschaffen, das so genannte Westfälische System.

Adressaten der völkerrechtlichen Verpflichtungen

Adressaten von völkerrechtlichen Verpflichtungen sind primär die Staaten. Teilweise richtet sich das Völkerrecht auch an Internationale Organisation, z.B. die Vereinten Nationen (Uno), die Welthandelsorganisation (WTO) oder die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die von Staaten geschaffene Völkerrechtssubjekte sind. In einem beschränkten Masse regelt das Völkerrecht auch Rechte und Pflichten von Individuen, sowie von besonderen Einheiten, wie beispielsweise dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).


Materien und Wirkungsweise

Die klassischen Regelungsbereiche des Völkerrechts sind z.B. die diplomatischen Beziehungen (Gesandtschaftsrecht), Staatsgrenzen und Staatsgebietserwerb sowie die Nutzung der Meere. Heute befasst sich das Völkerrecht auch mit Themen wie Schutz der Menschenrechte, Friedenssicherung, Abrüstung, Umweltschutz oder Terrorismusbekämpfung. Das Völkerrecht spielt immer mit dem nationalen Recht zusammen. Zum einen müssen völkerrechtliche Verpflichtungen eines Staates durch nationales Recht umgesetzt und/oder konkretisiert werden, zum anderen muss das nationale Recht dem Völkerrecht angepasst werden. Das bedeutet, dass jegliche staatliche Politik völkerrechtliche Vorgaben beachten muss. Beispielsweise hat die Schweiz UN-Drogenkonventionen ratifiziert, welche unter anderem den Handel und den Anbau von Cannabis regeln. Folglich muss die Schweiz in ihrer Liberalisierungspolitik die Verpflichtungen aus diesen Drogenkonventionen beachten.


Zwei Verfassungsprinzipien der internationalen Ordnung

Die beiden Grundprinzipien des Völkerrechts sind das Gewaltverbot und die souveräne Staatengleichheit. Beide Prinzipien stehen in einem engen inneren Zusammenhang.

Das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten ist in Art. 2 Ziff.1 der UN-Charta kodifiziert. "Souveränität" der Staaten bedeutet, dass jeder Staat rechtlich unabhängig von den anderen Staaten ist. Demnach ist kein Staat einem anderen Staat untergeordnet, sondern nur dem Völkerrecht. Als zwingende Folge der Souveränität ergibt sich, dass alle Staaten in formeller Hinsicht rechtlich gleich sind. Diese formale Gleichheit aller Staaten zeigt sich im Rechtsverkehr beispielsweise darin, dass die Staaten bei dem Abschluss völkerrechtlicher Verträge gleichrangig sind und in der Uno-Generalversammlung jeder Staat über eine Stimme verfügt ("one state, one vote"). Aber es gibt auch Durchbrechungen der formalen Gleichheit. So verfügen die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder (Russland, China, USA, Frankreich und das Vereinigte Königreich) über ein Vetorecht in diesem Organ. Und selbstredend bestehen zum Teil krasse Diskrepanzen zwischen rechtlicher Gleichheit und faktischer Ungleichstellung der Staaten in den internationalen Beziehungen.

Das Gewaltverbot ist kodifiziert in Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta. Es stellt die wichtigste Errungenschaft des Völkerrechts der Ära der Vereinten Nationen dar. Das Gewaltverbot untersagt den Staaten, ihre Konflikte mit militärischen Mitteln beizulegen. Stattdessen ist der Uno-Sicherheitsrat befugt, eine Bedrohung oder den Bruch des Weltfriedens festzustellen und als letztes Mittel die Anwendung militärischer Gewalt zu erlauben. Da die Vereinten Nationen nicht über eigene Streitkräfte verfügen, ermächtigt der Sicherheitsrat einzelne Staaten oder Staatengruppen zur Gewaltanwendung. Ein in der UN-Charta verfassungsmässig angelegtes Problem ist das der Handlungsunfähigkeit bei Uneinigkeit der fünf ständigen Mitglieder.


