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STRAFRECHT/362: Verständigung in Strafverfahren künftig gesetzlich geregelt (BMJ)


Bundesministerium der Justiz - Berlin, 21. Januar 2009

Verständigung in Strafverfahren künftig gesetzlich geregelt


Auf Vorschlag von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat das Bundeskabinett heute einen Gesetzentwurf beschlossen, mit dem die Voraussetzungen einer Verständigung im Strafverfahren geregelt werden. Der Entwurf enthält klare gesetzliche Vorgaben zu Verfahren, Inhalt und Folgen von Verständigungen und gewährleistet dadurch Rechtsicherheit, Transparenz und eine gleichmäßige Rechtsanwendung durch die gerichtliche Praxis.

"Seit über 20 Jahren gehört es zum Alltag in deutschen Gerichtssälen, dass sich das Gericht und die weiteren Beteiligten über den Verlauf des Strafprozesses und über das Ergebnis verständigen. Das gilt nicht nur für große und komplexe Wirtschaftstrafverfahren - Verständigungen sind kein Privileg für Reiche oder Weiße-Kragen-Täter. Auch im Bereich der Drogenkriminalität, bei Gewaltdelikten oder in Verfahren wegen kleinerer Kriminalität werden so genannte Absprachen getroffen. Der Bundesgerichtshof hat Verständigungen als sinnvolle Alternative zur Durchführung des Strafverfahrens "bis zum bitterem Ende" anerkannt und ihnen in mehreren Entscheidungen gewisse Konturen gegeben. Es ist aber die verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, praktisch bedeutsame Vorgänge des Strafverfahrens nicht der Rechtsprechung zu überlassen, sondern selbst für die notwendige Rechtsklarheit zu sorgen. Mit unserem Gesetzentwurf wird erstmals geregelt, unter welchen Voraussetzungen eine Verständigung zustande kommen darf. Gleichzeitig halten wir an den bisherigen bewährten Grundsätzen des Strafprozesses fest: Auch in Zukunft ist das Gericht zur umfassenden Wahrheitsermittlung verpflichtet, und auch eine aufgrund einer Verständigung festgelegte Strafe muss der Schuld des Täters gerecht werden. Wir schaffen daneben durch weitreichende Dokumentations- und Mitteilungspflichten eine größtmögliche Transparenz der Verfahrensabläufe. Nach unserem Gesetzentwurf dürfen Absprachen nur in öffentlicher Hauptverhandlung getroffen werden. Damit stellen wir klar: Es wird auch in Zukunft kein Mauscheln in den Hinterzimmern, kein Feilschen um das Urteil und keinen Handel mit der Gerechtigkeit geben", sagte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.

Im Einzelnen:

1. Handlungsbedarf

Die Verständigung in Strafverfahren ist bislang gesetzlich nicht geregelt. Bei dieser Verfahrensweise versuchen das Gericht und die weiteren Verfahrensbeteiligten - vor allem Staatsanwaltschaft, Angeklagter und Verteidigung, aber auch der Nebenkläger - sich über den Verlauf des Verfahrens und über dessen Ausgang zu verständigen. Der Bundesgerichtshof hat solche Absprachen für grundsätzlich zulässig erklärt und vor dem Hintergrund der hohen Belastung der Justiz diese verfahrensökonomische Art der Erledigung als unerlässlich bezeichnet. Auch unter dem Gesichtspunkt des Zeugen- und Opferschutzes sind Verständigungen eine berechtigte Alternative auf dem Weg zu einem gerechten Urteil, wenn auf eine vor allem für das Opfer psychisch belastende Beweisaufnahme verzichtet werden kann. Voraussetzung für die Zulässigkeit von Absprachen ist jedoch, dass die grundlegenden Prinzipien des deutschen Strafprozesses und des materiellen Strafrechts eingehalten werden. Zustandekommen und Ergebnis einer Verständigung müssen sich am Grundsatz des fairen Verfahrens, der Pflicht des Gerichts zur umfassenden Ermittlung der Wahrheit sowie an einer gerechten und schuldangemessenen Strafe orientieren. In seiner Grundsatzentscheidung vom 3. März 2005 hat der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofs wesentliche Leitlinien zur Zulässigkeit von Absprachen festgelegt, gleichzeitig jedoch betont, dass die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung erreicht sind.

