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REDE/506: Gabriel - Regierungserklärung zum Jahreswirtschaftsbericht 2014, 13.02.14 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Regierungserklärung des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, zum Jahreswirtschaftsbericht 2014 der Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag am 13. Februar 2014 in Berlin:

"Soziale Marktwirtschaft heute - Impulse für Wachstum und Zusammenhalt"



Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Deutschland besitzt ein Erfolgsmodell für eine langfristig ökonomisch und sozial nachhaltige Entwicklung: das Modell der sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehört beides: innovative, wettbewerbsfähige Unternehmen mit Unternehmerinnen und Unternehmern, die zu einer höheren Investitionsquote beitragen, und gute Löhne, die der Inflation und der Produktivität Rechnung tragen und den Spielraum für den Wohlstandszuwachs der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausschöpfen.

Der Jahreswirtschaftsbericht 2014 will die Aufmerksamkeit auf dieses deutsche Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft richten, das sich nicht zuletzt nach den Erschütterungen in der Finanzmarktkrise so glänzend bewährt hat. Wir sagen: Lassen Sie uns das stärken, was unserem Land in der Vergangenheit gutgetan hat: eine Wirtschaftspolitik - und übrigens auch eine Energiepolitik -, die nicht nur einzelne Interessen bedient, sondern die ganze Gesellschaft im Blick hat, und ein Versprechen von Wohlstand, das allen sozialen Schichten etwas zu bieten hat.

Fairer Wettbewerb, die Effizienz der Märkte nutzen sowie eine gerechte Einbettung in soziale und ökologische Rahmenbedingungen sind in der Marktwirtschaft keine Gegensätze, sondern Prinzipien, die sich ergänzen und unsere Gesellschaft produktiver und lebenswerter machen.

In diesem Jahr liegt der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 100 Jahre zurück und der Beginn des Zweiten Weltkrieges 75 Jahre. Im Rückblick wird klar: Nicht nur die Demokratisierung unseres Landes war eine Lehre aus dieser Katastrophe, sondern auch die Überwindung der scharfen sozialen Gegensätze - von massenhafter Unsicherheit bis Arbeitslosigkeit und Elend - war und bleibt eine Lehre unserer Geschichte. Wenn Historiker heute von der "geglückten Demokratie" der Bundesrepublik sprechen, meinen sie damit auch und gerade den wirtschaftlichen Neuanfang, für den Ludwig Erhard die Formel "Wohlstand für Alle" gefunden hat. Natürlich gibt es auch in unserem Land gute und weniger gute Traditionen; aber die soziale Marktwirtschaft gehört zu den besten Traditionen der deutschen Geschichte. An ihr wollen wir auch in Zukunft anknüpfen.

Ich verstehe die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung als Angebot an engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer, an das Handwerk, an den Mittelstand und auch an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn Wirtschaftspolitik ist eben auch immer Gesellschaftspolitik. Sie soll mithelfen, stabile, soziale, gerechte und faire Rahmenbedingungen für unsere Gesellschaft zu schaffen. Das Wirtschaftsministerium steht als Haus der Wirtschaft Unternehmerinnen und Unternehmern deshalb ebenso offen wie den Vertretern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Gewerkschaften. Sie alle miteinander sind die Wirtschaft, und sie sind die Sozialpartner unseres Landes.

In der Öffentlichkeit mag man sich vielleicht darüber wundern, dass der Jahreswirtschaftsbericht vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Jahreswirtschaftsberichte ein Dokument ist, in dem steht, dass ein Wirtschaftsminister den Mindestlohn für richtig empfindet.

