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MELDUNG/383: Schützt eine Kennzeichnung vor der Strafe beim Schwarzfahren? (Projektwerkstatt Saasen)


Projektwerkstatt Saasen - 18. Juli 2015

Schützt eine Kennzeichnung vor der Strafe beim Schwarzfahren?

Gerichtsverhandlung in Gießen am 30. Juli soll Klärung bringen


Die Auseinandersetzung um die Frage, ob ein öffentlich sichtbares "Schwarzfahren" strafbar ist (der Gesetzesparagraph heißt schließlich: Erschleichung von Leistungen), spitzt sich zu. In mehreren Prozessen konnte bislang keine Lösung gefunden werden. Verzweifelte Versuche vieler Richter_innen, trotz des entgegenstehenden Wortlautes mit kreativen Verdrehungen Strafen zu verhängen, stehen mittlerweile in der Revision. Andere Verfahren wurden eingestellt, ebenso gibt es Freisprüche. Verwirrender geht kaum noch.

Dabei spricht die Rechtslage ziemlich eindeutig für die zunehmende Anzahl politisch aktiver und anderer "Schwarzfahrer_innen", die nicht mehr nur heimlich in der Ecke einer Tram, U- oder S-Bahn sitzen, sondern sich offen zeigen. Zudem werben viele von ihnen mit Flugblättern für die völlige Abschaffung des Fahrkartenwesens. Damit provozieren sie die Staatsmacht zur Reaktion - und genau das ist ihr Plan. "Wir wollen vor Gericht durchsetzen, dass offen sichtbares Fahren ohne Fahrschein nicht strafbar ist. Gewinnen wir, können Tausende von Menschen Geld- oder Haftstrafen vermeiden. Außerdem gerät das Fahrscheinwesen insgesamt ins Schwanken. Am Ende steht vielleicht der Nulltarif für alle!" So fasst Jörg Bergstedt, Politaktivist aus der Projektwerkstatt in Saasen (Kreis Gießen) zusammen, was seit den ersten Märztagen geschieht. Dort hatten fünf Aktivisten mit einer spektakulären Aktionsschwarzfahrt von Kempten über München, Nürnberg und Frankfurt nach Gießen für reichlich Aufmerksamkeit gesorgt. In den kommenden Tagen soll es nun in Gießen zu weiteren Aktionen und öffentlichen Debatten kommen. Anlass: Ein ganz besonderer Gerichtsprozess.


Dramatik im Gerichtssaal: Selbstablehnung eines Richters und Einladung zum Rechtsgespräch am 30.7.

Mehrere Verfahren wegen "Schwarzfahrens" mit Kennzeichnung hat das Gießener Amtsgericht schon erlebt. Eines ist in der zweiten Instanz, die bisher einzige Verurteilung wurde in der Revision aufgehoben. Die darin Angeklagten hatten Mühe, die Besonderheit ihres Falles überhaupt vorzutragen. "Die interessierten sich für die Frage, ob eine offene Kennzeichnung die Rechtslage ändert, überhaupt nicht", schimpft Dominik Richl, der im ersten Prozess sogar aus dem Gerichtssaal geworfen und in Abwesenheit ohne Prüfung der der umstrittenen Rechtspositionen verurteilt wurde. Inzwischen ist haben die meisten beteiligten Richter_innen aber anerkannt: Schilder, Flugblätter oder andere Mittel der Kenntlichmachung haben Einfluss auf die Strafbarkeit. Ab wann das tatsächlich greift, soll nun ein Gerichtsprozess in Gießen klären. Der Richter hat zu einer Verhandlung eingeladen, in der ein Rechtsgespräch geführt wird: Keine Zeug_innen, sondern nur eine Erörterung der Rechtslage. Dazu ist dem Angeklagte zusätzlich an Anwalt beiseite gestellt worden - der Richter schloss sich seiner Meinung an, dass die Rechtsfrage kompliziert sei und in bisher unerschlossenes Rechtsgebiet führe. Nur die Staatsanwaltschaft Gießen schießt weiter quer: Sie interessiert der Gesetzeswortlaut nicht. Stur und lernunfähig beantragte sie in einem weiteren Fall einen Strafbefehl - doch das Gericht lehnte ab.

Die Verhandlung am Do, 30.7. (um 9.30 Uhr im Amtsgericht Gießen, Gutfleischstraße, Raum 100) wird damit zu einem neuen Höhepunkt der Auseinandersetzung. Gerade vor dem Hintergrund der Selbstablehnung des Richters am Landgericht ergibt sich die spannende Frage, ob die Justiz ihre bisherige Linie des Bestrafens ändert - und damit dem absurden Massenbestrafen wegen Fahren ohne Fahrschein eine Perspektive entgegen setzt, die Kriminalisierung verhindert und der Idee eines umweltfreundlichen Verkehrswesen einigen Auftrieb geben könnte. Die Verhandlung ist öffentlich. "Wir hoffen auf viele Zuhörer_innen. Die Rechtsfrage ist spannend, die dahinter stehende sozialpolitische Dimension wichtig - insgesamt dürfte das alles so manche Juravorlesung in den Schatten stellen", hofft der Angeklagte auf eine breite Wahrnehmung des wichtigen Termins. Aus einigen Städten sind bereits neue Aktionsschwarzfahrten angekündigt. Dem Angeklagten wird das recht sein: "Wir nennen unsere Kampagne Schwarzstrafen - denn illegal ist nicht das Fahren, sondern die Strafe deswegen!"

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Quelle:
Projektwerkstatt Saasen
Ludwigstr. 11, 35447 Reiskirchen-Saasen
E-Mail: saasen@projektwerkstatt.de
www.projektwerkstatt.de/saasen


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2015

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