2. Lösung

Künftig wird es in der Strafprozessordnung ein umfassendes und differenziertes rechtstaatliches Regelungskonzept zur Verständigung im Strafverfahren geben. Die neuen Vorschriften stellen der Praxis in weitem Umfang Vorgaben für Zustandekommen und Inhalt von Absprachen zur Verfügung, ohne den für Einzelfälle notwendigen Spielraum zu sehr einzuschränken. Dabei geht der Gesetzentwurf von den folgenden Grundsätzen aus:

Die Grundsätze der Strafzumessung bleiben unberührt. Das Strafmaß muss sich weiterhin an der Schuld des Angeklagten orientieren. Unberührt bleiben auch die Grundsätze des Strafverfahrens. Es wird insbesondere kein "Konsensprinzip" geben. Eine Verständigung kann nie alleinige Grundlage des Urteils sein. Das Gericht bleibt weiterhin verpflichtet, den wahren Sachverhalt bis zu seiner Überzeugung zu ermitteln. Es muss ein größtmögliches Maß an Transparenz gewährleistet sein. Eine Verständigung kann nur in der öffentlichen Hauptverhandlung zustande kommen, Vorgänge außerhalb der Hauptverhandlung muss das Gericht öffentlich mitteilen. Verständigungen müssen stets umfassend protokolliert und im Urteil erwähnt werden. Es gibt keinerlei Beschränkungen der Rechtsmittel. Die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts darf nicht Gegenstand einer Verständigung sein. Das Urteil bleibt auch nach einer Verständigung in vollem Umfang überprüfbar, der Angeklagte muss darüber eingehend belehrt werden.

Der Gesetzentwurf enthält einen vernünftigen und praxisgerechten Mittelweg zwischen einem teilweise geforderten Totalverbot von Absprachen einerseits und einem Konsensprinzip andererseits, welches das Gericht zu sehr aus seiner Verantwortung zur Ermittlung der Wahrheit entlassen würde. Die vorgeschlagene Lösung berücksichtigt insbesondere die Vorgaben der Rechtssprechung sowie eine Vielzahl von Anregungen aus Wissenschaft und Praxis. Insbesondere unterscheidet der Entwurf nicht zwischen verteidigtem und unverteidigtem Angeklagten und schließt auch Verfahren vor den Amtsgerichten nicht aus. Damit wird eine "2-Klassen-Justiz" vermieden und dem Umstand Rechnung getragen, das auch in amtsgerichtlichen Verfahren, wo vorwiegend Fälle der kleineren und mittleren Kriminalität behandelt werden, Verständigungen zum Alltag gehören.

3. Inhalt

Zentrale Vorschrift zur Regelung der Verständigung ist ein neuer Paragarph 257c StPO. Er enthält Vorgaben zum zulässigen Gegenstand, zum Zustandekommen und zu den Folgen einer Verständigung und legt fest, dass die Pflicht des Gerichts zu Aufklärung des Sachverhalts uneingeschränkt bestehen bleibt.

Gegenstand
Gegenstand einer Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen, also im Wesentlichen das Strafmaß und etwaige Auflagen wie zum Beispiel Bewährungsauflagen sein. Auch Maßnahmen zum Verfahrensverlauf sowie das Prozessverhalten der Beteiligten sind zulässig, wie etwa Einstellungsentscheidungen, die Zusage von Schadenswiedergutmachung durch den Angeklagten oder der Verzicht auf weitere Beweisanträge oder Beweiserhebungen, soweit dies mit der Sachaufklärungspflicht des Gerichts vereinbar ist. Ebenfalls soll ein Geständnis Gegenstand einer Verständigung sein. Das Gericht muss von der Richtigkeit des Geständnisses überzeugt sein, um seiner Aufklärungspflicht in vollem Umfang nachzukommen. Bei Zweifeln an der Richtigkeit muss es gegebenenfalls auf seine Zuverlässigkeit überprüft werden.

Ausdrücklich ausgeschlossen als Gegenstand einer Verständigung sind der Schuldspruch - also die Frage, ob und wenn ja, wegen welcher Strafnorm jemand verurteilt wird - und die Ankündigung des Angeklagten, auf Rechtsmittel zu verzichten. Ebensowenig können Maßregeln der Besserung und Sicherung wie beispielsweise die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in eine Verständigung aufgenommen werden, weil hier das Gesetz dem Gericht keinen Entscheidungsspielraum belässt.

Zustandekommen
Eine Verständigung kommt zustande, indem das Gericht ihren möglichen Inhalt bekannt gibt und der Angeklagte sowie die Staatsanwaltschaft zustimmen. Das Gericht gibt dabei eine Ober- und Untergrenze der möglichen Strafe an. Dabei muss es die allgemeinen Strafzumessungserwägungen berücksichtigen und darf weder eine unangemessen niedrige noch eine unangemessen hohe Strafe vorschlagen. Die Initiative zu einer Verständigung ist aber nicht allein dem Gericht vorbehalten, entsprechende Anregungen können auch von den anderen Verfahrensbeteiligten ausgehen.

Nicht vorgesehen ist, dass auch der Nebenkläger zustimmen muss. Dies entspricht dem bereits geltenden Strafprozessrecht, nach dem der Nebenkläger das Urteil allein wegen der Rechtsfolgen nicht angreifen kann. Die Strafzumessung bzw. das Strafmaß sind aber gerade der wesentliche Gegenstand einer Verständigung. Dies schließt aber nicht aus, dass der Nebenkläger an Gesprächen und Erörterungen im Vorfeld von Verständigungen beteiligt ist und dabei seine Bedenken und Vorschläge äußert.

