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BERICHT/005: Konferenz - Traditionelle Gerichte und staatliches Recht (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 133/September 2011
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Konferenzbericht
Traditionelle Gerichte und staatliches Recht

Von Matthias Kötter


Wie verhalten sich traditionelle Formen der Streitschlichtung, wie sie in dörflichen Gegenden Afrikas und Südasiens üblich sind, zur jeweiligen staatlichen Gerichtsbarkeit? Diese Frage stand im Mittelpunkt der Konferenz "Decisionmaking on Pluralist Normative Ground" vom 17. bis 19. Mai 2011 am WZB. Neben Wissenschaftlern nahmen Richter und Mitglieder lokaler Streitschlichtungsorgane aus Äthiopien, Pakistan, Südafrika und dem Südsudan teil. Veranstaltet wurde die Konferenz vom Sonderforschungsbereich 700 "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit", dem WZB Rule of Law Center und dem Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Die Finanzierung erfolgte aus Mitteln des Instituts für Auslandsbeziehungen.


In Gesellschaften mit solchen hybriden Rechtssystemen stellt sich die Frage, inwieweit traditionelle Einrichtungen der Konfliktbewältigung einer Rückbindung an das staatliche Recht bedürfen, um die normative Zersplitterung der Gesellschaft zu vermeiden, aber auch, um ihnen Legitimität zu verleihen. Gerade im Kontext begrenzter Staatlichkeit stellt sich weiter die Frage, inwieweit lokale Formen der Konfliktbewältigung zur öffentlichen Ordnung beitragen können und wie viel Zurückhaltung vom Staat gefordert ist, damit sie diese Funktion erfüllen können.

Für lokale informale Streitschlichtungsforen spricht eine Reihe von Gründen: Sie sind für die Landbevölkerung nicht nur leichter zu erreichen und finanziell günstiger als die staatlichen Gerichte. Sie beziehen sich auch auf lokale Normen und sprechen Recht in einer für die Dorfbevölkerung verständlichen Sprache. Entscheidend ist dabei, dass sie meist Lösungen anstreben, die nicht nur die in Konflikt geratenen Personen, sondern die in der Regel aus wenigen Familien bestehende Gemeinde insgesamt befrieden. Schlichten statt zu richten: Dass dieses Prinzip viele traditionelle Rechtssysteme afrikanischer und südasiatischer Gesellschaften gleichermaßen prägt, machte der Vergleich der vier auf der Konferenz verhandelten Fallbeispiele deutlich. Die Panel-Diskussionen mit Angehörigen nicht-staatlicher Entscheidungsstellen und Vertretern des jeweiligen staatlichen Rechts- und Gerichtssystems wurden anhand eines einheitlichen Fragenkatalogs geführt. Sie zeigten, dass die Verbindung von staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen abhängig vom jeweiligen kulturellen und rechtshistorischen Hintergrund sehr unterschiedliche Einrichtungen hervorbringt. Gleichzeitig wirft sie kontextübergreifend dieselben Fragen auf.

Im Südsudan wurde nach 30 Jahren Bürgerkrieg und der Abspaltung vom Norden begonnen, eine neue Verfassung und Rechtsordnung aufzubauen. Traditionelle Autorität und die Berücksichtigung von Entscheidungen, die am Maßstab von Customary Law getroffen werden, finden dabei in erheblichem Umfang Anerkennung. Die traditionellen Autoritäten werden durch die Verfassung nicht erst eingesetzt; ihre Autorität beruht vielmehr auf traditionellen Normen. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass sie auf einer Erbfolge beruht, wie das Beispiel von Denis dar Amallo Kunid, dem Paramount Chief der Bari People, zeigt, der von seiner Gemeinde in das Amt gewählt wurde. Aus der Sicht des staatlichen Rechts handelt es sich um informelle Institutionen, die die Gesellschaft schon in Zeiten ohne funktionierenden Staat stabilisierten. Die neu geschaffene Verfassung des Südsudans, an deren Entstehung der Direktor des Heidelberger Max-Planck-Instituts Rüdiger Wolfrum mitwirkte, hält an dieser Struktur fest.

Wo ein staatliches Gerichtssystem seit langem existiert, kann der Umgang mit den nichtstaatlichen Formen der Konfliktlösung dennoch sehr unterschiedlich ausfallen und von der Verstaatlichung der traditionellen Institutionen bis hin zu völliger Zurückhaltung reichen. In einem großen Teil der Federally Administered Tribal Areas (FATA), einem Sonderterritorium im Norden Pakistans, verzichtet der Staat auf die Durchsetzung der staatlichen Rechtsordnung und setzt auf deren selbstständige Verwaltung durch die lokale Stammesbevölkerung. Streitigkeiten werden danach in der traditionellen Form der jirga (Kreis) ausgetragen, einer Versammlung von Familienoberhäuptern und Ältesten, die mit Zustimmung und im Interesse der Streitparteien Beratungen durchführt, um den Konflikt zu befrieden. Die Parteien können sich darauf verständigen, ob die jirga einen für beide Seiten bindenden Kompromiss finden oder eine Entscheidung am Maßstab des lokalen Gewohnheitsrechts oder der sharia treffen soll. Dabei handelt es sich bei dem traditionellen Recht um die flexiblere Ordnung, die sich im Konfliktfall pragmatisch gegen das religiöse Recht durchsetzen kann. Die Haltung der jirga-Mitglieder brachte der Malik Abdur Razzaq, ein Familienoberhaupt des Zakha Khel Clans aus der Khyber Agency, mit dem Satz auf den Punkt: "This is what the Mullah says, but we are still Pakthuns."