Strukturelle Besonderheiten

Das Völkerrecht unterscheidet sich nicht nur inhaltlich, sondern vor allem strukturell vom innerstaatlichen Recht.

Zunächst gibt es Besonderheiten auf der Ebene der Rechtserzeugung: Es gibt im Völkerrecht kein zentrales Rechtssetzungsorgan und auch keine Gesetze. Völkerrecht wird dezentral von den Staaten selbst unter Mitwirkung anderer Völkerrechtssubjekte erzeugt. Die Rechtsquellen des Völkerrechts sind daher vor allem völkerrechtliche Verträge und ungeschriebenes Recht, das Völkergewohnheitsrecht.

Ein weiteres Charakteristikum des Völkerrechts ist die inhaltliche Offenheit vieler seiner Normen. Im Völkervertragsrecht ergibt sich die verschiedentlich zu beklagende mangelnde Präzision von Bestimmungen daraus, dass völkerrechtliche Vertragstexte politisch ausgehandelte "Deals" sind. Die verabschiedeten Texte sind nicht selten Formelkompromisse, in dem jede Vertragspartei ihre Auffassung wieder zu erkennen vermag. Im Völkergewohnheitsrecht resultiert eine gewisse Vagheit notgedrungen daraus, dass es sich um ungeschriebenes Recht handelt. Der genaue Inhalt einer gewohnheitsrechtlichen Norm kann daher unter Umständen schwer festzustellen sein.

In Normenkategorien ausgedrückt, kann man festhalten, dass das Völkerrecht über weite Strecken nicht aus präzisen Regeln, sondern aus allgemeinen Prinzipien besteht. Prinzipien sind keine Alles-oder-Nichts-Normen, sondern Optimierungsgebote. Daher können sie annähernd, d.h. mehr oder minder verwirklicht werden und auch mehr oder minder stark missachtet werden. Prinzipienkollisionen werden durch Abwägung gelöst. Ein Beispiel für eine Prinzipienkollision im Völkerrecht ist die Kontroverse um die Zulässigkeit einer "humanitären Intervention" im Falle des Kosovo-Einsatzes der Nato im Jahr 1999: Hier musste das Prinzip des Gewaltverbotes gegen das Verbot des Genozids abgewogen werden.


Keine obligatorische Gerichtsbarkeit

Es gibt im Völkerrecht keine zwingende (obligatorische) Gerichtsbarkeit. Somit besteht keine Garantie, dass ein Gericht über einen Rechtsstreit entscheidet. Allerdings ist das Völkerrecht kein gerichtsfreier Raum. Das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, der Internationale Gerichtshof in Den Haag wird momentan mit zwischenstaatlichen Klagen von hochpolitischer Brisanz überschwemmt. Ausserdem sind in jüngerer Zeit viele neue internationale Gerichte und Schiedsgerichte geschaffen worden, die für jeweils bestimmte Sachbereiche zuständig sind, z.B. der Internationale Seegerichtshof in Hamburg. 1994 wurden mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) auch deren wichtige Streitschlichtungsinstanzen ins Leben gerufen. Die "Panels" und der "Appellate Body" sind schiedsgerichtsähnliche Gremien, zuständig für Handelsstreitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten der WTO. Neu sind auch die Internationalen Strafgerichte für Jugoslawien und Ruanda sowie der 1998 vertraglich vereinbarte Internationale Strafgerichtshof (ICC). Der ICC, der im Juni 2003 seine Arbeit aufgenommen hat, ist vor allem für die Aburteilung von Kriegsverbrechen zuständig.

Aufgrund des Respekts vor der staatlichen Souveränität sind diese Gerichte und Schiedsgerichte allerdings nur nach einer vorherigen Unterwerfung der Staaten zuständig. Ein Staat kann also letztlich nicht ohne seine Zustimmung verklagt werden (die im Falle der WTO-Schiedsgerichtsbarkeit z.B. durch Ratifikation der WTO-Verträge gegeben wird). Der ICC ist ausserdem nur zuständig, wenn entweder der Staat, auf dessen Gebiet ein Verbrechen begangen wurde oder der Staat, dem der Angeklagte angehört, Vertragspartei des ICC-Statuts ist.