Ich will gar nicht auf die Frage eingehen, ob die Höhe des Mindestlohns gerechtfertigt ist und ob er schnell genug kommt. Das ist in der politischen Debatte umstritten. Ich will vielmehr darauf hinweisen, dass der Mindestlohn nicht nur wegen seiner Höhe oder wegen seines ökonomischen Beitrags für den einzelnen Arbeitnehmer von Bedeutung ist. Es geht im Kern in der Debatte über die soziale Marktwirtschaft nämlich darum, dass Arbeit und Leistung ihren Wert haben müssen. Der Wert der Arbeit und übrigens auch die Würde und Wertschätzung des arbeitenden Menschen müssen in einer sozialen Marktwirtschaft zum Ausdruck kommen. Man kann wahrlich nicht sagen, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro eine überschäumende Wertschätzung ist. Aber er ist zumindest eine Abkehr von dem unwürdigen und entwürdigenden Zustand, dass Menschen den ganzen Tag arbeiten und hinterher trotzdem zum Sozialamt gehen müssen. Damit muss in unserem Land Schluss sein.

Die soziale Marktwirtschaft ist nicht deshalb groß geworden, weil die Menschen wussten, dass nach Arbeit unmittelbar paradiesische Zustände eintreten. Aber sie wussten - und das war die Lebenserfahrung auch meiner Generation -, dass Arbeit sich lohnt und dass es Stück für Stück besser werden kann. Der Spruch der Eltern an die Adresse der Kinder "Du sollst es einmal besser haben als wir" wurde in vielen Generationen der Republik zur Realität.

Wir haben heute - das ist eines der Probleme der Marktwirtschaft - einen gespaltenen Arbeitsmarkt. Wir haben das Nichtvorhandensein von Mindestlöhnen. Wir haben die Zunahme von Leih- und Zeitarbeit. Es gibt das Werksvertragsarbeitnehmerunwesen. Das alles ist nicht nur in ökonomischer Hinsicht ein Problem für die betroffenen Menschen, und es ist nicht nur sozial ungerecht, sondern es ist im Kern gegen die Idee der Marktwirtschaft gerichtet, die besagt, dass Arbeit und Leistung sich lohnen müssen und dass es Menschen durch Arbeit in ihrem Leben besser gehen muss. Das ist das Problem dieser Entwicklung.

Es ist richtig, dass der Mindestlohn Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat. Es ist übrigens auch gut, dass er mit dem Angebot verbunden ist, zum System der Tarifverträge zurückzukehren. Denn dass in Ostdeutschland 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinen Tarifvertrag haben, ist ein Zustand, an dem selbst die schnelle Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro nichts ändern würde. Wir wollen nicht nur Mindestlöhne. Wir wollen gute Tariflöhne in unserem Land. Das ist das, was wir eigentlich erzeugen wollen.

Ich mache übrigens für den Gedanken kein Urheberrecht geltend. Einer der Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft, Walter Eucken, sozusagen der Ordoliberale unseres Landes, hat vor mehr als 60 Jahren präzise das Gleiche formuliert. Lohnverfall hat er als Anomalie des Arbeitsmarktes bezeichnet. Wo der Arbeitsmarkt nachhaltig anomal, weil vermachtet ist, da wird - ich zitiere - "die Festsetzung von Mindestlöhnen akut".

Darauf zu setzen, zeigt eine im Kern ordoliberale Vorstellung. Das Problem ist, dass in der Vergangenheit manche das Buch von Ludwig Erhard zwar hochgehalten, aber möglicherweise nur die Klappentexte gelesen haben.

Die Einführung eines Mindestlohns ist nicht nur sozialpolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch geboten. Der Mindestlohn ist sozusagen Kernbestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Hatten wir Jahre, in denen die Steigerung von Löhnen und Gehältern nicht die Produktivitätsfortschritte und manchmal nicht einmal die Inflationsentwicklung widerspiegelten, so werden sich - das ist die Projektion des Jahreswirtschaftsberichtes 2014 - Löhne und Gehälter nun endlich wieder entlang von Produktivität und Inflationsrate entwickeln.