In Südafrika dagegen kann von der völligen Autonomie der Communities keine Rede sein. Kulturelle Differenz sei hier für lange Zeit unterdrückt gewesen, wohingegen sie heute geradezu "gefeiert" werde. Darauf wies Christa Rautenbach von der North West University in Potchefstrom, Südafrika, hin. Das führe nicht zuletzt zur Anerkennung einer Vielzahl ganz unterschiedlicher traditioneller Institutionen. Gleichzeitig ist das Zusammenspiel der staatlichen Gerichtsbarkeit auf der einen Seite und der traditionellen Institutionen auf der anderen vom staatlichen Recht überformt. Alle Gerichte sind an die Verfassung von 1996 und den von ihr garantierten Schutz der Menschenrechte gebunden. Gleichzeitig müssen auch die staatlichen Gerichte unter bestimmten Umständen Customary Law anwenden, allerdings nur bei Streitigkeiten zwischen "Afrikanern" und nur mit deren Zustimmung. Ein staatliches Gesetz, das die Zuständigkeit und das Verfahren traditioneller Gerichte detailliert regeln soll, wird seit mehreren Jahren vorbereitet. Nach Auskunft von Madoda Zibi, einem Chief der Amahlubi Community in der North West Province, spielen jedoch weder die Verfassungsbindung noch die Möglichkeit, Berufung beim staatlichen Gericht einzulegen, in den Beratungen der Customary Courts eine entscheidende Rolle; die Entscheidungsfindung am Maßstab traditioneller Normen können sie nicht beeinflussen. Hier wären vielmehr andere soziale Veränderungen nötig, die sich dann entsprechend im Customary Law abbilden könnten.

Ähnliches gilt für Äthiopien, das eine Vielzahl ganz verschiedener traditioneller Gerichte und Entscheidungsforen kennt, die auch im staatlichen Recht Anerkennung finden. Ein Beispiel sind die Social Courts, die der Gemeindeverwaltung zuzurechnen sind und die sich traditioneller Streitschlichtungsformen - der sogenannten shimagellena - bedienen können. Die Berücksichtigung und Einbeziehung der traditionellen Foren insbesondere über Autonomiegarantien sind wichtige Strategien zum Schutz und Respekt der verschiedenen Ethnien und Gruppen in dem Vielvölkerstaat und eng mit der Politik des Ethnic Federalism verbunden. Problematischer ist die Position der Sharia Courts, die vollständig unabhängig neben der staatlichen Rechtsordnung stehen. Hier besteht keine Möglichkeit, beispielsweise Menschenrechtsschutz oder Fair Trial-Prinzipien zu bewahren. Wie in den freien Gebieten Pakistans entsteht auch hier ein Problem zwischen weltlichen und religiösen Gerichten. Zur Bewältigung normativer Pluralität müssen funktionierende Mittel gefunden werden. Girmachew Alemu von der School of Law der Addis Ababa University fasste das prägnant in dem Satz zusammen, dass Pluralität keine politische Handlungsoption sei, sondern vielmehr eine gesellschaftliche Wirklichkeit, der sich die Politik zu stellen habe.

Das Recht jeder Gesellschaft muss die in ihr bestehende Pluralität abbilden. Das kann es erforderlich machen, dass einzelne Gruppen ihr eigenes Recht und eigene Spruchkörper pflegen, die unabhängig von der staatlichen Rechts- und Gerichtsordnung sind. Dadurch entsteht ein Rechtspluralismus, der allerdings nur insoweit zu Kollisionen führt, als es zu Zuständigkeitsüberlappungen kommt und es keine Regeln oder Verfahren gibt, die diese auflösen. Doch lassen sich Normordnungen auf verschiedene Weise miteinander verknüpfen. Abstimmung kann beispielsweise in gemeinsamen Entscheidungsstellen erfolgen. Das zeigt der mit elf Mitgliedern aus verschiedenen Volksgruppen paritätisch besetzte Council of Constitutional Inquiry in Äthiopien, dem die Aufgabe der Verfassungsinterpretation zufällt. Die Kollisionen vermeidende Verteilung von Zuständigkeiten kann durch die Anerkennung autonomer Regime und ihrer Entscheidungen im staatlichen Recht erreicht werden. Auch auf diesem Wege lässt sich eine Brücke zwischen den Ordnungen bauen. Bestehen mehrere autonome Ordnungen nebeneinander, kann der staatlichen Rechtsordnung im besten Falle noch die Funktion des normativen Rahmens zukommen, der allgemein gültige Prinzipien und Mindeststandards für die autonomen Ordnungen der einzelnen Gruppen innerhalb der Gesellschaft bereitstellt.

Die Anerkennung von gesetztem Recht verlangt die besondere Einsicht in seine Richtigkeit. Das unterscheidet es grundsätzlich von kulturell gewachsenen Normen, bei denen der für ihre Wirksamkeit notwendige Befolgungswille in der Bevölkerung ebenso tradiert wird wie die Normen selbst. Die grundsätzliche rechtssoziologische Frage nach den sozialen Voraussetzungen der Geltung und Anerkennung von Rechtsnormen stellt sich auch und ganz besonders beim Rechtstransfer. Dabei ist auf die Kompatibilität mit den kulturellen Normen und der jeweiligen "Konfliktkultur" (Gunnar Folke Schuppert, WZB) zu achten, wenn Recht wirken soll. Das kann bedeuten, dass sich die Ziele der Rule of Law Promotion möglicherweise besser durch die Stärkung des lokalen Schlichters als mit der Einsetzung eines Richters erreichen lassen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Traditionelle Konfliktlösung. Eine Jirga des Mehsud-Stamms in der Stadt Tank im Nordwesten Pakistans im März 2010.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 133, September 2011, Seite 44 - 46
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2011