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REDE/477: Kanzlerin Merkel beim XIX. Deutschen Bankentag, 31. März 2011 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim XIX. Deutschen Bankentag des Bundesverbandes deutscher Banken am 31. März 2011 in Berlin:


Sehr geehrter Herr Schmitz,
meine Damen und Herren!

Ich bin Ihrer Einladung zum 19. Deutschen Bankentag des Bundesverbandes deutscher Banken sehr gerne gefolgt. Alle fünf Jahre gibt es die einmalige Gelegenheit, die Entwicklung im Finanzsektor jenseits des Tagesgeschehens grundsätzlicher zu betrachten. Ich glaube, gerade auch der Bankentag 2011 bietet dazu ausreichend Gelegenheit. Denn die Zeit seit dem letzten Bankentag im Jahr 2006 darf man doch wohl zu den dramatischeren Abschnitten des 110-jährigen Bestehens des Bankenverbandes zählen. Ich glaube, zumindest in dieser Einschätzung sind wir uns alle einig.

Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat uns in den vergangenen Jahren vor riesige und zum großen Teil auch bisher nicht gekannte Herausforderungen gestellt. Sie hat die Vernetzung der Welt aufgezeigt. Sie hat weltweit Märkte in Aufruhr versetzt. Sie hat in großem Umfang Vermögenswerte vernichtet. Sie hat viele, viele Menschen zutiefst verunsichert. Sie hat Fragen über die Verantwortung von Politik, Wirtschaft und Banken aufgeworfen. Ich glaube, ich sage nichts Falsches, wenn ich sage: Die Krise ging vom Finanzsektor aus. Er trägt damit eine gewichtige, wenn auch beileibe nicht die alleinige Verantwortung. Deshalb ist der Leitgedanke der gemeinsamen Verantwortung für den Finanzplatz Deutschland ein wirklich richtiger und prägender Gedanke für den Bankentag 2011.

Der Bundespräsident hat schon heute Morgen auf moralische Folgerungen hingewiesen. Angesichts der Wichtigkeit der Entwicklungen im Finanzsektor ist es auch akzeptabel, dass Bundespräsident und Bundeskanzlerin bei einer Veranstaltung am selben Tag sprechen. Das ist hochgradig ungewöhnlich. Aber Sie können das damit erklären, dass in den letzten fünf Jahren so viel Prägendes passiert ist.

Wir tragen gemeinsam Verantwortung für den Finanzplatz. Wir tragen damit eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Dies ist auch adäquat dazu, dass die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die von uns allen akzeptiert ist, die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft ist. In der Sozialen Marktwirtschaft gibt es durch die Politik einen Rahmen, innerhalb dessen sich Unternehmen und Bürger frei entfalten können. Die Soziale Marktwirtschaft ist eine zutiefst demokratische Ordnung. Alle Partizipanten in der Sozialen Marktwirtschaft haben die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten.

Wir alle haben in der internationalen Finanzkrise in besonderem Maße erlebt, dass den Finanzinstitutionen - sprich: den Banken - eine Schlüsselrolle zukommt. Sie sind in nahezu alle wirtschaftlichen Prozesse eingebunden. Sie nehmen Einlagen an. Sie reichen Kredite aus. So schaffen sie Voraussetzungen für Investitionen, Konsum und Wirtschaftswachstum.

Ich glaube, wir sollten wieder zu einer gesamtheitlichen Betrachtung zurückkehren. Die Unterteilung in Finanzwirtschaft hier und in Realwirtschaft dort war vielleicht in manchen Phasen der Krise ganz interessant. Aber zum Schluss muss die Soziale Marktwirtschaft das gemeinsam überwölbende Dach sein, inklusive der gesellschaftlichen Bedeutung.

Ich will es so ausdrücken: In der Sozialen Marktwirtschaft haben Banken eine dienende Funktion. Sie sind Dienstleister für Bürger und für Unternehmen. Sie alle wissen: Vertrauen ist ein Schlüssel für das Funktionieren der Sozialen Marktwirtschaft, der Marktwirtschaft insgesamt. Deshalb ist das Vertrauen in die Dienstleistungen der Banken auch so unabkömmlich und unmittelbar wichtig, damit Tätigkeit im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft gelingen kann.

