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PROZESS/001: Bedrohte Anwälte - Berufsrisiko Türkei (SB)


Stilles Einverständnis mit Rechtsbrüchen in der Türkei



Menschenrechte, so lernen Erstsemester an den juristischen Fakultäten demokratischer Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland und der übrigen europäischen Staaten, gelten bedingungs- und ausnahmslos für alle Menschen. Werden sie für einen einzigen Staatsbürger außer Kraft gesetzt, ist der mit ihnen postulierte rechtsstaatliche Anspruch als ein bloßes Schutzversprechen gegen staatliche Willkür und gewaltsame Übergriffe entlarvt. Zum Staatsverständnis rechtsstaatlich verfaßter Demokratien gehört ein Strafrecht, das diesen Grundsätzen in seiner Systematik wie praktischen Anwendung entspricht, betrifft es doch einen der sensibelsten Bereiche im direkten Verhältnis zwischen Bürger und Staatsgewalt. Zum Grundrechtsschutz gehören Instanzen, die gegebenenfalls auf glaubwürdige und effektive Weise Vorwürfen wegen Menschenrechtsverletzungen nachgehen. Die im Europarat 1949 zusammengeschlossenen europäischen Staaten haben eine Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundrechte beschlossen, in der die Rechte auf ein faires Verfahren (Art. 6) und der Grundsatz Keine Strafe ohne Gesetz (Art. 7) festgeschrieben wurden.

In der Türkei, einem Gründungsmitglied des Europarates, weisen Menschenrechtsverletzungen wie Folterungen, willkürliche Verhaftungen und Repressalien aller Art eine lange Tradition und Geschichte auf. Sie werden der türkischen Regierung, Lippenbekenntnissen gleich, wie es schon oftmals den Anschein hatte, immer nur dann zum Vorwurf gemacht, wenn es ihren europäischen Partnern aus gänzlich anderen Gründen gelegen kommt, zu Ankara eine gewisse Distanz zu wahren. Wäre dem nicht so, ließe sich kaum plausibel erklären, warum ein Strafverfahren, das in der Türkei derzeit gegen 46 Anwältinnen und Anwälte geführt wird, auf eine so geringe Resonanz in den Staaten der Europäischen Union stößt. In diesem Mammutverfahren stehen Menschen vor Gericht, die kurdische Angeklagte, so auch den Vorsitzenden der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, anwaltlich vertreten haben.

Eine Strafverteidigung, die rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt, ist in der Türkei infolge dieser Entwicklung nicht mehr möglich, muß doch nun jeder in der Türkei beruflich tätige Rechtsanwalt ebenfalls mit Strafverfolgung rechnen, so er ein "solches" Mandat übernimmt. Doch was genau bedeutet ein "solches" Verfahren? Ist eine Situation, in der diese Frage überhaupt gestellt werden muß, nicht schon ein Indiz für massive Rechtsbrüche, die so gravierend sind, daß das Rechtsstaatsprinzip an sich in Frage zu stellen wäre? Müßte nicht, zumal juristisch fachkundige Prozeßbeobachter aus vielen europäischen Staaten diesem Verfahren beiwohnen und darüber berichten, eine öffentliche Diskussion in Gang kommen, weil mehr und mehr Menschen sich auch in anderen Regionen Europas zu fragen beginnen, ob die vorwiegend Kurden betreffenden Rechtsverletzungen in der Türkei tatsächlich lediglich eine Ausnahme von der im übrigen gültigen Rechtsstaatsregel sein können?