Ich habe gestern erleben müssen, dass meine Formulierung, es sei gut, wenn sich Löhne und Gehälter entlang von Produktivität und Inflationsrate entwickelten, als Aufforderung zur Lohnzurückhaltung kritisiert worden ist. Ich habe - das will ich hier einmal deutlich sagen - mit 19 Jahren meinen ersten Lehrgang bei der IG Metall besucht, nämlich den Funktionärslehrgang eins. Das sollten Sie auch einmal tun. Dort habe ich gelernt, was eine gewerkschaftliche Lohnforderung ist. Diese setzt sich zusammen aus dem Ausgleich der Inflationsrate, der Zunahme der Produktivitätsrate und, wenn Gewerkschaften richtig kräftig sind, aus dem Element der Umverteilung. Zwei Drittel der Forderung der IG Metall hinsichtlich der Zusammensetzung der Lohnsteigerung sind in diesem Jahreswirtschaftsbericht zu finden, und Sie von der Opposition kritisieren das immer noch. Also, ich verstehe Sie nicht. Es ist volkswirtschaftliche Normalität und Grundlage jeder Tarifverhandlung, Tariferhöhungen daran zu orientieren, wie sich Produktivität und Inflationsrate entwickeln. Dann muss man schauen, ob man die Kraft hat, noch ein bisschen mehr zu erreichen.

In unserem Land hatten wir in den letzten Jahren eher sinkende Reallöhne. Jetzt haben wir mit einer Reallohnsteigerung von 1,1 Prozent die stärkste Steigerung seit 2010. Wir gehen in der Prognose davon aus, dass die durchschnittliche Erhöhung der Löhne bei 2,7 Prozent liegen wird. Das ist aber der Durchschnitt für die gesamte Volkswirtschaft. Natürlich wird es Tarifbereiche geben, in denen die Lohn- und Gehaltsentwicklung darüber liegen wird.

Ich finde diese Lohnentwicklung in Deutschland gut; denn wir sehen anhand der Jahresprojektion, dass das wirtschaftliche Wachstum unseres Landes in den nächsten Jahren im Wesentlichen durch die Binnenkonjunktur getragen werden wird. Der Mindestlohn, die Verhinderung von Rentenkürzungen nach langen Arbeitsjahren und die gesellschaftliche Akzeptanz von Erziehungsleistungen, die mit einer höheren Rente verbunden sind - das sind die Beschlüsse der Bundesregierung zur Rentenpolitik -, stärken die Kaufkraft im Land. Das ist auch wichtig, weil das prognostizierte Wirtschaftswachstum von 1,8 Prozent in diesem Jahr sowie im kommenden Jahr und im weiteren Verlauf von sogar zwei Prozent ganz wesentlich von der Binnenkonjunktur getragen wird.

Deshalb gibt es die Entwicklung, dass Menschen wie im letzten auch in diesem Jahr mit steigenden Einkommen rechnen können. Die Menschen in Deutschland haben übrigens das Gefühl, dass sich die Wirtschaft gut entwickelt und sie keine Sorgen um ihre Arbeitsplätze haben müssen. Das ist die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung. Das ist die Grundlage dafür, dass wir auch im europäischen Vergleich einen Teil der Kritik, die die Europäer an uns haben, nämlich dass wir zu geringe Löhne hätten, zurückweisen können; denn dann, wenn sich die ökonomische Entwicklung unseres Landes gut darstellt, gibt es Tarifabschlüsse mit höheren Löhnen.

Wir sehen, dass in diesem Jahr die Importe erheblich zunehmen werden. Der Export, obwohl er nach wie vor ein wichtiger Bestandteil der deutschen Wirtschaft ist, treibt nicht alleine das Wirtschaftswachstum an. Deshalb freuen wir uns darüber, dass die gute Lohn- und Einkommensentwicklung im letzten und in diesem Jahr dazu führen wird, dass sich die Binnenkonjunktur in unserem Land stärker entwickeln wird.

Die Exporte nehmen zu. Das ist Ausdruck der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Für die Importe gilt das aber eben auch. Nur eine Bemerkung zum Thema Leistungsbilanzüberschuss: Durch die Importsteigerungen reduzieren wir diesen Überschuss ein bisschen. Man sollte aber auch noch einmal deutlich sagen, dass die hohen Exporte unseres Landes vor allen Dingen Ausdruck der Innovationskraft und der hohen Produktivität unserer Unternehmen sind - nichts anderes. Die Grundlage dieser hohen Produktivität sind Forschung und Entwicklung und die hohe Qualifikation unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist die Grundlage des Erfolges der Unternehmen und der guten Exportzahlen.

