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BUCHTIP/122: 26 Punkte zum Grundrechts-Schutz im Internet-Zeitalter (idw)


Universität Kassel - 07.08.2013

26 Punkte zum Grundrechts-Schutz im Internet-Zeitalter

Der Schutz von Grundrechten wird eine zentrale Frage des Internet-Zeitalters. Mitten in der Diskussion um NSA und Vorratsdatenspeicherung formulieren Kasseler Wissenschaftler konkrete Forderungen für die Einhaltung rechtsstaatlicher Grenzen.



Sechs Ratschläge an die EU, 20 an Bundesregierung und Parlament: Wissenschaftler der Universität Kassel fordern, bei Internetüberwachung rechtsstaatliche Grenzen einzuhalten - und sie haben dafür konkrete Kriterien entwickelt, die bei jeder Überwachung in einem demokratischen Rechtsstaat einzuhalten sind. "Diese Kriterien bieten eine Bewertungsgrundlage für Stellungnahmen der Bundesregierung gegenüber Überwachungsprogrammen wie Prism der amerikanischen NSA oder wie Tempora des britischen GCHQ", sagt Prof. Dr. Alexander Roßnagel, Leiter des Fachgebiets Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Recht der Technik und des Umweltschutzes an der Universität Kassel: "Sie gelten ebenso für Zusammenarbeit deutscher Geheimdienste mit der NSA. Sie sind schließlich auch relevant für die Entscheidung des EuGH über die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung oder für eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland."

In dem gerade erschienenen Buch "Interessenausgleich im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung" präsentieren Prof. Dr. Alexander Roßnagel und Antonie MoserKnierim von der Universität Kassel sowie Sebastian Schweda vom Institut für Europäisches Medienrecht (EMR), Saarbrücken, die Ergebnisse des gleichnamigen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojekts.

Ausgangspunkt der Überlegungen sind die Pflicht des Staates zum Schutz seiner Bürger und die scheinbar widersprechende Pflicht zum Schutz ihrer Grundrechte. Beide Pflichten lassen sich nur harmonisieren, wenn der Schutz der Bürger auch den Schutz ihrer Grundrechte umfasst und nicht zu ihren Lasten geht. Insofern sind Beschränkungen der Sicherheitsvorsorge das Markenzeichen eines demokratischen Rechtsstaats. Ausgangspunkt der Suche nach einer Harmonisierung von Sicherheit und Freiheit sind die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom 2. März 2010, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Überwachungsstaat sein darf, und die Forderungen, die das Gericht daraus abgeleitet hat.

Unter der Prämisse, dass eine europäische Richtlinie die Bundesrepublik Deutschland weiterhin zwingt, eine Vorratsdatenspeicherung durchzuführen, untersuchen die Autoren und die Autorin, welche rechtsstaatlichen Kriterien eine solche Überwachungsmaßnahme nach europäischem und deutschem Verfassungsrecht erfüllen muss und wie sie gestaltet werden kann, um einen bestmöglichen Interessenausgleich zwischen Sicherheit und Freiheit zu erreichen. Sie gelangen dabei zu sechs Empfehlungen, die europäische Richtlinie rechtsstaatlicher zu gestalten, und zu 20 Empfehlungen, Freiheitsrechte bei ihrer Ausgestaltung in Deutschland besser zu berücksichtigen. "Diese Kriterien und Empfehlungen gelten auch für deutsche Aktivitäten in Bezug auf Überwachungsmaßnahmen ausländischer Geheimdienste", betont Roßnagel.

Zur Entwicklung der Gestaltungsvorschläge wurden zum einen die Umsetzungsregelungen in 26 Mitgliedstaaten der Europäischen Union einer rechtsvergleichenden Betrachtung unterzogen und "Best Practices" für einen Interessenausgleich ermittelt. Zum anderen wurde eine verfassungsrechtliche Analyse aller von der Vorratsdatenspeicherung betroffenen Rechtspositionen durchgeführt, um zu ermitteln, wo ein optimierter Interessenausgleich erforderlich ist. Die Untersuchung gelangte u.a. zu folgenden Ergebnissen:

Die Speicherfrist sollte möglichst kurz bemessen werden, da mit der Speicherdauer die Relevanz der Daten für die Aufklärung sinkt, zugleich aber das Gewicht des Grundrechtseingriffs zunimmt.

Die Speicherung darf nur bei den Telekommunikationsunternehmen, nicht bei den Behörden erfolgen. Um eine mehrfache Speicherung zu vermeiden, sollte die Bundesnetzagentur die Unternehmen so auswählen, dass möglichst wenige zur Speicherung verpflichtet sind. Für sie sollte zur Sicherung der Wettbewerbsgleichheit eine Kostenerstattung erfolgen. Für den Schutz der gespeicherten Daten ist ein "besonders hoher Sicherheitsstandard" (BVerfG) zu fordern.

Eine Herausgabe einzelner Daten darf nur zum Schutz überragend wichtiger Rechtsgüter zulässig sein. Diese Voraussetzung ist durch einen Richter zu prüfen. Die Anfrage ist über die Bundesnetzagentur zu leiten, die eine Statistik über die Anfragen führt. Die Anfragenden haben die Ergebnisse der Datenverwendung an diese zentrale Stelle zu melden.

Der Betroffene ist rechtzeitig zu informieren, so dass er die Rechtmäßigkeit der Datenauskunft nachprüfen und diese unter Umständen gerichtlich angreifen kann.

Zum Schutz besonderer Vertrauensbeziehungen dürfen keine Daten eines Geheimnisträgers (z.B. Anwälte, Pfarrer oder Journalisten) gespeichert werden.

Vor jeder neuen Überwachungsmaßnahme ist der gesamtgesellschaftliche Grad der Überwachung im Rahmen einer "Überwachungs-Gesamtrechnung" zu prüfen, um zu verhindern, dass das Überwachungsniveau ein unvertretbares Ausmaß erreicht. Notfalls können Überwachungsmaßnahmen nicht addiert, sondern nur ausgetauscht werden.

Das neu erschienene Buch zeigt, dass für eine Optimierung des Interessenausgleichs zwischen Freiheit und Sicherheit vielfältige Elemente als Anknüpfungspunkte dienen können. Diese können insgesamt das Gewicht des Grundrechtseingriffs von Überwachungsmaßnahmen stark reduzieren. "Es bleibt jedoch auch in diesem Fall bei einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff, der zu einer Begrenzung von Überwachungsmaßnahmen insgesamt führen muss", so Roßnagel.


Roßnagel/Moser-Knierim/Schweda: Interessenausgleich im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung - Analysen und Empfehlungen. Reihe: Der elektronische Rechtsverkehr, Band 28, Nomos Verlag, Baden-Baden 2013, 274 S.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution45

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Kassel, Sebastian Mense, 07.08.2013
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2013