Statt und neben Gerichten gibt es im Völkerrecht ausserdem diplomatisch-politische Methoden der Streitbeilegung. Als Beispiele seien Verhandlungen, fact-finding und Mediation genannt. Der Schweiz kommt hierbei eine historische Rolle zu. Sie betätigt sich traditionell als Vermittlerin und bietet sogenannte gute Dienste zur Konfliktlösung zwischen anderen Streitparteien an.


"Weiche" Durchsetzungsmechanismen

Das Völkerrecht wird praktisch nie mit (zentralisiertem) Befehl und Zwang durchgesetzt. Dementsprechend sind internationale Gerichtsurteile in der Regel keine Leistungs- sondern Feststellungsurteile. Ein Staat wird grundsätzlich nicht explizit zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen verurteilt, vielmehr stellt ein Internationales Gericht in der Regel lediglich fest, dass ein bestimmtes Verhalten völkerrechtswidrig gewesen sei. In multilateralen Verträgen sind "weiche" Durchsetzungsmechanismen vorgesehen, die das Bedürfnis nach (schieds-)gerichtsförmiger Beilegung von Konflikten vermindern sollen. Hierzu gehören Anreize, die Vorenthaltung von Vorteilen oder umfassende Monitoring-Systeme.


Prinzipielle Zulässigkeit der Selbsthilfe

Weiterhin gibt es auf der internationalen Ebene keine Völkerpolizei. Der Sicherheitsrat verfügt nicht über ein umfassendes Gewaltmonopol. Er hat ein Quasi-Gewalt-Legitimierungs-Monopol in bezug auf militärische Massnahmen und kann somit nur eingeschränkt die Funktion einer Weltpolizei übernehmen. Daneben bleibt die staatliche Selbstverteidigung, eine Art Notwehrrecht, prinzipiell erlaubt. Die Staaten dürfen individuell und unilateral alle Arten nicht-militärischer Zwangsmassnahmen, wie z.B. Wirtschaftssanktionen verhängen. Solche Sanktionen sind allerdings nicht in das freie Ermessen der Staaten gestellt. Sie müssen vielmehr allgemeine Rechtsprinzipien wie den Verhältnismässigkeitsgrundsatz sowie im Wirtschaftsbereich vor allem das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) beachten. Insgesamt kann man sagen, dass im Gegensatz zum nationalen Recht die Selbsthilfe im Völkerrecht (z.B. durch Wirtschaftssanktionen) die Regel statt die (enge) Ausnahme darstellt. Es zeichnet sich aber ein Trend ab, solche Sanktionen kollektiv (im Rahmen der Uno oder der EU) zu verhängen.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Völkerrecht ist erstens ein dezentrales, horizontales Recht. Es handelt sich im wesentlichen um ein Recht unter Gleichen, nämlich den Staaten. Daher bezeichnete man es früher auch als "genossenschaftliches" Recht. Zweitens ist Völkerrecht ein Recht, in dem der Einfluss der tatsächlichen Macht, die in der Staatenwelt sehr ungleich verteilt ist, deutlicher spürbar ist als normalerweise im innerstaatlichen Recht. Dies zeigt sich auf der Ebene der Rechtssetzung und vor allem bei der Rechtsdurchsetzung.


Geltung und Relevanz des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen

Eine immer wiederkehrende Frage ist, ob das Völkerrecht für die internationalen Beziehungen relevant ist oder ob der tatsächliche Ablauf des internationalen Geschehens nur eine Frage der Machtverhältnisse ist und nicht letztlich "alles Politik" ist. So wurde vor allem im Zusammenhang mit der Irakkrise argumentiert, dass internationale Organisationen letztlich kein Eigenleben führten und nicht mehr darstellten als ihr mächtigstes Mitglied, und dass das Völkerrecht für die internationalen Beziehungen irrelevant sei.