Die deutsche Industrie zieht Vorleistungen ins Land, die wir übrigens auch dringend brauchen; denn sie sind Teil unserer und Teil der europäischen Wertschöpfungskette. Diese stützen auch die Erholung in Europa; denn ein Großteil der Einfuhren der europäischen Länder kommt von ihren europäischen Handelspartnern.

Zentrale Stütze des Aufschwungs in diesem Jahr wird aber, wie schon gesagt, der private Konsum sein. Nach einer Steigerung des privaten Konsums um real 0,9 Prozent im letzten Jahr - das entspricht einem Wachstumsbeitrag von 0,5 Prozentpunkten - erreichte der Konsumklimaindex im Januar den höchsten Wert seit der Finanzkrise. Dass die Deutschen der Meinung sind, dass sie mehr konsumieren können, weil sie höhere Einkünfte haben, und glauben, dass ihre Jobs sicher sind, macht das doch nicht schlecht. Es ist schwer, das zu kritisieren. Selbst Sie müssten sich eigentlich darüber freuen. Ich dachte, 240.000 zusätzliche Arbeitsplätze und ein Beschäftigungsstand mit einem Rekordwert von 42,1 Millionen Personen sind ein Grund zur Freude - auch für Sie.

Die zweite wichtige Stütze für das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr sind die Investitionen. Bei den Unternehmensinvestitionen haben wir im vergangenen Jahr die Trendwende geschafft. Für das Jahr 2014 erwarten wir einen spürbaren Anstieg um vier Prozent.

Angesichts der zunehmenden Kapazitätsauslastung investieren die Unternehmen verstärkt in neue Maschinen und Ausrüstungen. Das ist ein ausgesprochen positives Signal. Das Land braucht dringend neue Investitionen. Wir dürfen nicht zusehen, wie das Anlagekapital der Unternehmen veraltet, wie die öffentliche Infrastruktur auf Verschleiß läuft und wie Straßen, Schienen, Brücken oder auch kommunale Gebäude vor die Hunde gehen, und wir dürfen auch die digitale Moderne nicht verschlafen und müssen die Investitionen in Breitbandnetze vorantreiben - insbesondere im ländlichen Raum, weil die kleinen und mittelständischen Betriebe dort ansonsten einen massiven Wettbewerbsnachteil hätten.

Der Blick auf die aktuell günstige Konjunkturlage darf uns aber nicht die Augen davor verschließen lassen, dass es natürlich auch erhebliche Risiken und Herausforderungen gibt. Ich will ein paar davon nennen:

Da ist erstens die Entwicklung im Euro-Raum. Wir müssen nach wie vor um die Stabilisierung des Euro-Raums und Europas kämpfen. Das heißt, neben der Konsolidierung und Strukturreformen müssen wir in Wachstum und Arbeit in Europa investieren.

Zweitens. Wir sehen es gerade in den Schwellenländern: Die Regulierung der Finanzmärkte, insbesondere des Schattenbankenwesens, ist nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben, vor denen wir stehen. Dort entstehen die Risiken für die Realwirtschaft, und ich kann nur hoffen, dass es uns trotz der Schwierigkeiten gelingt, die Bankenunion in diesem Jahr unter Dach und Fach zu bekommen. Aufgrund der aktuellen Debatte darauf zu schließen, dass sie ein Jahr später oder noch später kommt, wäre, glaube ich, ein ganz schlechtes Signal für die Stabilität im Euro-Raum.

Aber auch im Inland gibt es eine ganze Reihe von Herausforderungen. Eine davon ist zum Beispiel die zu geringe Investitionsquote. Wenn wir das von der OECD geforderte Niveau erreichen wollen, dann müssen wir wesentlich mehr tun, als wir derzeit schaffen. Selbst die erhöhten Investitionen durch die Bundesregierung im Verkehrssektor, in Hochschulen und im Städtebau reichen nicht aus.

