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INTERNATIONAL/211: Die Eurasische Wirtschaftsunion als geopolitisches Instrument und Wirtschaftsraum (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Die Eurasische Wirtschaftsunion als geopolitisches Instrument und Wirtschaftsraum
Eine Analyse aus Kasachstan

Von Dossym Satpajew
Juni 2014



• Bereits 2007 wurde zwischen Russland, Belarus und Kasachstan eine Zollunion (ZU) eingerichtet. Im Mai 2014 haben die drei Staaten nun die Ausweitung zur Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) beschlossen. Kasachstan nimmt dabei eine besondere Stellung ein, denn Präsident Nursultan Nasarbajew hatte das Projekt schon seit vielen Jahren befördert und versteht sich selbst als Vater der Wirtschaftsunion und damit Hauptintegrator des postsowjetischen Raumes.

• Auf höchster Ebene der EAWU, dem Obersten Eurasischen Wirtschaftsrat, hat jeder Mitgliedsstaat eine Stimme, es gilt das Konsensprinzip. Das Gesamtbudget der EAWU wird zu 88 Prozent von Russland getragen. Zielsetzung der EAWU ist der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit zwischen den Mitgliedsstaaten.

• Die drei Gründungsmitglieder haben jedoch sehr unterschiedliche Vorstellungen zur künftigen Entwicklung der EAWU: Kasachstan strebt nach einer pragmatischen Wirtschaftsunion ohne Einschränkung seiner nationalen Souveränität, Russland verfolgt ein geostrategisches Projekt mit dem Ziel, seine Führungsmacht zu konsolidieren, und Belarus schließlich ist vor allem an Zugängen zur Märkten und Finanzmitteln interessiert.

• Seit dem Beitritt Kasachstans in die Zollunion und der Bildung der EAWU ist es innerhalb der kasachischen Gesellschaft zu einer deutlichen Spaltung zwischen Befürwortern und Gegnern der Integration mit Russland gekommen.

• Die Perspektiven der Beteiligung Kasachstans an der EAWU hängen nicht nur von den bilateralen Beziehungen, sondern auch von innenpolitischen Prozessen, insbesondere einem möglichen Regierungswechsel ab. Ein neuer Präsident wiederum könnte auch die außenpolitische Orientierung des Landes und Kasachstans Stellung in der EAWU neu gestalten.

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Die Eurasische Wirtschaftsunion: Wie alles begann

Am 29. Mai 2014 fand in Astana, der Hauptstadt der Republik Kasachstan, die Unterzeichnung des Vertrags zur Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) zwischen Kasachstan, Russland und Belarus statt. Von den drei Gründungsmitgliedern der EAWU hat sich besonders Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew als der Vater dieses Integrationsprojektes positioniert, das er offenbar als sein historisches Vermächtnis ansieht. Deshalb hat Nursultan Nasarbajew, der sich als Hauptintegrator der postsowjetischen Staaten versteht, ein emotionaleres Verhältnis zur EAWU und sieht sie als seinen persönlichen Triumph.

Diese Projekte dienen damit inoffiziell der Schaffung eines außenpolitischen Images des Staatsoberhaupts. Dafür kann er einige Gründe anführen. Erstens wurde die Idee einer Eurasischen Union erstmals von Nursultan Nasarbajew am 29. März 1994 in der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität formuliert. Dazu ist allerdings anzumerken, dass dieser Vorschlag in jener historischen Periode nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgrund der vorherrschenden zentrifugalen Prozesse, die später von vielen Experten als »sanfte Scheidung« bezeichnet wurde, in den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken kein Interesse hervorrief. Damals war vielen mit dem Format der 1991 gegründeten Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) besser gedient. Darüber hinaus war gegen Mitte der 1990er Jahre bereits in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken ein aktiver Prozess der Bildung nationaler Eliten im Gange, die sich nicht durch irgendwelche Pflichten aufgrund neuer Integrationsvereinigungen einschränken lassen wollten. Im Übrigen fanden die Forderungen nach der Bildung einer Eurasischen Union bei der russischen Führung keine Unterstützung.

