Flüchtlingsrat Hamburg - 9. Februar 2012
Somalia zu-hören
Besucherinnen der wegen Piraterie angeklagten Somalier nehmen
Kontakt auf und veröffentlichen Brief an die Familien der Angeklagten
Schockiert über die verheerenden Auswirkungen, die das Plädoyer der Staatsanwaltschaft im sogenannten Piratenprozess auf die Angeklagten hat, hat eine Gruppe von Besucherinnen der inhaftierten Somalis nun einen Brief an deren Familien geschrieben.
Während Gerichtskammer und Staatsanwaltschaft den Prozess gegen die zehn Somalier möglichst bald zu Ende bringen wollen und völlig unbeeindruckt von den Reaktionen der Angeklagten der Urteilsverkündung entgegenstreben, kriegt jenseits des Gerichtssaals nur eine handvoll Menschen in aller Deutlichkeit mit, was das Plädoyer der Staatsanwaltschaft angerichtet hat. Die Besucherinnen, die regelmäßigen Kontakt zu den Somalis im Knast haben, berichten von Schmerz, Angst und Hoffnungslosigkeit bis hin zum völligen Verlust des Glaubens an so etwas wie Gerechtigkeit.
Bereits im Vorfeld des Plädoyers haben die Ablehnungen sämtlicher von der Verteidigung benannten Entlastungszeugen durch die Gerichtskammer (nicht nur) den Angeklagten den Eindruck vermittelt, dass alles, was aus Somalia stammt, von dem deutschen Gericht weder ernst genommen noch in Justitias Waagschale gelegt wird.
So wurde schon zu Beginn des Prozesses, als es um die Altersfeststellung ging, nicht den somalischen Geburtsurkunden, nicht dem Brief der eigenen Mutter eines der Angeklagten und nicht der schriftlichen Bestätigung des Schulleiters der einstigen Schule eines der Somalier geglaubt, sondern den deutschen "Experten".
Die Ablehnungen der Entlastungszeugen ist von der Kammer immer wieder damit begründet worden, dass es in Somalia weder eine Regierung noch ein Meldewesen gibt, Personen angeblich nicht ausfindig zu machen seien und keine ausreichenden Möglichkeiten der Kommunikation bestünden. Dass in Somalia einiges anders funktioniert als in Deutschland, heißt aber weder, dass Personen nicht auffindbar sind, noch dass es unmöglich ist, Kontakt herzustellen, sondern nur, dass es möglicherweise auf somalische Art statt auf deutsche getan werden sollte.
Eine der wenigen Sachen, die in Somalia wirklich gut - und auch noch sehr ähnlich wie hier - funktionieren, ist die mobile Telekommunikation. Die ermöglicht es sogar, mit Menschen zu sprechen, die in sehr entlegene Gegenden fliehen mussten.
Was das Gericht offenbar nicht Willens ist zu tun, ist den Besucherinnen der angeklagten Somalier nicht nur ein dringliches Anliegen, sondern auch recht einfach gelungen: Kontakt aufzunehmen und zuzuhören. Und das nicht nur den Angeklagen selbst gegenüber sondern auch in Bezug auf deren Familien und Freunde in Somalia.
Eine Besucherin sagt: "Wir haben beschlossen, über das Internet einen Brief an die Familien und Freunde der Angeklagten zu schreiben, um sie wissen zu lassen, dass ihre Söhne, Väter und Brüder hier nicht ganz allein sind. Dass es hier Menschen gibt, die sie besuchen und die es interessiert und berührt, woher sie kommen und was mit ihnen geschieht."
Der Brief soll Teil einer öffentlichen Kommunikationsbrücke zwischen Somalia und Deutschland sein und sichtbar machen, dass wir mit-einander statt neben- oder gegeneinander leben können.
Den gesamten Brief finden Sie untenstehend übersetzt und online auf Englisch unter:
http://reclaim-the-seas.blogspot.com/2012/02/letter-to-families-of-accused.html
Kontakt: kein mensch ist illegal-hamburg
kmii-hh@kein.org
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Der Brief an die Familien der Angeklagten:
(in einer Übersetzung der Redaktion Schattenblick aus dem Englischen)
Ein Brief an die Mütter, Ehefrauen, Kinder und Familienangehörigen jener Somalier, die in Hamburg im Gefängnis inhaftiert sind.
Wir schreiben Ihnen, obwohl Sie uns gar nicht kennen und wir Sie auch nicht. Wir schreiben Ihnen, weil wir diese 10 Jungen und Männer, die Sie bereits seit zwei Jahren vermissen, im Verlauf der Gerichtsverhandlung kennengelernt haben.
Vor kurzem hat der Staatsanwalt eine lange Gefängnisstrafe für alle Angeklagten gefordert. Wir wissen noch nicht, wie die Urteilsverkündung lauten wird, können aber sagen, daß jeder Angeklagte zwei Anwälte an seiner Seite hat, die für sie das beste zu erreichen versuchen.
Wir möchten Sie dahingehend beruhigen, daß Ihre Angehörigen hier nicht ganz allein sind. Wir können uns gut vorstellen, daß Sie sie sehr vermissen. Seit einiger Zeit haben wir beschlossen, regelmäßig persönlich mit ihnen in Kontakt zu treten. Die jüngeren von ihnen bekommen nun schon seit einem Jahr Besuch von uns. Bei einigen der Älteren hat es bisher noch nicht geklappt, doch wir hoffen, daß sich uns noch einige Menschen anschließen, so daß alle Angeklagten regelmäßig besucht werden.
Wir gehören zu einer Gruppe von Einzelpersonen, die den Prozeß verfolgen und sich dafür verantwortlich fühlen, daß die somalischen Angeklagten nicht allein auf sich gestellt sein sollten. Wir gehören keiner Organisation an.
Wir haben mit unseren Besuchen bei den Gefangenen begonnen, weil wir überzeugt sind, daß es wichtig ist, ihnen zu versichern, daß sie in diesem Land nicht allein sind, einem für sie fremden Land, in das sie gegen ihren Willen gebracht wurden. Wir wollen ihnen zeigen, daß es auch hier Menschen gibt, die Anteil nehmen.
Im Augenblick wäre es für sie von größter Bedeutung, wenn sie die Möglichkeit hätten mit Ihnen, ihren Familien und Freunden, zu sprechen. Und da versuchen wir ihnen so gut wir können beizustehen.
Natürlich können wir Sie nicht ersetzen. Doch hoffen wir Ihnen zumindest dahingehend ein bißchen Beruhigung zu verschaffen, wenn Sie wissen, daß Ihre Angehörigen bei uns ein wenig Unterstützung finden. Wir würden uns freuen, wenn Sie mit uns Kontakt aufnehmen würden und hoffen, daß wir dann in der Lage sein werden, Ihre Fragen zu beantworten. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß wir keinerlei politischen Einfluß und auch keine finanziellen Mittel haben. Auch können wir weder den Verlauf des Prozesses noch das Urteil beeinflussen.
Doch schließen wir diesen Brief mit dem Wunsch, daß Sie und Ihre Angehörigen sich bald wiedersehen mögen.
Hamburg, den 5. Februar 2012
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Quelle:
Pressemitteilung vom 9. Februar 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Februar 2012