Ich bin gestern gefragt worden, welche Chance wir haben, die öffentlichen Investitionen zu verstärken. Die Debatte über die Finanzbeziehungen von Bund, Ländern und Gemeinden, die wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben - es geht dabei darum, Aufgaben und Finanzverantwortung endlich wieder zusammenzubringen -, muss im Ergebnis zur finanziellen Entlastung der Kommunen führen; denn zwei Drittel der öffentlichen Investitionen tätigen nicht Bund und Länder, sondern Städte und Gemeinden. Diese müssen wir in ihrer Finanzkraft wieder stärken. Dann sind wir auch in der Lage, mehr zu investieren.

Wir haben erheblichen Nachholbedarf in der öffentlichen Infrastruktur. Wir haben Schwierigkeiten im Bereich der Energiekosten. Natürlich erhöhen wir mit unseren Beschlüssen zur Rente, zur Pflegeversicherung und zum Arbeitsmarkt die Arbeitskosten der deutschen Wirtschaft. Das darf niemand verschweigen. Umso wichtiger ist es, dass wir die Kosten nicht auch noch im Energiebereich und in anderen Bereichen weiter ansteigen lassen. Unser ganzes Augenmerk muss daher darauf gerichtet sein, im Rahmen der Energiewende Versorgungssicherheit und Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen. Ich verzichte heute auf eine Reihe von Bemerkungen zur Energiepolitik, weil wir im Haus noch ausreichend Gelegenheit haben werden, darüber zu sprechen.

Die Dynamik der Unternehmensgründungen ist zurückgegangen. Wir haben Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in industrielle Prozesse. Es gibt also eine Reihe von Herausforderungen, die wir in unserem Land bewältigen müssen, um Rahmenbedingungen zu erhalten, mit denen wir dafür sorgen, dass diese wirtschaftliche Entwicklung nicht nur im Moment als positiv erscheint, sondern auch nachhaltig fortgeschrieben wird.

Ostdeutschland - das wird in der nächsten Woche die Debatte um den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit zeigen - hat bei allen Erfolgen immer noch erhebliche Investitions-, Produktivitäts- und Lohnlücken. In der ostdeutschen Wirtschaft haben sich inzwischen industrielle Kerne gebildet. Gerade in dieser Woche war ich bei einem Unternehmen in Leipzig, in dem eine halbe Milliarde Euro in die Produktion investiert wurde. Viele gute Beispiele zeigen: Die Reindustrialisierung in Ostdeutschland ist in vielen Bereichen gelungen. Aber wir dürfen bei der regionalen Wirtschaftsförderung nicht nachlassen.

Diesem Ansatz entspricht auch die Idee, dass wir im Zusammenhang mit der Reform der Gemeinschaftsaufgabe für die Förderung der regionalen Wirtschaft nicht nur die Mittel wieder anheben, sondern in Zukunft auch Förderstrukturen entwickeln, bei denen wir, wie das meine Kollegin in Nordrhein-Westfalen immer sagt, nicht nach Himmelsrichtungen fördern, sondern da fördern, wo der wirtschaftliche und soziale Nachholbedarf am größten ist. Ohne Zweifel ist das auch in Zukunft in weiten Bereichen Ostdeutschlands der Fall. Wir haben Erfolge. Aber wir dürfen uns mit ihnen nicht zufriedengeben.

Nicht zuletzt ist auch die Deckung des Fachkräftebedarfs in den kommenden Jahren eine der größten Herausforderungen. Wir haben uns deshalb im Koalitionsvertrag die Allianz für Fachkräfte auf die Fahne geschrieben. Ich bin allerdings - das gebe ich zu - bei solchen Allianzen gelegentlich ernüchtert. Da wird oft sehr viel besprochen. Aber am Ende muss man aufpassen, dass das, was verabredet ist, auch umgesetzt wird. Wenn der Streit um Zuständigkeiten unsere einzige Aktivität ist, werden wir am Ende scheitern. Deswegen sollten wir uns konkrete Ziele setzen: weniger Schulabbrecher, mehr Ausbildungsplätze, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mehr Chancen für Frauen und natürlich auch ein für Zuwanderinnen und Zuwanderer offenes Land, das sich über diese Zuwanderung freut.