Dies lag vor allem daran, dass in der russischen Elite noch die von Ruslan Grinberg, dem Direktor des Instituts für Wirtschaft der Russischen Akademie der Wissenschaften, so bezeichnete »Theorie der wirtschaftlichen Belastung« vorherrschte. Ihre Quintessenz lautete: »Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahr dominierte die Idee, dass es leichter sei, sich ohne Satellitenstaaten als Subjekt in die Weltwirtschaft zu integrieren (...). Es überwog die Auffassung, dass sich Russland als entwickelter Staat ohne seine früheren Brüder und Schwestern schneller auf der Sonnenseite der Straße wiederfinden würde. Und wenn nicht, würde die Theorie funktionieren, nach der die anderen angekrochen kommen. Mit anderen Worten, das Jelzin-Team hatte die Illusion, dass die frisch gebackenen unabhängigen Staaten scheitern und daher früher oder später wieder unter die Fittiche von Russland kommen würden.« (Grinberg 2013)

Die Situation änderte sich nach dem Machtwechsel in Russland und der Entstehung einer neuen politischen Elite unter Wladimir Putin, der den postsowjetischen Raum als eine Sphäre lebenswichtiger geopolitischer und geoökonomischer Interessen Russlands betrachtete. Mit seinem Amtsantritt begann sich die Position Russlands in Bezug auf die Integrationsinitiativen von Nasarbajew, der im Februar 2007 in seiner jährlichen Ansprache an das Volk von Kasachstan erneut die Notwendigkeit der Schaffung einer Eurasischen Wirtschaftsunion erklärt hatte, zu ändern. (Nasarbajew 2007)

Und bereits im Oktober 2007 unterzeichneten dann Kasachstan, Russland und Belarus ein Abkommen über die Gründung eines einheitlichen Zollgebiets und die Bildung einer Zollunion (ZU). Am 1. Juli 2010 wurde ein einheitlicher Zollkodex auf dem Territorium Kasachstans und Russlands eingeführt und am 6. Juli 2010 auf das gesamte Territorium der Zollunion ausgedehnt. 2011 unterzeichneten die Präsidenten der drei Länder eine Erklärung zur Eurasischen Wirtschaftsintegration, die im Januar 2012 basierend auf 17 internationalen Verträgen, die die Grundlage des Gemeinsamen Wirtschaftsraums (GWR) bildeten, in Kraft trat. Im Rahmen dieser Integrationsprojekte wurde im Februar 2012 als erste supranationale Struktur die Eurasische Wirtschaftskommission, die - formell - nicht den an der ZU und dem GWR teilnehmenden Regierungen untergeordnet ist, eingerichtet.



Institutionelle und funktionale Besonderheiten

Nach Meinung der kasachischen Führung ist die EAWU nach der Schaffung einer Freihandelszone innerhalb der GUS, der Bildung der Zollunion und dem Funktionieren des Gemeinsamen Wirtschaftsraums die nächste Stufe der wirtschaftlichen Integration. Aber im Gegensatz zu den vorherigen Stufen wird die EAWU als eine engere Form der Integration zwischen den drei Ländern angesehen, der im Jahr 2014 auch Armenien und Kirgisistan beitreten könnten. Nach der Unterzeichnung des Vertrags soll die EAWU ihre Arbeit offiziell am 1. Januar 2015 beginnen. Der Hauptsitz der Eurasischen Kommission wird in Moskau (Russland) sein, das Gericht der EAWU in Minsk (Belarus) und die Einheitliche Finanzaufsicht in der Stadt Almaty (Kasachstan). Im Vertrag ist auch festgelegt, dass alle Entscheidungen auf den höchsten Ebenen der EAWU nur durch Konsens auf der Grundlage der Regel »Ein Land - eine Stimme« getroffen werden können. Das bedeutet, dass wenn auch nur ein Staat durch seine Vertreter in den supranationalen Gremien gegen eine Entscheidung votiert, diese nicht angenommen wird. Dabei geht es um das Funktionieren solcher Verwaltungsorgane der EAWU wie den Obersten Eurasischen Wirtschaftsrat. Ihm gehören die Staatsoberhäupter und der Wirtschaftsrat der drei Regierungen an, an dem wiederum die Premierminister und der Rat der Eurasischen Wirtschaftskommission teilnehmen. Der Rat der Eurasischen Wirtschaftskommission besteht aus den stellvertretenden Ministerpräsidenten. Die Gremien der EAWU werden durch anteilige Beiträge der Mitgliedsstaaten finanziert. Russland zahlt einen Beitrag in Höhe von 87,97 Prozent des Gesamtbudgets, Kasachstan 7,33 Prozent und Belarus 4,7 Prozent. Derzeit beträgt das Gesamtbudget der EAWU 6,6 Milliarden Rubel (139,6 Millionen Euro, Juni 2014).