Ob Völkerrecht wirklich Recht ist und deswegen für die internationalen Beziehungen relevant, kann nur festgestellt werden, indem man überprüft, ob Völkerrecht die zwei Hauptfunktionen von Recht, nämlich Legitimitätsstiftung sowie Verhaltenslenkung respektive Konfliktlösung erfüllt.


Legitimitätsstiftung durch das Völkerrecht

Politische Aktionen eines Staates werden international akzeptiert und als gerechtfertigt angesehen, wenn sie mit dem Völkerrecht übereinstimmen. Umgekehrt haftet einer offenen Völkerrechtsverletzung der Makel der Illegitimität an. Weil das Völkerrecht diese legitimierende Kraft hat, werden Völkerrechtsverletzungen typischerweise mit rechtlichen Argumenten gerechtfertigt und nicht etwa mit der Behauptung, dass bestimmte Völkerrechtsnormen gar nicht gälten. Beispielsweise wird ein unilateraler Militärschlag nicht damit begründet, dass die Gewaltanwendung schrankenlos erlaubt sei, sondern der handelnde Staat beruft sich auf das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 der UN-Charta. Das Wissen, dass eine staatliche Handlung öffentlich anhand des Völkerrechts gerechtfertigt werden muss, kann entscheidende Rückwirkungen auf das Handeln selbst haben. Es kann dazu führen, dass ein Staat, bevor er eine international relevante Massnahme ergreift, vorab prüft, ob diese völkerrechtskonform wäre und sie im Falle potentieller Völkerrechtswidrigkeit unterlässt.

Dieser Mechanismus hat auch in der Irakkrise von 2003 eingeschränkt funktioniert: Die öffentliche Diskussion über den amerikanischen Angriff auf den Irak war zu grossen Teilen, in einem bisher nicht gekannten Ausmass, eine Diskussion über die Legalität, also über die Völkerrechtskonformität des Militärschlages. Auch die USA haben, wenn auch fadenscheinige, Rechtfertigungsgründe vorgetragen und sich somit nicht prinzipiell über das Völkerrecht erhoben. Das Völkerrecht hat den militärischen Angriff nicht verhindert. Aber es hat doch eine gewisse legitimierende (im konkreten Fall: delegitimierende) Kraft entfaltet.


Verhaltenslenkung durch das Völkerrecht

Völkerrecht erfüllt auch die zweite Hauptfunktion des Rechts, die der Verhaltenssteuerung. In ihren aussenpolitischen Beziehungen wenden Staaten ständig Völkerrecht an und beachten es, so dass die alltägliche Völkerrechtsbefolgung den Normalfall darstellt. Als Beispiele für völkerrechtliche Normen, die praktisch stets beachtet werden, können die Bestimmungen über Vertragsabschlüsse, Normen über internationale Rechtshilfe, die Verträge zur Regelung des Flugverkehrs oder die Achtung der Gebietshoheit anderer Staaten aufgezählt werden. Hier entfaltet das Völkerrecht eine unspektakuläre normative Kraft.

Summa summarum gilt das Völkerrecht, weil Staaten und andere Völkerrechtssubjekte rational kalkulieren. Sie wägen zwischen dem Vorteil des Glaubwürdigkeitsgewinns und dem Nachteil der Einschränkung ihres Handlungsspielraums in ungewisser Zukunft ab. Das Ziel dieses "Trade-Off" ist die Erzielung eines bestmöglichsten Verhältnisses von Vor- und Nachteilen der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen aus Sicht des handelnden Akteurs. (Dies erklärt auch warum mächtigere Staaten völkerrechtliche Bindungen weniger gerne eingehen. Sie haben grössere Chancen, ihre politischen Ziele auch auf einem anderen Weg, z.B. durch Ad-hoc-Verhandlungen zu erreichen.) Die generelle Einsicht der Völkerrechtssubjekte in die langfristige Nützlichkeit der Rechtstreue führte einen berühmten amerikanischen Völkerrechtler Ende der neunzehnhundertsechziger Jahre zur Erkenntnis: "Fast alle Nationen beachten fast alle Prinzipien des Völkerrechts und fast alle völkerrechtlichen Verpflichtungen fast immer."(1)