Das heißt, Vertrauen ist ein unbedingt notwendiger Bestandteil funktionierender Wirtschaftskreisläufe und stabiler Gemeinwesen. Hier sitzen wir nun wirklich in einem Boot. Deshalb tragen wir auch eine gemeinsame Verantwortung für dieses Vertrauen, wenn man - das sieht man ja an der 110-jährigen Geschichte des Bankenverbandes - zumindest nicht nur zu einem einzigen Zeitpunkt im Leben einmal ein großes Geschäft machen will, sondern wenn man darauf ausgerichtet ist, nachhaltig und längerfristig in einem Wirtschaftssystem agieren zu wollen.

Dieses Vertrauen ist aber in der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise zutiefst erschüttert worden. Sie hat uns gezeigt, dass eine nationale und auch eine europäische Betrachtung allein nicht mehr zweckdienlich sind. Zu viele hochriskante und intransparente Geldgeschäfte haben Schockwellen ausgelöst und das Finanzsystem an den Rand eines Zusammenbruchs geführt. Staaten, Regierungen mussten sozusagen Verantwortung für diesen Sektor übernehmen; und das haben sie auch. Aber die Tatsache, dass staatliche Institutionen und letztlich die Steuerzahler Verantwortung gezeigt haben, ist ein Sachverhalt, der nicht wiederholbar ist, sondern aus dem Lehren gezogen werden müssen. Das ist der Kern der Diskussion, die wir miteinander zu führen haben.

Es war natürlich eine Erfahrung der Handlungsfähigkeit von Staaten, dass binnen weniger Tage Fonds zur Finanzmarktstabilisierung eingerichtet wurden und dass dadurch viele Finanzinstitutionen ihre Existenz sichern konnten. Die Alternativen wären viel, viel gravierendere Schäden nicht nur für die Finanzinstitutionen, sondern für die Gesellschaften insgesamt gewesen. Deshalb haben wir mit Blick auf unsere gesamten Volkswirtschaften die auch im Rückblick richtigen Entscheidungen getroffen. Aber - und das muss gesagt werden - daraus dürfen keine falschen Schlussfolgerungen gezogen werden. Wenn die Schlussfolgerung einiger Marktteilnehmer sein sollte, dass bei Schieflagen großer Institute regelmäßig die Staaten zu Hilfe eilen, wäre das falsch.

Sie müssen staatliche Institutionen und Regierungen verstehen, die alles daransetzen, dass eine solche Situation nicht wieder entsteht. Dazu brauchen wir ein möglichst kooperatives Verhältnis zu den Finanzinstitutionen. Wenn uns die gemeinschaftliche Erkenntnis eint, dass sich eine solche Situation nicht wiederholen darf, werden wir auch die richtigen Lösungen finden. Wenn uns diese Erkenntnis nicht eint, haben wir ein ernsthaftes Problem. Denn es ist normalerweise nicht die Aufgabe des Staates, notleidenden Banken unter die Arme zu greifen. Die Realwirtschaft kann davon ein Lied singen, dass es auch nicht die Aufgabe der Staaten ist, realwirtschaftlichen Institutionen unter die Arme zu greifen. Nur aus der Tatsache der Vernetzung sozusagen einen legitimen Anspruch abzuleiten - weil man systemisch ist, ist man sozusagen frei von allen Anforderungen -, wäre eine katastrophale Schlussfolgerung für die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Mechanismen in unserer Gesellschaft.

Das heißt, die Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft gelten auch für die Finanzinstitutionen. Sie profitieren von den Gewinnen. Sie tragen die Verluste. Unternehmen, die scheitern, verlassen den Markt. Das sind die Regeln. Deshalb müssen Banken wie alle anderen Unternehmen auch Eigenverantwortung übernehmen. Nur so können die richtigen Anreize wirken.

Diese Überzeugung hat dazu geführt, dass wir mit der Erfahrung dieser Finanzkrise gesagt haben: Wir müssen den Ordnungsrahmen reformieren. Ich denke, dass die neuen Finanzmarktregeln, die Einführung einer Schuldenbremse im Hinblick auf staatliche Finanzen und die Stärkung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion richtige Schlussfolgerungen sind.