Der Gründungsvertrag der Eurasischen Wirtschaftsunion besteht aus dem institutionellen (konstituierenden) und dem funktionalen (wirtschaftlichen) Teil. Im ersten Teil werden die Ziele und Aufgaben der eurasischen Integration dargelegt und der Status der EAWU als vollwertige internationale Organisation bekräftigt. Der zweite Teil reguliert die Mechanismen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und legt konkrete Verpflichtungen für die Richtung der Integration der einzelnen Bereiche fest. Der Vertrag zur Gründung der EAWU wird vorerst 19 Sphären wirtschaftlicher Tätigkeit regulieren. Dazu gehören Zollvorschriften, Außenhandelspolitik, technische Vorschriften, Handel mit Dienstleistungen und Investitionen, Regulierung der Finanzmärkte, Steuern und Besteuerung, Wettbewerbspolitik, natürliche Monopole, Energie, Transport und andere. Mit dieser Zielsetzung schafft die EAWU die Bedingungen für den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit zwischen den Mitgliedsländern dieser Integrationsvereinigung. Außerdem wurden zwei weitere Dokumente vereinbart: Erstens: eine Verfahrensordnung der Durchführung internationaler Aktivitäten und zweitens eine Verfahrensordnung für die Vorbereitung und den Abschluss von internationalen Verträgen der Union mit Dritten. In diesen Dokumenten werden alle internationalen Aktivitäten der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie der Eurasischen Kommission als Hauptregulierungsbehörde der Kontrolle des Obersten Eurasischen Wirtschaftsrates unterworfen. Nur mit seiner Zustimmung und seinem Mandat können internationale Abkommen ausgearbeitet und abgeschlossen werden.

Ungeachtet der diplomatischen Demonstration von Übereinstimmung in vielen Fragen der Konstituierung der EAWU besteht zwischen den drei Parteien gleichzeitig ein großes Problem, das die Aktivität der Eurasischen Wirtschaftsunion hemmen könnte: Von Beginn ihrer gemeinsamen Aktivitäten an hatten sich Russland, Kasachstan und Belarus unterschiedliche Ziele für ihre Beteiligung an diesem Integrationsprojekt gesetzt.


Eine Eurasische Wirtschaftsunion, drei verschiedene Anliegen

In einer berühmten Fabel erzählt der russische Schriftsteller Iwan Krylow die Geschichte von einem Schwan, einem Krebs und einem Hecht, die gemeinsam versuchen ein Fuhrwerk zu schleppen, was ihnen nicht gelingt, weil jeder die Last in eine andere Richtung zieht. Eine ähnliche Situation konnte man zu Beginn der Zollunion und des Gemeinsamen Wirtschaftsraums beobachten. Allem Anschein nach könnte nun auch die EAWU mit einem ähnlichen Problem konfrontiert werden.



Das Anliegen Kasachstans

Die Führung Kasachstans betonte von Anfang an, dass die zukünftige Eurasische Union nur eine wirtschaftliche Orientierung ohne Beeinträchtigung der politischen Souveränität haben würde. Präsident Nursultan Nasarbajew betonte das ganz besonders in seinem Artikel »Die Eurasische Union: Von der Idee zu der Geschichte der Zukunft«, der 2011 in der russischen Zeitung Iswestija erschien, nachdem ein ähnlicher Artikel des russischen Präsidenten Wladimir Putin veröffentlicht worden war. In diesem Artikel betonte der kasachische Präsident die folgenden Punkte: »Erstens die Schaffung der Integration auf der Basis von wirtschaftlichem Pragmatismus; zweitens die Freiwilligkeit der Integration; drittens eine Vereinigung auf der Basis von Gleichberechtigung, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines jeden anderen sowie der Achtung der Souveränität und der Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen; viertens die Schaffung von supranationalen Gremien der Eurasischen Union, die auf Konsensbasis unter Berücksichtigung der Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten, ausgestattet mit klaren und realen Vollmachten ohne Übertragung der politischen Souveränität agieren.« (Nasarbajew 2011) Während der Unterzeichnung des Vertrags über die Eurasische Wirtschaftsunion am 29. Mai 2014 in Astana erklärte der Präsident Kasachstans erneut: »... dies ist eine Wirtschaftsunion und hat keine Auswirkung auf die Unabhängigkeit und politische Souveränität der Vertragsstaaten." (Nasarbajew 2014)