Wir mobilisieren in dieser Legislaturperiode sechs Milliarden Euro zur Entlastung von Ländern bei der Finanzierung von Kitas, Schulen und Hochschulen. Drei Milliarden Euro kommen dem Aufwuchs bei der universitären Forschung zugute. Wir investieren in Köpfe, vor allem auch in umsetzungsfähige und anwendungsnahe Ideen.

Das, was der Jahreswirtschaftsbericht abbildet, ist einerseits das Ergebnis einer guten wirtschaftlichen Entwicklung. Politische Rahmenbedingungen haben in den letzten zehn Jahren dazu geführt, dass Unternehmen flexibel und innovativ sein konnten und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Qualifikation zugunsten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einsetzen konnten. Der Bericht markiert andererseits die Herausforderungen, denen wir uns in diesem Jahr und in den kommenden Jahren stellen werden und bei denen wir auch nachhaltige Erfolge haben werden.

Eine der Möglichkeiten, den Erfolg fortzuschreiben, ist die Neuverhandlung des Transatlantischen Freihandelsabkommens. Ich sage das deshalb, weil in der öffentlichen Debatte zu Recht Sorgen geäußert werden: hinsichtlich der Gefahr einer Absenkung von sozialen Rechten, hinsichtlich der Gefahr von Lohndumping, auch hinsichtlich der Absenkung von kulturellen Standards, die wir in unserem Land erreicht haben. Aber nur die Sorgen zu formulieren und die Chancen eines Freihandelsabkommens zu verschweigen, ist auch nicht der richtige Umgang mit diesem Thema. Ich finde, woran wir ein Interesse haben müssen, ist, dass das Freihandelsabkommen nicht zum Dumpingabkommen wird, in keinem Bereich. Dafür werden wir uns miteinander einsetzen.

Wir wollen keine neue Runde der blinden Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Das wollen wir nicht. Aber wir wollen die Chance nutzen, zwischen der Europäischen Union und Amerika den größten Freihandelsmarkt der Welt zu erzeugen und übrigens damit in unserem Land und in anderen Ländern ganz erheblichen wirtschaftlichen Erfolg und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube, wir brauchen beides.

Die Bundesregierung ist dazu bereit, eine transparente Debatte über das Freihandelsabkommen zu führen. Ich jedenfalls bin auch persönlich dazu bereit, zu erläutern, wo aus meiner Sicht Risiken und Aufgaben liegen und worauf man achten muss, damit erreichte europäische und deutsche Standards nicht nivelliert werden. Aber ich finde, wir müssen in der Öffentlichkeit auch darstellen, was wir für Chancen mit diesem Freihandelsabkommen haben, damit nicht der Eindruck entsteht, dies sei sozusagen ein Freihandelsabkommen für amerikanische Spionage. Darum geht es gerade nicht.

Nein, es geht darum, dass wir eine Chance schaffen für viele, viele Leute in diesem Land, die Zukunftsperspektiven für sich und übrigens auch für ihre Kinder brauchen. Das, glaube ich, geht, wenn man Debatten unideologisch, pragmatisch und unter Wahrung der eigenen Interessen führt. So können wir gemeinsam wirtschaftlichen Erfolg für unser Land herstellen, und der bedeutet immer Erfolg für Unternehmen, aber auch Erfolg und faire und gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Beides ist Gegenstand der sozialen Marktwirtschaft, und die wollen wir weiterentwickeln.

*

Quelle:
Bulletin 14-1 vom 13. Februar 2014
>Regierungserklärung des Bundesministers für Wirtschaft und Energie,
Sigmar Gabriel, zum Jahreswirtschaftsbericht 2014 der Bundesregierung
vor dem Deutschen Bundestag am 13. Februar 2014 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2014