Auf dem Weg zu einer Neugestaltung der Finanzmarktregeln haben wir einiges erreicht. Aber ich sage auch: Wir haben noch nicht alles erreicht. Es war richtig, bereits am Anfang der Finanzkrise zu sagen: Wir müssen jeden Finanzplatz, jeden Finanzmarktakteur und jedes Finanzprodukt einer Regulierung unterwerfen. Natürlich war absehbar, dass es eine Diskussion darüber gibt, in welcher Form und in welcher Art und Weise dies geschehen soll. Aber der Grundsatz ist nicht falsch.

Auf dem Weg zu einer Neugestaltung der Finanzmarktregeln haben wir erst einmal in Deutschland etwas Wichtiges geschaffen, nämlich das Restrukturierungsgesetz. Es ist ein Meilenstein. Es ermöglicht eine finanzmarktschonende Restrukturierung oder Abwicklung systemrelevanter Banken. Es war ja genau das Problem, dass systemrelevante Banken nicht den normalen marktwirtschaftlichen Mechanismen unterworfen werden konnten und dass sich ein Unternehmen, das nicht erfolgreich ist, einfach vom Markt verabschieden kann.

Dass es das Gesetz in Deutschland gibt, ist schön, aber angesichts der globalen Vernetzung reicht das natürlich nicht aus. Das heißt, wir müssen auch mindestens europaweit erreichen, dass Eigentümer und Gläubiger die finanziellen Lasten so weit wie möglich tragen. Deshalb müssen europäische und auch globale Regeln hierfür geschaffen werden. Dies ist eine der wesentlichen Aufgaben, die die G20 im Bereich der Finanzmarktregelung noch leisten muss. "Too big to fail" - das darf nicht im Raum stehen bleiben, dafür muss eine Lösung gefunden werden. Deshalb setzen wir uns auf internationaler Ebene für eine Neugestaltung der Finanzmarktregeln an dieser Stelle ein.

Die Diskussionen werden mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Anfangspunkt der Krise immer schwieriger. Das ist schon abzusehen. Deshalb mein Appell an Sie, nichts dazu beizutragen, dass diese schwieriger werden, sondern sich den Herausforderungen zu stellen.

Wir wollen die Frage auch deshalb auf internationaler Ebene lösen, weil wir einen fairen Wettbewerb brauchen, wozu ein grenzüberschreitendes Krisenmanagement im Finanzsektor geschaffen werden muss. Je unterschiedlicher die Regelungen im transatlantischen Bereich oder wo auch immer sind, umso schwieriger ist es natürlich, einen fairen Wettbewerb zu garantieren.

Die Europäische Kommission orientiert sich bei der Schaffung eines Restrukturierungsmechanismus sehr stark am deutschen Restrukturierungsgesetz, das wir in wesentlichen Punkten mit Frankreich abgestimmt hatten. Wir haben darüber hinaus in Europa ein effektives System der Finanzaufsicht geschaffen. Wir haben dafür gesorgt, dass künftig auch Hedgefonds und Rating-Agenturen beaufsichtigt werden.

Wir haben auch im Kreis der G20 vieles erreicht. Hier will ich die Verschärfung der Kapitalstandards nennen. Das neue "Basel-System" ist ein riesiger Meilenstein. Es ist noch nicht von jedermann umgesetzt, aber allein die Tatsache, dass die Verhandlungen im Gegensatz zu Basel II sehr viel kürzer waren, zeigt, dass hier durchaus Lehren gezogen wurden. Auch die neuen Regelungen über zukünftige Vergütungssysteme sind besser als die alten. Ob sie schon alle Schwachstellen beseitigt haben, wird leider erst die Praxis zeigen.

Ich bin mir bewusst, dass Teile der Finanzwelt auch sagen: Okay, es gibt eine neue Regulierung; jetzt verwenden wir einmal unsere gesamte geistige Kraft darauf, wie wir sie umgehen können. Da marktwirtschaftliche Mechanismen immer auch aus Fortentwicklungen bestehen, ist meine herzliche Bitte an dieser Stelle, das Katz-und-Maus-Spiel nicht zu weit zu treiben. Es wird zu nichts führen beziehungsweise es wird nur zu falscher Regulierung führen - das sage ich Ihnen voraus. Dann brauchen aber auch keine Klagen einzugehen, denn wenn das hauptsächliche Wesen der Tätigkeit darin besteht, Regulierungen zu umgehen, die sinnvoll sind, werden Staaten entsprechend neue Regulierungen vornehmen, die aber aus ihrer Sicht eigentlich nicht verantwortbar sind, weil sie letztlich dem weltweiten Wirtschaftswachstum nicht gut tun werden. Es ist ganz einfach so: Eine Krise, wie wir sie zwischen 2008 und 2009 hatten, kann nicht oft - ich sage: nie wieder - stattfinden, wenn es nicht massive Schädigungen für die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Mechanismen geben soll.