Auf Initiative Kasachstans wurde unter den Funktionsprinzipien der EAWU auch ein Punkt über die Achtung der Besonderheiten der politischen Systeme der Mitgliedsstaaten aufgeführt, so dass eine engere Integration nicht die Notwendigkeit der Änderung der politischen Systeme nach sich zieht. Die Führung Kasachstans ist der Auffassung, dass die Bildung der EAWU dem Land helfen soll, unter den Bedingungen eines verschärften globalen Wettbewerbs seine Position zwischen den regionalen Blöcken und multinationalen Unternehmen zu stärken. Deshalb gilt die Bildung der Eurasischen Wirtschaftsunion offiziell als eine Möglichkeit, um die folgenden wirtschaftlichen Ziele zu erreichen:

• Öffnung eines Zugangs der kasachischen Wirtschaft zu den Märkten der EAWU mit einer Bevölkerung von 170 Millionen Menschen.

• Aktivierung des grenzüberschreitenden Handels mit Russland. In den zwölf an Kasachstan angrenzenden Gebiete (Oblasts) Russlands leben etwa 27 Millionen Menschen.

• Erhöhung der Attraktivität Kasachstans für jene Investoren, die auch in den Märkten von Russland und Belarus aktiv werden wollen.

• Für kasachische Unternehmen eröffnen sich Märkte für Staatsaufträge in Russland und Belarus, die auf jährlich 198 Milliarden US-Dollar geschätzt werden.

• Schaffung von nicht nur regionalen, sondern globalen Transport- und Logistikrouten, die die Handelsströme Europas und Asiens über Kasachstan miteinander verbinden.

• Reduzierung der Transportkosten, die für Kasachstan als Binnenstaat ziemlich hoch sind. Insbesondere wird den kasachischen Transporteuren gleichberechtigter Zugang zu der Eisenbahninfrastruktur in Russland und Belarus eingeräumt.

• Die Schaffung eines einheitlichen Raums für den freien Verkehr von Kapital, Dienstleistungen und Arbeit. Vereinfachung der Verfahren für die Aufnahme einer Beschäftigung in den Ländern der EAWU.

• Einrichtung eines einheitlichen Finanzmarktes bis 2025.

• Sicherstellung des Zugangs zu der Energieinfrastruktur sowie den Transportsystemen für Gas, Öl und Ölprodukte bis 2025 auf der Basis eines einheitlichen Öl- und Gasmarktes.



Das Anliegen Russlands

Für Russland ist die Schaffung der EAWU nicht so sehr ein ökonomisches, sondern eher ein geopolitisches Projekt, das seine Rolle als Führungsmacht konsolidieren soll. Dies hängt sowohl mit objektiven Momenten zusammen, die mit der zunehmenden geopolitischen Konkurrenz im postsowjetischen Raum zu tun haben, als auch mit der Persönlichkeit Wladimir Putins, für den der Prozess des »Sammelns von Land« innenpolitisch zur Mobilisierung der Gesellschaft und zur Steigerung seines Ansehens im Lande wichtig ist.