Das Völkerrecht nach 1989: Gegenläufige Tendenzen

Das aktuelle Völkerrecht wird von zwei gegenläufigen Tendenzen bestimmt. Einerseits kann man seit 1989, also seit Ende der ideologischen Ost-West-Spaltung der Welt, eine zunehmende Verrechtlichung der Weltpolitik beobachten, die vor allem eine Folge und gleichzeitig selbst ein Faktor der Globalisierung ist. Dadurch wird das Völkerrecht quantitativ und qualitativ verändert. Die qualitative Veränderung besteht in zwei Aspekten. Erstens wird das Völkerrecht nach seinen Inhalten, Rechtsquellen und Rechtssubjekten offener und vielfältiger. Zweitens bildet sich ein Verfassungsrecht im Völkerrecht heraus, es erfolgt eine "Konstitutionalisierung" des Völkerrechts.

Der gegenläufige Trend ist die Unterminierung des Völkerrechts durch Hegemonialansprüche. Die USA erheben als einzig verbliebene Supermacht immer deutlicher den Anspruch, die Völkerrechtsordnung nach ihren Vorstellungen zu formen und unilateral zu verändern. Dies könnte eine Schwächung des Völkerrechts oder gar eine grundlegende Umstrukturierung bewirken. Einige Beobachter halten den Irakkrieg von 2003 sogar für eine "Revolution" des Völkerrechts.


Die politische Herausforderung: US-Hegemonie?

In der "Neuen Weltordnung" fungieren die Vereinigten Staaten von Amerika als einzige Supermacht, als "Hyperpuissance", wie es der frühere französische Aussenminister Védrine ausdrückte. Die amerikanische Vorherrschaft besteht in allen vier Schlüsseldimensionen von Macht (Militär, Wirtschaft, Wissenschaft/Technologie sowie Kultur). Dabei ist die Vorherrschaft einer oder mehrerer Staaten im Völkerrecht keine neue Entwicklung. Die gesamte neuzeitliche Völkerrechtsentwicklung, die mit dem Westfälischen Frieden einsetzte, ist durch Phasen der Dominanz wechselnder Grossmächte (Spanien, Englang, Frankreich etc.) charakterisiert. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind seit 1990 allerdings die erste wirklich globale Macht, deren Aktionsradius sich dank neuer Technologien (militärisch, kommunikationstechnisch usw.) über den gesamten Globus erstreckt. Diese Vormachtstellung führt dazu, dass die Vereinigten Staaten vielfach versuchen, ihre politischen Ziele mit "Zuckerbrot und Peitsche" zu erreichen. Schliessen sie beispielsweise einen Vertrag mit Djibouti über die Nichtauslieferung von amerikanischen Soldaten an den Internationalen Strafgerichtshof ab, dann haben sie soviel Verhandlungsmacht, dass Djibouti praktisch keine reale Vertragsfreiheit mehr besitzt. Oft glauben die Vereinigten Staaten von Amerika es sich leisten zu können, ihre Politikziele unabhängig von völkerrechtlichen Vorgaben zu erreichen. Gerade in den letzten Jahren bewegen sie sich, wie die drei folgenden Beispiele aufzeigen, am Rande der Legalität.