Transparenz
Eine Verständigung kann nur in öffentlicher Hauptverhandlung zustande kommen. Dies schließt nicht aus, dass außerhalb der Hauptverhandlung Gespräche geführt werden, durch die eine Verständigung vorbereitet wird. Nach dem Gesetzentwurf ist der Vorsitzende des Gerichts verpflichtet, darüber Transparenz herzustellen, indem er in öffentlicher Hauptverhandlung mitteilt, ob und ggf. mit welchem Inhalt solche Gespräche stattgefunden haben. Um die Geschehnisse bei einer Verständigung umfassend zu dokumentieren, muss das Gericht den wesentlichen Ablauf einschließlich etwaiger Vorgespräche außerhalb der Hauptverhandlung, den Inhalt und das Ergebnis einer Verständigung protokollieren. Damit wird vor allem sichergestellt, dass Absprachen im Revisionsverfahren vollständig überprüft werden können.

Folgen des Scheiterns
Eine besondere Vorschrift sieht der Entwurf für den Fall vor, dass sich das Gericht von einer Verständigung lösen will. Die Bindung des Gerichts entfällt, wenn das Gericht nachträglich zur Überzeugung kommt, dass die in Aussicht gestellte Strafe nicht tat- oder schuldangemessen ist, was den Fall einschließt, dass das Gericht eine unzutreffende Prognose bei der Bewertung des bisherigen Verhandlungsergebnisses abgegeben hat. Auch kann das Prozessverhalten des Angeklagten das Gericht veranlassen, sich von der Absprache zu lösen, wenn es nicht mehr dem Verhalten entspricht, welches das Gericht seiner Prognose zugrunde gelegt hat. Eine solche Regelung ist erforderlich, weil Ergebnis des Strafverfahrens immer ein richtiges und gerechtes Urteil sein muss. Entfällt die Bindung des Gerichts, darf ein Geständnis des Angeklagten, das er im Vertrauen auf den Bestand der Verständigung als seinen "Beitrag" abgegeben hat, nicht verwertet werden. Damit wird der Schutz des Angeklagten gestärkt und dem Grundsatz des fairen Verfahrens Rechnung getragen.

Rechtsmittel
Neben dem Verbot, die Ankündigung eines Rechtsmittelverzichts zum Gegenstand einer Verständigung zu machen, verzichtet der Gesetzentwurf aus zwei Gründen bewusst darauf, Rechtsmittel nach vorangegangener Verständigung einzuschränken oder auszuschließen. Zum einen soll eine vollständige Kontrolle durch das Berufungs- oder Revisionsgericht möglich sein. Damit soll sichergestellt werden, dass die Vorschriften gleichmäßig entsprechend der Vorgaben des Gesetzgebers angewandt werden. Zum anderen soll der Eindruck vermieden werden, das Urteil beruhe auf einem "Abkommen" der Beteiligten, an das sich alle zu halten haben. Ergebnis einer Verständigung ist vielmehr ein ganz normales Urteil, dessen Grundlage die volle Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit ist und das auf einer vollständigen Aufklärung des Sachverhalts beruht. Dazu gehört, dass das Urteil wie jedes andere überprüfbar sein muss. Ein Rechtsmittelverzicht ist nur dann wirksam, wenn der Angeklagte ausdrücklich darüber belehrt worden ist, dass er trotz einer vorangegangenen Verständigung in seiner Entscheidung frei ist, gegen das Urteil Rechtsmittel einzulegen ("qualifizierte Belehrung"). Ist diese Belehrung unterblieben, kann der Angeklagte trotz erklärten Verzichts auf Rechtsmittel gegen das Urteil vorgehen.

Kommunikation
Ein weiterer, wichtiger Regelungskomplex (Paragraph 160b, 202a, 212 StPO-E) hat zum Gegenstand, die Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten zu stärken. Es sollen bereits im Ermittlungsverfahren, aber auch in allen weiteren Stadien des gerichtlichen Verfahrens sogenannte Erörterungen der verfahrensführenden Stellen (Staatsanwaltschaft bzw. Gericht) mit den Verfahrensbeteiligten gefördert werden. Bei solchen Erörterungen im gerichtlichen Verfahren kann auch die Möglichkeit einer Verständigung besprochen werden. Ziel ist es, dass die Beteiligten miteinander im Gespräch bleiben, wenn dies für den Verlauf des Verfahrens sinnvoll ist.

Das Gesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates. Ziel ist es, das parlamentarische Verfahren noch in dieser Legislaturperiode abzuschließen.

Dokumente

RegE Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren:
http://www.bmj.de/files/-/3457/RegE_Gesetz_zur_Regelung_der_Verständigung _im_Strafverfahren.pdf


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Quelle:
Pressemitteilung vom 21.01.2009
Herausgegeben vom Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
des Bundesministeriums der Justiz
Verantwortlich: Eva Schmierer
Redaktion: Dr. Henning Plöger, Dr. Isabel Jahn,
Johannes Ferguson, Ulrich Staudigl
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2009