Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → WIRTSCHAFT


GEWERKSCHAFT/1991: Industrielle Naturverhältnisse als Ausgangspunkt gewerkschaftlicher Umweltpolitik (spw)


spw - Ausgabe 6/2021 - Heft 247
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Mehr als eine ökologische Modernisierung

Industrielle Naturverhältnisse als Ausgangspunkt gewerkschaftlicher Umweltpolitik

von Jana Flemming [1]


In Konflikten um Arbeit und Natur werden gewerkschaftliche Perspektiven häufig vernachlässigt oder ihre Positionen kritisiert. Mitunter beschuldigen umweltpolitisch motivierte Akteure Gewerkschaften, ökologische Fragen nicht angemessen in ihre Agenda zu integrieren und damit globale sozial-ökologische Ungleichheiten zu zementieren. Es wird als politisch unverantwortlich angesehen, dass Gewerkschaften für den Erhalt von Industrien kämpfen, die einen massiven Einfluss auf den Klimawandel und andere Modi ökologischer Zerstörung haben.

Diese Konfliktlage gibt Anlass dafür, Gewerkschaften als jene Akteure näher zu betrachten, die gerade nicht die umwelt- und klimapolitischen Debatten dominieren. Im Fokus stehen im Folgenden politisch-kulturelle Orientierungen von Akteuren der IG Metall, insbesondere aus der Vorstandsverwaltung, aber auch aus einer Automobilregion.

Der Analyse liegen theoretische Konzepte zugrunde, die das Verhältnis von Natur und Gesellschaft beschreiben (Görg 2003, u. a.). Natürliche Prozesse unterliegen demnach immer gesellschaftlichen Deutungen, die sich voneinander unterscheiden, oder, wie im Fall umwelt- und gewerkschaftspolitischer Akteure, sich auch widersprechen können. Natürliche Bedingungen (wie das Klima) können allerdings auch Eigendynamiken entfalten, die Gesellschaften nicht vollends kontrollieren und beherrschen können. Entscheidende Vermittlungsinstanz im Stoffwechsel von Natur und Gesellschaft ist aber aus arbeitssoziologischer Perspektive die Arbeit (Voß 2010, S. 30).

Wie nun lassen sich die Deutungen von Funktionär_innen einer Industriegewerkschaft in diesem Verhältnis verorten? Sowohl die Stahlproduktion als auch die Automobilindustrie zeichnen sich durch einen hohen Organisationsgrad und starke tarifpolitische Bindung aus. Beide sind jedoch zunehmend ökologischen Regulierungen unterworfen und müssen sich gleichzeitig gegenüber größer werdender Konkurrenz auf dem Weltmarkt behaupten. Dabei geben Gewerkschaften nicht per se sozialpolitischen Ansprüchen den Vorrang. Die IG Metall-Führung hat sich klar zum Klimaschutz bekannt. Jedoch hat dies teilweise Unzufriedenheit bei den Arbeiter_innen aus der Schwerindustrie ausgelöst.

An der traditionsreichen und in der Organisation kulturell bedeutsamen Stahlindustrie zeigt sich, wie die Gewerkschafter_innen sowohl industriepolitische Probleme als auch die Klimakrise zu bearbeiten suchen. Historisch ist es nicht neu, dass die Stahlbranche mit Überproduktion und daraus folgenden niedrigen Preisen auf dem Markt zu kämpfen hat. Zum Zeitpunkt der Untersuchung (2016 und 2017), verwiesen die Gewerkschafter_innen darauf, dass die Produktion in Ländern wie China, dem weltweit wichtigsten Produzenten von Stahl und Aluminium, staatlich gefördert wird und dort geringeren sozial-ökologischen Standards unterliegt. Der durch die globale Konkurrenzsituation entstehende Preisdruck hat angesichts der Sorge um Standorte und Arbeitsplätzen zu Protesten von Gewerkschaften und Beschäftigten geführt. Als moralisches Argument wird von Seiten der Gewerkschafter_innen dabei auch eingebracht, dass die Stahlproduktion an den deutschen Standorten wesentlich umweltfreundlicher ist und energieeffizienter betrieben wird. Zwar wurde inzwischen in China selbst trotz steigender Nachfrage die Produktion gedrosselt, um die CO₂-Emissionen herabzusetzen. Der globalen Konkurrenzsituation soll aber auch in Zukunft vor allem mit technischen Neuerungen begegnet und der Stahlsektor dekarbonisiert werden. Doch wird die Lösung ökologischer Probleme so vor allem auf Energieeffizienz und innovative Technologien reduziert. In den Interviews ist als wesentliches Anliegen für den Klimaschutz zuhören, "im Bereich der Energieeffizienz, der Ressourceneffizienz, effizientere Produktionsprozesse und effizientere Produkte besser zu werden". Auch "über Innovation" solle "dieses CO₂-Thema" gelöst werden, wofür höhere Investitionen als notwendig erachtet werden. Mittels auf Energieeffizienz ausgerichteter technischer Innovationen soll die Wettbewerbsfähigkeit der bundesdeutschen Industrie erhalten bleiben. Dabei ist längst nicht geklärt, ob technologische Innovationen im Zuge einer ökologischen Modernisierung tatsächlich zu einem geringeren Umweltverbrauch führen - mindestens aber ist dies durchaus voraussetzungsvoll.