Das erste Beispiel ist Guantanamo-Bay. In diesem Militärstützpunkt auf Kuba sind Talibankämpfer bereits seit Jahren in einem rechtsfreien Raum ohne Aussicht auf Rechtsschutz inhaftiert. Die USA begehen damit eine Rechtsverweigerung und verletzen ausserdem die Genfer Konvention über den Schutz von Kriegsgefangenen.(2)

Das zweite Beispiel ist die Ablehnung und Determinierung des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC). Mit Hilfe von massivem wirtschaftlichem Druck haben die Vereinigten Staaten bilaterale Straflosigkeitsabkommen mit kleinen und schwachen Staaten geschlossen. Diese schützen amerikanische Soldaten im Falle eventueller Kriegsverbrechen auf dem Gebiet eines ICC-Vertragsstaates vor der Gerichtsbarkeit des ICC. Mit diesen Verträgen haben die USA die Vertragsparteien zum Bruch des ICC-Statuts gezwungen. Denn nach diesem Statut ist der ICC für die Aburteilung von Kriegsverbrechen, die auf dem Territorium eines Vertragsstaates begangen wurden, komplementär zur nationalen Gerichtsbarkeit zuständig.

Als drittes und letztes Beispiel sei der Irak-Krieg vom März 2003 genannt: Die militärische Invasion unter Führung der Vereinigten Staaten und Grossbritannien im Irak verletzte das universelle Gewaltverbot. Abweichungen vom Gewaltverbot können nur aufgrund spezieller Ausnahmen gerechtfertigt werden. Diese sind eine Ermächtigung durch den Uno-Sicherheitsrat, die Selbstverteidigung und die humanitäre Intervention. Keine der Rechtfertigungen lag im Falle des Angriffs unter Führung der USA und Grossbritannien auf den Irak im März 2003 vor. Eine Ermächtigung durch den Uno-Sicherheitsrat fehlte, da die Resolution 1441 vom 8. November 2002 die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten gerade nicht zum Militärschlag autorisierte. Es handelte sich auch nicht um einen Fall der erlaubten Selbstverteidigung, da diese einen aktuellen oder unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff voraussetzt. Ein bewaffneter Angriff des Iraks, z.B. mit Massenvernichtungswaffen auf das Gebiet der Vereinigten Staaten oder Grossbritannien stand jedoch zu keinem Zeitpunkt real bevor; dies war ex ante erkennbar. Schliesslich waren die sehr engen und strengen Voraussetzungen der Zulässigkeit einer sogenannten humanitären Intervention zum Schutz der Menschenrechte der drangsalierten Iraker nicht erfüllt. Mangels Rechtfertigung stellte die militärische Gewaltanwendung im Irak einen vom Völkerrecht verbotenen Angriffskrieg dar. Dieser Völkerrechtsbruch erscheint als der bisherige Tiefpunkt der völkerrechtsskeptischen bis völkerrechtszynischen Verhaltensweise der USA.


Gesamtbewertung

Die gegenwärtige Weltlage erfordert "global governance", dessen rechtlicher Rahmen das Völkerrecht ist. Das Völkerrecht gleicht sich dabei immer mehr [an] das innerstaatliche Recht an. Es hat sich von einem rein zwischenstaatlichen, internationalem Recht zu einem Recht verändert, in dem Staaten mit nichtstaatlichem Akteuren vernetzt sind. Es handelt sich also eigentlich um eine neuartige Mischung aus staatlichem Recht und überstaatlichem Recht, aus privaten Verträgen und aus öffentlichem Recht, die man als transnationales oder globales Recht bezeichnen könnte. Dies bedeutet eine Aufwertung und Stärkung des Völkerrechts, respektive des globalen Rechts. Es bildet sich ausserdem ein Weltverfassungsrecht heraus. Diese Entwicklung liegt nicht nur im Interesse der kleinen Staaten wie der Schweiz, sondern auch im Interesse von grösseren Mächten.


Anne Peters ist Professorin für Völker- und Staatsrecht an der Universität Basel. Ihr Text ist in voller Länge in den Basler Juristischen Mitteilungen 2004, 5. 1 - 24 erschienen.


ZUSATZINFORMATIONEN

Die Reaktion des Völkerrechts

Die Folgen der Globalisierung, der weltpolitisch-ideologischen Entwicklung und des Aufstieges der USA als "Hyperpuissance" für das Völkerrecht.