Wir haben aber auch vieles geschafft, wir haben einiges dazu gelernt, und zwar nicht nur im Bereich der Finanzmarktregeln, in dem weiter gearbeitet werden muss, sondern auch im Bereich der Aufsichten und im Bereich der "Global Governance", wie man so schön sagt. Hierbei geht es um die Frage, welche Rolle supranationale Institutionen, zum Beispiel der IWF, als Kontrollorgane spielen und inwieweit wir bereit sind, eigene Kompetenzen abzugeben. Wir als Europäer sind in dieser Hinsicht relativ weit fortgeschritten, weil wir uns dauernd innerhalb der Europäischen Union abstimmen. Andere Mitgliedstaaten der G20 tun sich an dieser Stelle unendlich schwer. Die Frage, was nationale Souveränität in einem global vernetzten Wirtschaftssystem wert ist, ist noch lange nicht abschließend beantwortet. Aber es gibt gute Fortschritte im Hinblick auf IWF, FSB und andere Institutionen, die man sich vor fünf Jahren nicht hätte vorstellen können.

Nun war ja absehbar, dass, nachdem wir - um es etwas platt zu sagen - Finanzinstitutionen gerettet und die Realwirtschaft stimuliert haben, indem wir Konjunkturprogramme aufgelegt haben, Folgeeffekte entstehen würden. Einer der Gründe, warum ich mich als Bundeskanzlerin durchaus sehr bedächtig gezeigt habe bei der Entscheidung, welche Konjunkturprogramme wir auflegen, war die Kenntnis des nächsten Schritts, nämlich dass die Frage der Staatsverschuldung ins Visier der gleichen Marktteilnehmer geraten würde, die man zuvor dadurch gerettet hat, dass in Kauf genommen wurde, die Staatsverschuldung hochzufahren. Nun können Sie sagen, das ginge nicht anders, aber Sie müssen auch verstehen, dass das schon auch verschiedene Emotionen hervorruft. Ich will jetzt nicht wieder zurück auf null, aber ich muss schon sagen, dass die Frage der Regulierung insoweit entscheidend ist, weil sich der Steuerzahler, der dann ja in Form der Allgemeinheit immer eintritt, natürlich auch seine durchaus richtigen Gedanken dazu macht.

Wir haben in Deutschland deshalb in dieser Zeit, in der wir Konjunkturprogramme auflegen mussten, gesagt: Die Frage der soliden Staatsfinanzen ist eine Kernfrage, um gewappnet zu sein gegenüber den Herausforderungen der Zukunft. Deshalb haben wir die Schuldenbremse eingeführt - eine, wie ich finde, wegweisende Entscheidung, die uns im Einzelfall sehr bindet. Es ist nicht einfach, mit dieser Schuldenbremse umzugehen, aber aus der Erkenntnis heraus, dass eine untragbar hohe Staatsverschuldung ein großes Element der Instabilität wäre, haben wir diese Entscheidung getroffen und werden jetzt dazu gezwungen sein, nachhaltig zu wirtschaften, ähnlich wie auch Sie infolge der verstärkten Kapitalrückstellungen im Namen von Basel III sehr viel nachhaltiger wirtschaften müssen.

Nun haben wir die Krise in der Bundesrepublik Deutschland relativ gut überstanden. Wir haben aber auch gesehen, dass etwas, was ich schon zu Beginn der Krise gesagt habe, richtig ist: Die Karten werden in einer solchen Krise weltweit neu gemischt. Um sich weiterhin auch wirtschaftlich behaupten zu können, sind jetzt unsere Haushaltsberatungen auf der einen Seite durch die Vorgaben der Schuldenbremse geprägt und auf der anderen Seite durch die Erfahrung aus der Krise, dass investive Ausgaben gestärkt werden müssen und dass Investitionen in Forschung, in Entwicklung und in die Erhaltung der Substanz der Gesellschaft absolut wichtig sind - insbesondere in einem Land wie Deutschland, das vor gewaltigen demografischen Herausforderungen steht und deshalb mehr noch als andere, die demografische Herausforderungen nicht in diesem Maße haben, auf solide Finanzen achten muss. Wir haben eine Chance, die Regeln der Schuldenbremse, was den Bundeshaushalt anbelangt, durchaus auch sozusagen überzuerfüllen. Diese Chance werden wir, wo immer möglich, natürlich auch nutzen.