Aus der Bundesrepublik Deutschland nahmen Prozeßbeobachterinnen des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte-Vereins und des Deutschen Anwaltvereins an dem Gerichtsverfahren teil. Beide Organisationen hatten bereits im Vorwege erklärt, es sei "höchst besorgniserregend, wenn die Verteidigungstätigkeit von Kolleginnen und Kollegen gleichgesetzt wird mit einer inhaltlichen Unterstützung der politischen Ziele der Mandantinnen und Mandanten. Ein faires Verfahren und die freie Ausübung der Verteidigungstätigkeit sind damit nicht mehr möglich." [1] DAV-Präsident Prof. Dr. Wolfgang Ewer hatte bereits im August dieses Jahres in einem Schreiben an den türkischen Justizminister, Sadullah Ergin, an die "Bedeutung der anwaltlichen Unabhängigkeit als elementaren Grundpfeiler eines jeden Rechtsstaats" [2] erinnert.

Die Frage jedoch, welche Konsequenzen eine Zuspitzung staatlicher Repression, wie sie zur Zeit im Zusammenhang mit dem kurdisch-türkischen Konflikt zu beobachten ist, die vor Verhaftungen und gezielter Strafverfolgung von Juristen, die die "falschen" Mandanten verteidigen, nicht Halt macht, wäre an die allem Anschein nach bislang nur mäßig - wenn überhaupt - interessierte Öffentlichkeit weit über die Grenzen der Türkei hinaus weiterzuleiten. Wie weit ist in den heutigen Gesellschaften der Europäischen Union bzw. des Europarats noch ein Problembewußtsein für derart sensible und potentiell jeden Menschen betreffende Fragen vorhanden? Spielt in den westlichen Staaten, die so viel auf Demokratie und Rechtstaatlichkeit geben, beispielsweise noch der "Artikel 16 der Grundprinzipien betreffend die Rolle der Rechtsanwälte der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1990" eine Rolle, demzufolge der Staat sicherzustellen hat, "dass Anwältinnen und Anwälte in der Lage sind, alle ihre beruflichen Aufgaben ohne Einschüchterung, Behinderung, Schikanen oder unstatthafte Beeinflussung wahrzunehmen"? [2]

Auch wenn kurdische Organisationen, deren tatsächliche oder auch nur mutmaßliche Mitglieder schwersten Repressalien ausgesetzt sind, von Brüsseler Institutionen, die im übrigen den harten Kurs Ankaras gegenüber der kurdischen Bevölkerung unterstützen, als strafverfolgungswürdig eingestuft werden, dürfte dies gemäß all der Abkommen, die zum Schutz der Menschenrechte bereits verfaßt wurden, nicht die geringsten Auswirkungen haben auf die Rechte, die den Gefangenen zustehen. Tatsächlich scheint es jedoch längst so zu sein, daß Anwälte, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, die beispielsweise öffentlich machen, daß Abdullah Öcalan seit einem Jahr sein verbrieftes Recht auf anwaltlichen Beistand vorenthalten wird, weil kein Anwalt mehr zu ihm gelassen wird, ihrerseits mit Strafverfolgung rechnen müssen.

Gründe, das Verfahren gegen die betroffenen Anwältinnen und Anwälte in der Türkei aufmerksam und kritisch zu verfolgen, gibt es weit über das solidarische Engagement berufsständiger und weiterer Bürgerrechtsorganisationen hinaus mehr als genug, steht doch zu befürchten, daß die Repressionsverschärfungen in diesem ganz an Rande liegenden Teil Europas zur Zuspitzung der Verhältnisse in der gesamten EU beitragen bzw. diese einleiten könnten.


Anmerkungen:

[1] Hauptverhandlung in dem Strafverfahren gegen 46 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in der Türkei, Pressemitteilung vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) vom 5.11.2012
http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/hauptverhandlung-in-dem-strafverfahren-gegen-46-rechtsanwaeltinnen-und-rechtsanwaelte-in- der-tuerkei-270/

[2] Strafverfahren gegen 46 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in der Türkei - Prozessbeobachtung durch DAV und RAV, Pressemitteilung Nr. 21/12 des Deutschen Anwaltverein vom 05.11.2012
http://www.anwaltverein.de/interessenvertretung/pressemitteilungen/pm-2112


8. November 2012