Renaissance des Naturrechts: Die Veränderungen seit 1989 haben einen methodischen Paradigmenwechsel vom Rechtspositivismus (konsensfixiert, basierend auf dem Willensdogma) zu mehr naturrechtlicher Argumentation angeregt. Der bisherige Höhepunkt dieser neuen (alten) Argumentation ist die Rechtfertigung der Kosovointervention. 1999 intervenierte die Nato im Kosovo ohne das an sich erforderliche UN-Mandat, und zwar zum Schutz der Kosovo-Albaner vor massiven Menschenrechtsverletzungen und genozidartigen Vorgängen, die aus damaliger Sicht akut drohten. Eine internationale Expertenkommission hat die Intervention nachträglich als illegal, aber legitim bezeichnet.(3) Diese Entwicklung ist nicht unbedenklich, denn die Fokussierung auf Inhalte anstatt auf formale Verfahren birgt eine gewisse Missbrauchsgefahr.

Mehr Völkerrecht: Die Globalisierung hat dazu geführt, dass es quantitativ mehr Völkerrecht gibt. Aufgrund der neuen grenzüberschreitenden Problemlagen hat das Kosten-Nutzen-Kalkül der Staaten zu einer Verrechtlichung der Weltpolitik geführt. Im Gegensatz zu den früheren, eher technischen, typisch zwischenstaatlichen Regelungsmaterien des Völkerrechts betrifft das heutige Völkerrecht hochpolitische und gesellschaftlich wichtige Themen, die den einzelnen Bürger direkt betreffen. Beispiele hierfür sind Regelungen über die Bekämpfung des Drogenhandels, der Klimaschutz, die Terrorismusbekämpfung und der Kulturgüterschutz.

Öffnung des Völkerrechts: Ein weiteres Phänomen, das mit der Globalisierung und mit der Wertekonvergenz im Völkerrecht zusammenhängt, ist die in den letzten Jahrzehnten aufgetretene Strukturveränderung im Völkerrecht, die als Öffnung in mehreren Dimensionen charakterisiert werden kann. Da ist zunächst die horizontale Öffnung: Die Zahl der Völkerrechtssubjekte, d.h. Einheiten, die Träger von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten sein können, hat zugenommen. Zu den "klassischen" Völkerrechtssubjekten, Staaten und Internationale Organisationen, sind in den letzten Jahrzehnten Individuen, Minderheiten, Völker und möglicherweise auch Nichtregierungsorganisationen (NGO) hinzugekommen. Die zweite strukturelle Veränderung ist vertikal erfolgt: Völkerrecht und Landesrecht sind immer mehr miteinander verbunden.

Öffnung der Rechtsquellen: Ein weiterer bemerkenswerter Trend liegt in der "weichen" Legalisierung. Anstelle von harten Verträgen werden Verhaltenskodices, Prinzipienerklärungen oder sonstige Soft Law-Texte angenommen, entweder zwischen Staaten oder zwischen und mit anderen Akteuren, wie transnationalen Unternehmen. Beispiele sind der Haager Verhaltenskodex gegen ballistische Waffen von 2002, zu dem sich mittlerweile 128 Staaten, darunter die USA und Russland, bekennen. Zunehmend wird auch weiches mit hartem Recht verknüpft, vor allem im Umweltrecht (Rio-Prozess). Der Vorteil der weichen Instrumente ist, dass sie schneller und von einer grösseren Zahl von Beteiligten akzeptiert werden und flexibel anpassbar sind. Gefahren liegen aber in der mangelnden Durchsetzbarkeit derartiger Kodices und der Versuchung, bei Alibi-Massnahmen stehen zu bleiben.