Wir haben gesehen, dass infolge der Finanzkrise, der Wirtschaftskrise und der Konjunkturprogramme die Spannungen und die unterschiedlichen Situationen im Bereich des europäischen Marktes, insbesondere der Eurozone - also der Zone der Wirtschafts- und Währungsunion -, in einem Maße sichtbar geworden sind, wie dies seit Einführung des Euro nicht der Fall war. Nachdem der Euro eingeführt wurde, sind Spreads auf wunderbare Weise zusammengeschrumpft. Ein quasi fast einheitliches Zinsniveau hat den Eindruck erweckt, unsere Wirtschafts-, Finanz- und Leistungskraft sei im Euroraum einigermaßen harmonisch. Durch die Krise sind die Unterschiede dann aber sichtbarer geworden - sie waren natürlich auch schon vorher da. Es zeigte sich, dass die Belastungen der einzelnen Staaten nur in unterschiedlicher Weise bewältigt werden konnten.

Das hat uns im Euroraum in eine schwierige Situation gebracht und hat aber - das ist das eigentlich Erfreuliche an der Sache - auch das Bewusstsein geschärft, dass die Nichteinhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts genau solchen Erscheinungen Vorschub geleistet hat. Insofern arbeiten wir im Augenblick im Grunde an der Bewältigung der Sünden der letzten zehn Jahre. Das muss mit aller Entschiedenheit gemacht werden. Da hier mit Werner Langen auch ein Vertreter des Europäischen Parlaments anwesend ist, will ich sagen: Hierüber gibt es eine große Einigkeit zwischen Parlament, Kommission und auch den Mitgliedstaaten. Deshalb haben wir die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht nur diskutiert, sondern auch in sehr konkreten Vorgaben detailliert ausgearbeitet.

Wir haben einen Rettungsmechanismus etabliert, der aus der Not heraus geboren wurde und jetzt als langfristiger Mechanismus angelegt wird, und wir haben den sogenannten "Euro Plus Pakt" geschaffen, der eine Aussage darüber trifft, dass wir wirtschaftlich kohärenter werden müssen. Das hat natürlich nicht nur etwas mit Gesamtverschuldung und Defiziten des jährlichen Haushalts zu tun, sondern auch mit Lohnstückkosten, mit Sozialsystemen, mit investiven Ausgaben und anderem mehr. Diese Kohärenz darf sich nicht am Durchschnitt der europäischen Mitgliedstaaten ausrichten, sondern die Benchmarks setzen die Besten. Denn Deutschland und Europa müssen sich auf den Weltmärkten behaupten. Unser Wohlstand wird nur zu sichern sein, wenn wir genau dies schaffen.

Die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts hat eine gute Chance, in Kürze beschlossen zu werden, und zwar in allen Facetten. In diese Verschärfung wird auch die Gesamtverschuldung eines Staates mit eingehen. Die Aufgaben für Länder, die eine höhere Gesamtverschuldung als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts haben, sind gewaltig: jährlich jeweils fünf Prozent Abbau der Überschreitung - das ist eine harte Auflage. Auch Deutschland liegt durch Ausgaben, die wir im Bereich der Bankenrettung hatten, bei der Gesamtverschuldung jetzt deutlich über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das heißt, auch wir haben hier Aufgaben zu leisten.

Wir werden einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus aufspannen. Hierzu hat es vor gut einem Jahr am ersten Beispiel von Griechenland heiße Diskussionen gegeben. Ich stehe aber dazu - auch wenn die Diskussionen aus der Sicht von vielen von Ihnen zu lange gedauert haben -: Eine einfache Solidaritätsleistung ohne eine Gegenleistung wäre für die Gesamtentwicklung des Euro absolut fatal gewesen. Es war notwendig, hier eine Konditionalität einzubauen, an den Ursachen der Probleme anzusetzen und von den Ländern, die Solidarität im Euroraum erhalten, auch ein Bekenntnis zu einer höheren Wettbewerbsfähigkeit und Solidität zu erwarten. Das ist kein einfacher politischer Prozess gewesen, aber ich darf heute sagen, dass es doch ein erstaunlich erfolgreicher war. Wir werden mit dem ab 2013 geltenden Europäischen Stabilisierungsmechanismus - ESM genannt - einen Fonds haben, der genau diesen Anforderungen entspricht.

