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REDE/413: Brüderle - zum Jahreswirtschaftsbericht 2010 der Bundesregierung, 28.01.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie,
Rainer Brüderle, zum Jahreswirtschaftsbericht 2010 der Bundesregierung
vor dem Deutschen Bundestag am 28. Januar 2010 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Gestern habe ich den Jahreswirtschaftsbericht vorgestellt. Er trägt die Überschrift "Mit neuer Kraft die Zukunft gestalten". Deutschland kann gestärkt aus der Krise hervorgehen. Deutschland hat die Kraft, und die christlich liberale Koalition hat die Kraft, dies umzusetzen. Die Prognosen sind längst nicht mehr so düster wie im Herbst: 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum und 3,7 Millionen Arbeitslose. Das hätte Rot-Grün mit Sicherheit als grandiosen Boom verkauft. Wir sind da vorsichtiger. Auch wenn es Chancen gibt, dass es besser läuft und die Prognosen höher liegen, kann es Rückschläge geben; das wissen wir alle. Wir fahren noch immer auf Sicht. Aber die liberal christliche Koalition hat einen Kompass. Unser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft.

Deutschland muss jetzt das Potenzial für dauerhaftes, selbsttragendes Wachstum wieder aufbauen. Wir brauchen einen höheren Wachstumspfad. Das Wachstumspotenzial wird durch technischen Fortschritt, flexible Arbeitsmärkte, Wettbewerb auf den Gütermärkten, eine niedrige Steuerbelastung und solide Staatsfinanzen gestärkt.

Technischer Fortschritt und Wachstumspotenzial: Forschung und Bildung sind die Schlüssel zu technischem Fortschritt, zu künftigem Wohlstand. Die Koalition wird die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2013 um zwölf Milliarden Euro erhöhen.

Das Geld ist das eine, die Einstellung zu neuen Technologien das andere. Die Koalition setzt hier auf eine Ermöglichungskultur. Wir wollen keine Verhinderungs- oder gar Verteufelungskultur. Wir betonen Chancen neuer Technologien. Wir betonen bei CCS, dass dies vielleicht eine Möglichkeit ist, CO2-arm Kohlestrom zu erzeugen. Wir betonen bei der Elektromobilität, dass sie vielleicht eine Möglichkeit ist, das Auto des 21. Jahrhunderts zu erfinden. Wir betonen bei der Grünen und Roten Gentechnik, dass sie vielleicht die Möglichkeiten zur Bekämpfung von Hungerkatastrophen und zur Heilung von Krankheiten bieten wird.

Es gibt ethische Komponenten des Fortschritts, ich kenne ebenso die ethischen Gegenargumente und respektiere sie, aber Fortschritt per se zu verteufeln, halte ich für falsch, auch ethisch für falsch.

Flexible Arbeitsmärkte und Wachstumspotenzial: Der robuste Arbeitsmarkt ist das Verdienst von Strukturveränderungen in Deutschland. Früher hatten wir die Debatte über "Jobless Growth", Wachstum ohne Beschäftigungseffekte. Mit Blick auf die Wirtschaftskrise ist man fast versucht zu sagen: Wir haben "Growthless Jobs", Beschäftigungsstabilität trotz des Wachstumseinbruchs, den wir zu verzeichnen haben.

Diese Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen. Die Tarifpartner haben flexible Lohn- und Arbeitszeitstrukturen geschaffen. Das hat sich in der Krise ausgezahlt. Die Gewerkschaften haben diese Vereinbarungen nicht "betriebliche Bündnisse" genannt; sonst wären sie bei Teilen der Opposition vielleicht in den Verdacht des Neoliberalismus geraten. Die Tarifpartner haben pragmatische, verantwortungsvolle Lohnpolitik betrieben. Ich kann sie in diesem vernünftigen Kurs nur bestärken.

Auch der Staat hat seinen Beitrag zur flexiblen Krisenbewältigung am Arbeitsmarkt geleistet. Die Kurzarbeiterregelung hilft den Unternehmen, ihre Belegschaften zu halten. Ich sage aber auch deutlich: Kurzarbeit ist ein für den Staat wie für die Unternehmen teures Instrument. Eine Dauersubventionierung darf es nicht geben.

Wettbewerb und Wachstumspotenzial: Wir brauchen mehr Wettbewerb, um aus der Krise zu kommen. Wettbewerb belebt die Wirtschaft. Für manche ist das unangenehm, manchmal auch in der Politik. Aber Wettbewerb ist das beste Entdeckungsverfahren, ein Garant für Dynamik. Marktbeherrschende Unternehmen können wie Mehltau auf unserer vitalen Wirtschaft liegen. Deshalb wollen wir die Möglichkeit der Entflechtung marktbeherrschender Unternehmen schaffen. Das amerikanische Recht kennt dieses Instrument schon seit mehr als 100 Jahren. Es kam zwar nur in wenigen Fällen zur Anwendung, aber allein das Drohpotenzial veranlasst manche Unternehmen zu wettbewerbskonformem Verhalten. Selbst wenn man nicht in die Schlacht zieht, kann es gut sein, ein scharfes Schwert zu haben. Das Bundeskartellamt soll dieses Schwert haben; dort ist es in guten Händen. Es wird nicht so sein, dass die Politik willkürlich etwas gestalten oder zerschlagen kann. Nein, es wird ein rechtsstaatliches Verfahren werden, ohne politische Willkür.

Geringe Belastung bei Steuern und Wachstumspotenzial: Dauerhaftes Wachstum erreichen wir nur mit niedrigen Steuern. Den ersten Schritt haben wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht; er ist auch bitter nötig. Der private Konsum bleibt in diesem Jahr schwach. Die Vorzieheffekte aufgrund der Abwrackprämie sorgen für eine spürbare Delle.