Moskau sorgt sich um die Stärkung seiner Position im postsowjetischen Raum, in dem die Umverteilung der Einflusssphären in eine aktivere Phase tritt. An dieser Umverteilung sind vier Länder beteiligt: Russland, die Türkei, China und die USA. Hierbei will Russland seine Position in zwei regionalen Blöcken stärken: der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und der EAWU, die nicht so sehr als Gegengewicht zu den USA als vielmehr zur Türkei und China agieren soll. Ankara setzt sich für eine Beschleunigung des Zusammenschlusses der turksprachigen Welt ein und versucht gleichzeitig, seine Rolle als eines der neuen muslimischen Zentren für die Modernisierung des Islams zu festigen. Darüber hinaus erklärte der Generalsekretär des Rates der turksprachigen Länder, Halil Akinci, Ende 2010, dass die diese Länder eine Zollunion gründen könnten. 2013 bestätigte der Generalsekretär der Parlamentarischen Versammlung der turksprachigen Länder, Ramil Hasanow, dass die Frage der Errichtung einer Freihandelszone auf der Tagesordnung stehe. Es geht dabei um die Abschaffung von Zöllen und die Harmonisierung der Gesetzgebung in jenen Staaten.

Im Hinblick auf China ist die Gründung der EAWU für Russland ein Mechanismus, um die wirtschaftlichen Aktivitäten Chinas in Zentralasien einzudämmen. Dies bedeutet, dass in Zukunft eine gewisse unausgesprochene Konkurrenz um die Verteilung der wirtschaftlichen Einflusssphären zwischen der EAWU und der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) nicht ausgeschlossen werden kann. Es überrascht nicht, dass Moskau zurzeit aktiven Druck auf Bischkek ausübt und die Beschleunigung des Beitritts Kirgisistans in das eurasische Projekt fordert. Der nächste Kandidat könnte Tadschikistan sein. Im Gegenzug ist die Verwandlung der SOZ in einen ernst zu nehmenden wirtschaftlichen Akteur in Sicht: Zur Sicherheitspolitik könnte als zweites Standbein der SOZ die engere wirtschaftliche Zusammenarbeit hinzugefügt werden. Kasachstan hat übrigens bereits seine Bereitschaft erklärt, sich an der Verwirklichung des chinesischen Projekts zur Schaffung der Wirtschaftszone der Seidenstraße aktiv zu beteiligen.

Folglich ist für Russland im Gegensatz zu Kasachstan die Beteiligung an der Gründung der EAWU weniger ein Versuch, die Sowjetunion wiederherzustellen, sondern vielmehr das Bemühen, einen regionalen Block zu bilden, in dem Moskau in Zukunft die erste Geige spielen wird. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Russland seit der Bildung der Zollunion und des Gemeinsamen Wirtschaftsraums sowie in der Vorbereitung des Vertrags zur Gründung der EAWU hartnäckig versucht hatte, zwischen den drei Staaten den Prozess der Bildung einer politischen Allianz zu beschleunigen.

Der Vorsitzende der russischen Staatsduma, Sergei Naryschkin, sprach sich u.a. anfangs für die Schaffung eines Eurasischen Parlaments auf der Grundlage direkter demokratischer Wahlen aus. Aber weder in Astana noch in Minsk fand diese Idee Unterstützung. Dann warf der Präsident Kasachstans am 24. Oktober 2013 bei einem Treffen des Obersten Eurasischen Wirtschaftsrats in Minsk Russland zum ersten Mal vor, dass eine Politisierung der Eurasischen Wirtschaftskommission zu beobachten sei. Diese Vorwürfe waren darin begründet, dass abgesehen von der zahlenmäßigen Dominanz der russischen Mitglieder der Kommission diese außerdem regelmäßig an den Sitzungen der russischen Regierung teilnehmen, obwohl sie diesem Organ der Exekutivgewalt nicht untergeordnet sein sollen. (Nurscha 2014)

Etwas später, am 24. Dezember 2013 in Moskau, bekräftigte Nursultan Nasarbajew: »Wir bilden eine Wirtschaftsunion. Es ist daher nicht die Aufgabe der Kommission, in das Abkommen Gesetze aufzunehmen, die über die wirtschaftliche Integration hinausgehen. Ich denke, dass wir deutlich über dieses Thema gesprochen haben. Bereiche wie der Grenzschutz, Migrationspolitik, Verteidigungs- und Sicherheitssystem sowie Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Kultur, Rechtshilfe in Zivil-, Straf- und Verwaltungssachen sind nicht relevant für die wirtschaftliche Integration und können nicht auf das Format der Wirtschaftsunion übertragen werden.« (Nasarbajew 2013)

Interessant ist, dass kurz vor der Unterzeichnung des Vertrags über die Gründung der Eurasischen Union in Astana einige kasachische Beamte noch einmal bestätigten, dass in den ersten Versionen des Vertrags zur Gründung der EAWU Vorschläge politischen Charakters enthalten waren, die auf Drängen der kasachischen Seite entfernt wurden.



