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INTERNATIONAL/314: Brasilien - Ausmaß der Wirtschaftskrise ist dramatisch (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien
Ausmaß der Wirtschaftskrise ist dramatisch

Von Andreas Behn


(Rio de Janeiro, 9. März 2017, taz) - "In den Zeitungen steht, es geht bergauf, das Schlimmste sei überstanden. Ich sehe davon nichts, im Gegenteil." Sergio Fonseca zählt auf: "Du siehst viel mehr Menschen auf der Straße wohnen, es wird mehr geschnorrt, viele meiner Bekannten haben ihren Job verloren, alle sparen - billigere Lebensmittel, Verzicht auf Krankenversicherung, statt Bus jetzt zu Fuß gehen." Fonseca ist Pfleger in einem Kinderkrankenhaus und macht keinen Hehl daraus, um seinen Job zu fürchten. "Alle sind betroffen, vom Arzt bis zur Putzkraft." Das Schlimmste sei jedoch die schlechte Stimmung, die sich im ganzen Land ausgebreitet hat und alle zu lähmen scheint, sagt Fonseca.

Die Wirtschaftskrise in Brasilien ist schon lange nicht mehr in aller Munde, sie ist Alltag. Doch Anfang März haben neue Zahlen das bestätigt, was die meisten spüren: Um 3,6 Prozent sank das Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr, in 2015 waren es minus 3,8 Prozent. Pro Kopf ging die Wirtschaftskraft seit 2014 sogar um 9,1 Prozent zurück. Arbeitslosigkeit sowie die Verschuldung privater und öffentlicher Haushalte sind auf Rekordniveau gestiegen. Das Statistikinstitut konstatiert die schwerste Krise seit Beginn der Datensammlung in den 1940er Jahren.

Finanzminister Henrique Meirelles bezeichnete die Veröffentlichung der dramatischen Zahlen als "Blick in den Rückspiegel". Brasilien sei wieder auf Wachstumskurs, in 2017 würden schwarze Zahlen geschrieben. Das Vertrauen in die brasilianische Wirtschaft sei zurückgekehrt, erstmals habe die Industrie wieder Arbeitsplätze geschaffen.


Als Allheilmittel werden drastische Sparmaßnahmen verkündet

Schuld an dem Desaster, das wiederholen Minister und die Presse unisono, sei die Mitte vergangenen Jahres mit Hilfe eines umstrittenen Amtsenthebungsverfahrens geschasste Ex-Präsidentin Dilma Rousseff. Sie habe die Rolle des Staates in der Ökonomie aufgebauscht, mit Subventionen den Markt verzerrt und die Schulden in die Höhe getrieben. Deswegen müsse jetzt der Gürtel enger geschnallt werden und die Staatsausgaben rigoros gekappt werden.

Rousseffs Arbeiterpartei PT und ihr nahestehende Gewerkschaften halten diese liberale Rezeptur für ein sicheres Mittel, die Krise zu verlängern und ihre Folgen vor allem für die Ärmeren zu verschlimmern. Sie verweisen auf die hohen Wachstumsraten in Roussefs erster Amtszeit bis 2014 und machen in erster Linie den Einbruch der internationalen Rohstoffpreise für die Probleme verantwortlich.

Die meisten Brasilianer*innen, politikmüde auch aufgrund endloser Korruptionsskandale, warten auf Besserung. Einzige wirklich positive Signale der letzten Monate sind eine Senkung der Zinsen - wobei Brasilien immer noch die weltweit höchsten Realzinsen hat - und der Inflation, die seit 2015 bei rund zehn Prozent lag.

Trotz aller Proteste gelang es der Regierung unter Präsident Michel Temer bereits, die Deckelung aller öffentlichen Ausgaben für die kommenden 20 Jahre durch den Kongress zu bringen. Sie dürfen in Zukunft nur um den Wert der Vorjahresinflation ansteigen, weswegen Kritiker*innen vor Einschnitten bei Bildung und Gesundheit warnen. Das nächste Vorhaben ist eine Rentenreform, mit der ein Mindestalter von 65 Jahren für den Rentenbezug festgelegt werden soll. Vielen Menschen gerade in ärmeren Regionen droht damit der Verlust einer Ruhestandssicherung. Und Frauen, denen die Verfassung von 1988 aufgrund ihrer Mehrarbeit im Haushalt grundsätzlich einen früheren Renteneintritt ermöglicht, sollen in Zukunft wieder schlechter gestellt werden.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2017

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