Ein zweiter Schritt wird folgen. Wir werden das Steuersystem mit einem Stufentarif einfacher und gerechter machen, wir werden die Belastung spürbar senken. Dazu bekennt sich die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht erneut.

Genauso bekennt sie sich zu einem ehrgeizigen Konsolidierungspfad ab dem Jahr 2011. Beides gehört zusammen.

Deutschlands Schuldenbremse ist ehrgeiziger als der europäische Stabilitätspakt, und das ist richtig. Deutschland muss Stabilitätsanker in Europa bleiben. Wir sind die größte Wirtschaftsnation der EU. An uns hängt viel, auf uns wird besonders geachtet, wir haben eine Vorbildfunktion für die wirtschaftliche Stabilität in Europa, und wir werden ihr gerecht werden. Einige Eurostaaten zeigen gefährliche Schwächen. Das kann fatale Auswirkungen auf alle Staaten der Eurozone haben. Es gibt keine flexiblen Wechselkurse im Euroraum mehr. Zu starke Ungleichgewichte zwischen den Staaten können zu erheblichen volkswirtschaftlichen Spannungen führen. Ein Bail-out, eine Gemeinschaftslösung für nationale Schieflagen, sollte es nicht geben. Jedes Land muss zunächst selbst seine Hausaufgaben machen. Die Mitgliedstaaten stehen jeder für sich in der Verantwortung. Die kann ihnen niemand abnehmen.

Bei den Schieflagen in einigen Euroländern ist es wichtig, dass angesichts der Krise die Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa besser koordiniert werden müssen. Die EU braucht eine enge Exit-Strategie aus den Notmaßnahmen, die ergriffen worden sind. Daraus darf aber nicht der Nukleus einer europäischen Wirtschaftsregierung werden. Wir sollten darauf achten, dass der Subsidiaritätsgedanke auch in der EU-Strategie 2020 angemessene Beachtung findet.

Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten hat im großen Ganzen adäquat auf die Wirtschaftskrise reagiert. Auch die EZB hat Beachtliches geleistet. Eine Deflation konnte glücklicherweise verhindert werden. Dazu waren unorthodoxe Maßnahmen notwendig. Dabei musste das Risiko der Inflation in Kauf genommen werden. Ich bin optimistisch, dass die EZB auch den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus den unorthodoxen Maßnahmen finden wird. Dann ist die Gefahr eines rapide steigenden Preisniveaus ebenfalls gebannt. Gewöhnungseffekte an zu niedrige Zinsen dürfen nicht eintreten. Es gibt manche Beobachter, die angesichts der niedrigen Zinsen vor der nächsten Blase warnen.

Die internationale Staatengemeinschaft muss ein kräftiges Signal an die Finanzmärkte aussenden. Die Staaten sind mehr als ein großer Bankensicherungsverein. Sie müssen die Leitplanken für die Märkte neu gestalten. Es geht um die Rückkehr zu Maß und Mitte. Deutschland tritt seit längerem für strengere Regeln ein. Auf dem Gipfel in Pittsburgh wurden erste Schritte beschlossen. Jetzt geht es um die Konkretisierung. Durch die aktuellen Äußerungen von Präsident Obama hat die Diskussion über die internationale Finanzarchitektur eine zusätzliche Dynamik bekommen. Ich will sie im Detail nicht bewerten, aber das Signal ist wichtig. In Amerika hat man erkannt, dass wir strengere Regeln brauchen. Für Deutschland ist klar: Die G20 sind für die Regulierungsfragen der richtige Rahmen. Im Kern müssen alle Maßnahmen auf eine Reduzierung des Moral Hazard, wie die Ökonomen es nennen, hinauslaufen. Wenn jemand im Finanzsektor weiß, dass der Staat eingreift, wenn etwas schiefläuft, dann wird er sich selten ordentlich verhalten. Wir brauchen spürbare Maßnahmen, die jedem am Finanzmarkt klarmachen: Der Staat kann auch anders. Der Finanzsektor muss sich angemessen an den Kosten der Krisenbewältigung beteiligen. Die Einschätzung meines Kollegen Schäuble hierzu teile ich uneingeschränkt. Auch seine Überlegung zur Managervergütung geht in die richtige Richtung. Wir brauchen eine neue Verantwortungskultur in der Finanzbranche. Man kann bessere Eigenkapitalregeln einführen. Man kann Zweckgesellschaften stärker regulieren. Man kann die Aufsicht verbessern. Das tun wir auch. All das sind richtige Maßnahmen. Kern aber bleiben die Marktteilnehmer selbst. Ihnen muss bewusst gemacht werden: Ihr haftet am Ende für euer Risiko und nicht der Steuerzahler.

Das Ziel dieser Bundesregierung ist es, die soziale Marktwirtschaft wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Die Zusammenhänge von Risiko und Haftung, von Eigenverantwortung und Leistung müssen wieder deutlich werden. Der Staat muss den Bürgern und den Unternehmen wieder mehr Freiräume geben. Freiräume bedeuten Chancen; aber sie bedeuten auch Verantwortung. Das Verhältnis von Staat zu Privat, die Balance zwischen privaten und staatlichen Entscheidungsmöglichkeiten müssen mit dem Abklingen der Krise neu ausbalanciert werden. Daran werden wir arbeiten.

Der Jahreswirtschaftsbericht gibt die Richtung für die marktwirtschaftliche Erneuerung Deutschlands vor. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung.


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Quelle:
Bulletin Nr. 11-1 vom 28.01.2010
Rede des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie,
Rainer Brüderle, zum Jahreswirtschaftsbericht 2010 der Bundesregierung
vor dem Deutschen Bundestag am 28. Januar 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2010