Das Anliegen von Belarus

Der Präsident von Belarus Aleksandr Lukaschenko spricht sich aus Furcht vor einer Dominanz Russlands ebenfalls gegen die Politisierung der EAWU aus. Gleichwohl hat Minsk sehr konkrete Ziele im Rahmen dieser Integrationsvereinigung. Erstens ist das der Zugang zu finanzieller Unterstützung vonseiten der Eurasischen Entwicklungsbank, deren Kapital vor allem aus Einlagen Russlands und Kasachstans besteht. Zweitens die Existenz eines Marktes für belarussische Produkte, denen aufgrund der politischen Spannungen zwischen der Führung Belarus' und den westlichen Ländern der europäische Markt verschlossen ist. Drittens gleicher Zugang zu Pipelines sowie gleiche Preise für den Transport von Energieressourcen, einschließlich der aus Kasachstan. Russland hat sich schon bereit erklärt, Belarus ab 2015 die Hälfte der Erlöse aus Exportzöllen für Erdölprodukte (1,5 Milliarden US-Dollar), die in belarussischen Raffinerien aus russischem Öl produziert werden, zu übertragen. Gleichzeitig ist die Beschleunigung der Schaffung eines Binnenmarktes für Öl und Gas in der EAWU wichtig für Minsk, Russland will ihn erst 2025, was bereits Unzufriedenheit bei Lukaschenko hervorgerufen hat.



Politische Risiken für Kasachstan

Kasachstans Innen- und Außenpolitik sind extrem personalisiert. Für Präsident Nursultan Nasarbajew ist die EAWU Teil der Verwirklichung seiner politischen Ambitionen. Aber wird sein Nachfolger diese Ambitionen teilen? Und vor allem: Wie wird sich Russland gegenüber dem kasachischen Politiker, der Nursultan Nasarbajew ablösen wird, verhalten? Wird dies eine Beziehung unter Gleichen sein, oder wird Moskau versuchen, auf die Führung Kasachstans Einfluss zu nehmen, wie es dies manchmal gegenüber Aleksandr Lukaschenko getan hat?

Es kann sich in Kasachstan immer die Situation ergeben, dass mittelfristig politische Kräfte an die Macht kommen, die plötzlich die Spielregeln ändern wollen. Zum Beispiel kann der Austritt aus der EAWU erklärt oder die Mitgliedschaft in der OVKS beendet werden, wie im Falle Usbekistans. Formell kann Kasachstan natürlich aus der Eurasischen Wirtschaftsunion austreten. Artikel 118 des Vertrags über die Gründung der EAWU besagt, dass jeder Mitgliedsstaat das Recht hat, sich aus dieser regionalen Organisation zurückzuziehen. Die Ereignisse in der Ukraine - die nebenbei bemerkt auch in die Zollunion eingeladen war - haben die ganz reelle Gefahr des Drucks auf Staaten gezeigt, die Russland als Zonen seiner wichtigen geopolitischen Interessen ansieht. Zu diesen zählt auch Kasachstan als ein an Russland angrenzender Staat mit einem hohen Prozentsatz russischsprachiger Bevölkerung. Darüber hinaus könnten sich Probleme durch die Anwesenheit Russlands im Raumfahrtzentrum Baikonur oder den gepachteten militärischen Versuchsgeländen in Kasachstan ergeben.

Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der Einwohner Kasachstans in den letzten Jahren auf mehr als 17 Millionen angewachsen. Den größten Anteil an der Bevölkerung stellen die Kasachen mit mehr als 64 Prozent. Der Anstieg der Zahl der Kasachen in den letzten zehn Jahren ist auf natürliches Wachstum sowie die Migrationsströme der Oralmanen (ethnische Kasachen, die im Ausland leben) auf das Territorium der Republik zurückzuführen. Wenn die Anzahl der Kasachen, einschließlich der kasachischsprachigen Jugend, zunimmt, reduziert sich im Gegenzug die Anzahl der Angehörigen der ethnischen Minderheiten. Wenn sich dieser Trend eines wachsenden Anteils kasachischer Bevölkerung fortsetzt, dann wird sich die Haltung der Mehrheit der Bürger Kasachstans gegenüber den Integrationsprojekten mit Russland in der Zukunft möglicherweise verschlechtern.

All dies schafft eine soziale politische Basis für nationalpatriotische Gefühle, von denen einige bereits jetzt eindeutig anti-russischen Charakter haben. Kasachstan ist das einzige Land im Rahmen der EAWU, in dem eine recht hitzige Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern der Integration mit Russland stattfindet. Optimisten, darunter viele Angehörige ethnischer Minderheiten, vor allem Russen, die in Kasachstan leben, sind der Ansicht, dass es notwendig ist, an den Integrationsprozessen mit Russland teilzuhaben, um nicht nur im harten Wettbewerbskampf mit anderen Ländern, sondern auch mit transnationalen Firmen zu überleben. Auch gemäßigte Experten glauben, dass Kasachstan angesichts des harten globalen Wettbewerbs mit Nachbarn im vormals sowjetischen Raum wirtschaftlich zusammenarbeiten muss. Sie sind jedoch gegen jegliche politische Unionen.

Die Skeptiker teilen sich ihrerseits in zwei Gruppen auf: die Politiker und die Ökonomen. Erstere sprechen sich mit den folgenden Argumenten gegen die Schaffung einer Eurasischen Union aus: Die Eurasische Integration sei ein russisches imperiales Projekt und ein Versuch, die Sowjetunion wiederaufleben zu lassen, mit dem Ergebnis, dass Kasachstan seine Unabhängigkeit verlieren wird. Es gibt auch Bedenken, dass die Beteiligung Kasachstans an der EAWU ein Schlag gegen die multivektorale Außenpolitik sein könnte. Die Ereignisse in der Ukraine waren ein alarmierender Indikator, der gezeigt hat, dass der diplomatische Handlungsspielraum Kasachstans wirklich schrumpfen könnte. Viele hatten von Astana größere Flexibilität in der Krim-Frage erwartet: Nachdem es 2008 nicht die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens anerkannt hatte, hatte sich Kasachstan in der Abstimmung zur Resolution der UN-Vollversammlung über die Ungültigkeit des Referendums auf der Krim enthalten. Astana akzeptierte das Referendum auf der Krim als »freie Willensäußerung der Bevölkerung« und drückte »Verständnis für die Entscheidung Russlands« aus. Es ist durchaus möglich, dass der entscheidende Unterschied zwischen 2008 und 2014 darin besteht, dass Kasachstan vor sechs Jahren noch nicht der Zollunion angehörte. Deshalb wird im Land darüber diskutiert, wie sich die traditionelle Multivektorenpolitik, die lange Zeit ein bestimmtes Gleichgewicht zwischen den geopolitischen Kräften herstellte, mit den Integrationsprozessen der EAWU vereinbaren lässt.

Die Ökonomen unter den Skeptikern sind der Auffassung, dass das optimale Modell für Kasachstans Außenpolitik nicht die wirtschaftliche Integration mit einzelnen Staaten ist, sondern die Kooperation mit verschiedenen Staaten in unterschiedlichen Richtungen im Rahmen einer »distanzierten Partnerschaft«. Für Wasser und Energie beispielsweise in Kooperation mit Zentralasien und China, für Transport und Logistik mit Russland und China, oder für Innovationen auch mit der EU und USA.