In diesen ESM haben wir außerdem etwas aufgenommen, das in der ersten Regelung von Solidaritätsfonds, im EFSF, noch nicht aufgenommen werden konnte, nämlich die Beteiligung privater Gläubiger. Über diese Frage gibt es ja eine spannende Diskussion. Alle, die sich nur theoretisch mit diesen Fragen beschäftigen, sind natürlich der Meinung, dass das das Mindeste ist, das man tun muss. Alle, die sich mit diesen Fragen praktisch auf den Märkten beschäftigen, sagen ihre Meinung vielleicht den Theoretikern, aber nie den Politikern, und versuchen aber durchaus, die Politiker auf ganz wundersame Weise unter Druck zu setzen. Die Politiker stehen jedenfalls vor der Frage: Verursachen wir mit der Entscheidung eine nächste Krise oder tun wir das sachlich Vernünftige. Wir befinden uns da also immer in einer schwierigen Situation, müssen aber Entscheidungen treffen.

Ich glaube, es ist richtig, dass wir in Zukunft zumindest im Insolvenzfall - und ich verhehle nicht, dass ich gerne noch weiter gegangen wäre - eine Beteiligung privater Gläubiger bei Hilfsmaßnahmen für Euroländer vorsehen. Ich glaube, es ist richtig, dass wir uns hier weitgehend an den internationalen Mechanismen, die auch durch den IWF vorgegeben sind, orientieren. Ich glaube, dass die Märkte dies inzwischen auch verstanden haben.

Es ist allerdings manchmal nur schwer zu ertragen, wenn man an jeder Ecke und jedem Ende von einer überfälligen Restrukturierung liest, dann aber an einem detaillierten Beispiel die Unwilligkeit verfolgt, wenn es zum Schwure kommen soll. Deshalb sage ich: Ich habe verstanden, wir dürfen die Regeln des EFSF nicht ändern. Es ist aber richtig, dass ein permanenter Mechanismus über genau diese Vorkehrungen verfügt. Darauf müssen sich die Märkte einstellen. Denn Marktdisziplin ist absolut notwendig, um aus der Spirale, dass der Verschuldung von Staaten auch vonseiten der Märkte sozusagen Vorschub geleistet wird, herauszukommen. Dabei brauchen wir Marktdisziplin als Teil der marktwirtschaftlichen Mechanismen.

Der "Euro Plus Pakt" ist eine Neuheit. Er beschäftigt sich im Grunde mit der Koordinierung von Politikbereichen, die nicht vergemeinschaftet, also nicht Teil der europäischen Handlungsbereiche sind. Der Pakt erwuchs der Erkenntnis, dass Stabilität in einem gemeinsamen Währungsraum mit gleichen oder ähnlichen wirtschaftlichen Stärken gepaart sein muss. Er bedeutet keine Zentralisierung von Renten-, Gesundheits- und sonstigen Politiken - ich will das ausdrücklich sagen. Aber an Grundregeln politischen Handelns kommt ein gemeinsames Währungsgebiet nicht vorbei. Dass das Renteneintrittsalter und die Arbeitsdauer irgendetwas mit der demographischen Entwicklung eines Landes zu tun haben müssen, wenn man zu einem spannungsfreien, gemeinsamen Währungsraum kommen will, das ist nun einmal so. Das hat mit Zentralisierung nichts zu tun. Dass sich die Lohnstückkosten nicht völlig unterschiedlich entwickeln dürfen, ist auch eine Erkenntnis, der man sich nicht widersetzen kann. Das alles ist immer mit "Politischer Union" beschrieben worden, die es zu Beginn der Währungsunion nicht gab, aber deren Einführung nun in gewisser Weise - auch wenn es eine freiwillige, koordinierende Weise ist - nachgeholt werden muss.