Kein Zwei-Klassen-Völkerrecht: Die tatsächliche Grossmachtstellung der USA wird meines Erachtens nicht dazu führen, dass sich dieser Staat über das Völkerrecht erheben kann. Denn jede rein machtbasierte Ordnung ist langfristig instabil. Gerade der Irak zeigt, dass die militärische Übermacht der USA keinesfalls allein entscheidend ist. Dies liegt unter anderem an der mangelnden Akzeptanz des Eingriffs und der Präsenz der USA im Irak. Letztlich geht es um die Frage, was langfristig der wirksamere Ordnungsfaktor ist: Macht oder Recht? Die Antwort lautet, dass Gewalt und Macht Legitimität benötigen. Dies hat bereits Jean-Jacques Rousseau im Contrat Social formuliert: "Der Stärkere ist nie stark genug, immer Herr zu sein, wenn er nicht seine Stärke in Recht und den Gehorsam in Pflicht überführt."

Konstitutionalisierung des Völkerrechts: Eine letzte entscheidende qualitative Veränderung des Völkerrechts ist dessen Konstitutionalisierung. Die Idee der Konstitutionalisierung hat zur Prämisse, dass die internationale Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft ist. Diese Rechtsgemeinschaft wird von Regeln und Prinzipien, nicht nur von Machtverhältnissen, beherrscht. Die wichtigsten dieser Normen bilden das globale Verfassungsrecht. Diese Konzeption impliziert, allgemein betrachtet, dass das traditionelle Leitprinzip der internationalen Ordnung, die Staatensouveränität, kontinuierlich durch das Prinzip der "rule of law" zumindest ergänzt, wenn nicht gar langfristig weitgehend ersetzt wird. Weiterhin werden multilaterale Verträge, so genannte Weltordnungsverträge geschlossen, die universelle Werte widerspiegeln. Dazu gehören die Menschenrechtsverträge, das WTO-Vertragssystem und die Umweltverträge, die Werte wie Freihandel und nachhaltige Entwicklung verkörpern. Die Verrechtlichung solcher Werte hat zu einer neuen Normenkategorie, den "public interest norms" geführt.

Zwingendes Völkerrecht: Ein formales Charakteristikum von Verfassungsrecht weisen die höherrangigen Normen im Völkerrecht auf. Das so genannte zwingende Völkerrecht (ius cogens), zu dem unter anderem das Gewaltverbot, zentrale Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker gehören, hat Vorrang vor allem anderen Völkerrecht. Entgegenstehende völkerrechtliche Verträge sind nichtig. Alle genannten Entwicklungen führen nicht zu einer Weltverfassung, lassen aber fragmentarische Teilverfassungen entstehen, welche die immer durchlässigeren Grenzen zwischen staatlichem und überstaatlichem Recht und zwischen öffentlichem und privatem Recht überwinden.

Anne Peters


Literatur

Anne Peters: Völkerrecht - Allgemeiner Teil. 2006, Schulthess Zürich,
2. Auflage erscheint im September 2008.
Auch für Laiinnen und Laien verständlich und empfehlenswert!


Fussnoten

(1) Louis Henkin: How Nations Behave. New York, 2. Auflage 1979, S. 47 (Erstauflage 1968). Übersetzung der Verfasserin.

(2) Siehe hierzu Art. 5 Abs. 2 des III. Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen: "Bestehen Zweifel, ob eine Person, die eine kriegerische Handlung begangen hat und in Feindeshand gefallen ist, einer der in Artikel 4 aufgezählten Kategorien angehört, so geniesst diese Person den Schutz des vorliegenden Abkommens, bis ihre Rechtsstellung durch ein zuständiges Gericht festgestellt worden ist."

(3) Independent International Commission on Kosovo, The Kosovo Report: Conflict, International Response, Lessons Learned, Oxford 2000, 5. 185 - 198 (186). Dieser Bericht über die Rechtmässigkeit der Militärintervention im Kosovo stammt von einer unabhängigen internationalen Expertenkommission, die 1999 von dem schwedischen Premierminister Persson ins Leben gerufen wurde. Mitglieder waren u.a. Richard Goldstone (Südafrika), Carl Tham (Schweden) und Richard Falk (USA).


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Quelle:
friZ - Zeitschrift für Friedenspolitik 2/08, Juni 2008, S. 14 - 19
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2008