Innerhalb der Zollunion konnte Kasachstan im Gegensatz zu Russland und Belarus seine Exporte nicht steigern. Der Direktor des Instituts für Wirtschaft der Russischen Akademie der Wissenschaften, Ruslan Grinberg, zeigt in seinem Vortrag »Die Bildung der Eurasischen Union: Chancen und Risiken« ganz klar: »Die Bedeutung der Zollunion liegt für Russland weitgehend darin, dass ein Drittel seiner Produktion im Maschinenbau auf dem Markt der Zollunion realisiert wird. Der Export Russlands in die Länder der Zollunion ist um 9,4 Prozent gestiegen, der Belarus' um 12,6 Prozent, der Kasachstans ist hingegen um 3,7 Prozent gesunken.« Es zeigt sich, dass Kasachstan, das schon Rohstoffanhängsel der Weltwirtschaft ist, auch zu einem Rohstoffanhängsel der Zollunion geworden ist. Darüber hinaus meint der russische Experte: »Für Kasachstan sind die Auswirkungen der Bildung der Zollunion auf den Außen- und gegenseitigen Handel gemischt. 2010/11 gab es einen Zuwachs an Importen aus Russland und Belarus, und 2012 begannen die kasachischen Exporte in diese Länder zurückzugehen, was sich negativ auf die Außenhandelsbilanz auswirkte. Die ersten Ergebnisse zur Funktionsweise der ZU haben gezeigt, dass das Ausmaß der Auswirkung der Integration für jedes teilnehmende Land stark variieren kann.« (Grinberg 2013)

Darüber hinaus ist bisher unklar, wie die Schaffung der EAWU mit Kasachstans forciertem industriell-innovativem Entwicklungsprogramm zusammenpasst, bei dem der Schwerpunkt nicht so sehr auf der Wiederherstellung alter Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und Belarus liegt, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion zerstört wurden, sondern auf der Entwicklung neuer und innovativer Richtungen, die ausländische Investoren anlocken können. Auch wenn man diese ersten Schritte aufeinander zugeht, sollte verstanden werden, dass die wirtschaftliche Integration nicht automatisch zum BIP-Wachstum führt oder den Lebensstandard der Bevölkerung erhöht, da viele dieser Indikatoren weitgehend von der Effektivität der Wirtschaftspolitik innerhalb jedes einzelnen Landes der Region abhängig sind. Zur gleichen Zeit entsteht durch die wirtschaftlichen Disproportionen in der Entwicklung der verschiedenen Länder automatisch die Gefahr, dass ein stärkerer Spieler zum Geldgeber für die schwächeren Mitgliedsstaaten wird.



Bibliographie

Grinberg, Ruslan (2013): Rede auf der Sitzung des Präsidiums der Russischen Akademie der Wissenschaften (23.4.2013).

Nasarbajew, Nursultan (2007): Botschaft des Präsidenten der Republik Kasachstan an das Volk Kasachstans (28.2.2007);
http://akorda.kz/ru/page/page_poslanie-prezidenta-respubliki-kazakhstan-n-nazarbaeva-narodu-kazakhstana28-fevralya-2007-g_1343986887 (Letzter Zugriff 30.5.2014).

Nasarbajew, Nursultan (2011): Die Eurasische Union: Von der Idee zu der Geschichte der Zukunft, in Iswestija (25.1.2011), zugänglich unter http://izvestia.ru/news/504908 (letzter Zugriff 26.5.2014).

- (2013): Nasarbajew betonte die Unzulässigkeit der Politisierung der Eurasischen Wirtschaftsunion. (24.12.2013); zugänglich auf
http://www.regnum.ru/news/1749282.html (letzter Zugriff 28.5.2014).

- (2014): Teilnahme an der Unterzeichnung des Vertrags über die Eurasische Wirtschaftsunion. 29.5.2014; zugänglich unter
http://akorda.kz/ru/page/page_216905_uchastie-v-tseremonii-podpisaniya-dogovora-o-evraziiskom-ekonomicheskom-soyuze (letzter Zugriff 26.5.2014).

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Nurscha, Askar (2014): Die Evolution des politischen Denkens in Kasachstan über die eurasische Integration: Eurooptimisten und Europessimisten in Kasachstan (Almaty: IMEP, 40 S.).



Über den Autor

Dr. Dossym Satpajew ist der Direktor der Risks Assessment Group, Gründer der Allianz Analytischer Organisationen Kasachstans. Er ist Autor der beiden Monographien »Lobbyismus: Die heimlichen Hebel der Macht« und »Politikwissenschaft in Kasachstan. Zustand der Disziplin«. Analytischer Beobachter für www.forbes.kz.



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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2014