Wir haben diese Frage auf die höchstmögliche Ebene gebracht, nämlich auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs. Da man denen allein ja noch nicht trauen kann, hat das Monitoring die Kommission übernommen, die nun wiederum fortlaufend das Parlament informiert, sodass eine hinreichend kritische Öffentlichkeit garantiert ist. Ich hoffe, dass aus dieser Tatsache eine der härteren Sanktionen erwächst, nämlich eine quasi moralische Sanktion, sodass Länder stärker aufeinander zugehen müssen. Natürlich muss sich das erst in der Praxis beweisen, denn schon oft haben wir Verpflichtungen nicht eingehalten. Wir haben allerdings als Euroraum inzwischen auch einen bitteren Preis dafür bezahlt. Wenn wir uns gegenseitig eine gewisse Lernfähigkeit zuschreiben, dann hat das auch etwas mit positiver Zukunftserwartung zu tun. Wir werden uns also bemühen, die entsprechenden Resultate zu liefern.

Das heißt also, wir sind zu einem gestärkten europäischen Währungssystem gekommen. Wir haben damit ein politisches Bekenntnis zur Richtigkeit des Euro gegeben. Ich sage ausdrücklich: Deutschland gehört zu den großen Gewinnern der Einführung des Euro. Wenn jetzt viele davon sprechen, was wir jetzt alles an Hilfsmaßnahmen zu leisten hätten und dass Deutschland dabei so stark gefragt sei - was natürlich in der Natur der Sache liegt, weil wir auch die größte europäische Volkswirtschaft sind -, dann will ich nur daran erinnern, dass die Zustände zu Zeiten vieler anderer unabhängiger Währungen in Europa auch nicht so ideal waren, wie sie im Rückblick manchmal erscheinen. Die Stützungskäufe anderer Währungen - ob von Frankreich, Spanien oder Italien - waren auch immer wieder Solidaritätsaktionen eines starken Exporteurs, nämlich der Bundesrepublik Deutschland, um eben einen vernünftigen Wirtschaftsraum zu haben, in dem verlässliche Rahmenbedingungen auch für die eigene Wirtschaft bestanden. Das heißt, dass es in Europa noch nie irgendwelche Solidaritätsbekundungen gegeben hätte, kann man auch hinsichtlich der Vergangenheit nicht sagen. Desha lb muss man hier auch sehr offen und sehr positiv darüber reden.

Wir haben sehr viel Wert darauf gelegt, dass der IWF immer mit dabei ist. Warum? Nicht deshalb, weil Europa es allein nicht kann, sondern deshalb, weil ich von den Märkten gelernt habe, dass sie gerne eine harmonische Kommunikation haben. Für mich war immer wieder die Idee ein Schreckgespenst, dass wir in Europa zum Beispiel eine Konditionalität für ein Land wie Griechenland, Irland oder ein anderes Land vereinbaren und anschließend der Internationale Währungsfonds das Ganze kritisch betrachtet und sagt: Tja, also das hätten wir ganz anders gemacht. Solche divergierenden Kommunikationen sind ziemlich wenig hilfreich, um es einmal vorsichtig zu sagen. Deshalb ist das Zusammenarbeiten in den Fällen notwendig gewordener Reformprogramme für einzelne Länder aus meiner Sicht durchaus richtig.

Wir alle - Politik, Wirtschaft, Realwirtschaft und in ganz besonderer Weise die Finanzinstitutionen - werden in den nächsten Jahren noch stark auf dem Prüfstand der Menschen in unseren jeweiligen Ländern stehen. Ich will deshalb mit dem schließen, was ich schon am Anfang gesagt habe: Wenn wir wollen, dass marktwirtschaftliche Mechanismen nachhaltig eine hohe Akzeptanz genießen, und wenn wir wollen, dass das Modell der Sozialen Marktwirtschaft, das so viel Gewinne, Wachstum und Wohlstand möglich gemacht hat, auch im 21. Jahrhundert funktioniert, dann muss jeder seine Verantwortung übernehmen. In diesem Sinne hoffe ich auch in den nächsten fünf Jahren auf gute Kooperation. Bis zum nächsten Deutschen Bankentag.


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Quelle:
Bulletin Nr. 36-2 vom 03.04.2011
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim XIX. Deutschen Bankentag
des Bundesverbandes deutscher Banken am 31. März 2011 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2011