Von besonderer Dynamik erweist sich für die Gewerkschafter_innen der Wandel der Antriebstechnologien in der Automobilindustrie. Zum Zeitpunkt der Untersuchung hatte die Gewerkschaft gerade ein Konzeptpapier "Abgasnorm als Chance" herausgegeben, das sich mit den Regulierungen von Emissionen auf EU-Ebene befasst. Stolz bringt ein Gewerkschafter im Interview zum Ausdruck, dass die IG Metall sich damit "fast ein bisschen" an die Spitze des Fortschritts stelle und eine "richtige Position" vertrete - es wäre ja durchaus naheliegend, dass eine Gewerkschaft mit dem zentralen Organisationsbereich der Automobilindustrie gegen die Beschränkung von Emissionen argumentiert. In ähnlicher Weise betrachten auch andere Gewerkschafter_innen ihre Organisation als gewichtigen Akteur, der den Strukturwandel vom Verbrennungsmotor zum E-Motor auf sozial verantwortungsvolle Art und Weise vorantreibt und dabei auch klimapolitische Erfordernisse aufgreift. Ein anderer Gewerkschafter, der selbst mit dem Strukturwandel der Automobilindustrie zentral beschäftigt ist, äußert sich allerdings zynisch über die ökologische Selbstdarstellung seiner Organisation. Letztlich seien ökologische Werte und klimapolitische Ziele im Strukturwandel hin zur Elektromobilität nachrangig, in erster Linie gehe es um ökonomische Konkurrenzdynamiken und Technologieführerschaft auf dem Weltmarkt.

Übergreifend lässt sich in der Auseinandersetzung mit sozial-ökologischen Fragen unter den Gewerkschafter_innen eine grundlegende Ambivalenz ausmachen, die als sog. "Jobs versus Environment Dilemma" (Räthzel/Utzell 2011) auch in anderen Ländern identifiziert wurde. Allerdings schöpfen Gewerkschaften mit der Gegenüberstellung von Ökologie und Arbeit und den technologiefokussierten Lösungsansätzen ihr eigenes Potenzial nicht aus. Denn so wird Arbeit als komplementär zur Natur betrachtet, nicht aber in ihrer Vermittlungsfunktion im Stoffwechselprozess zwischen Gesellschaft und Natur. Wenn Lösungsansätze der Gewerkschaften zum Klimaschutz vorrangig um Effizienz und CO₂-Reduktion in der industriellen Produktion kreisen, übernehmen sie die kulturellen Deutungen der ökologischen Krise von den umweltpolitischen Akteuren, die ihnen aber in ihrer historisch gewachsenen Kultur der Gewerkschafts- und Arbeiter_innenbewegung fremd bleiben. An ihre eigenen, tendenziell verdeckten, Deutungen knüpfen sie nicht selbstbewusst an. Ökologische Themen werden so nicht grundsätzlich als inhärenter Bestandteil industrieller Strukturwandelprozesse betrachtet - wo doch die Beschäftigten in ihren jeweiligen Industrien als Bindeglied im Stoffwechsel von Gesellschaft und Natur arbeiten. Lohnend wäre es, die Perspektive zu stärken, dass gerade Industriearbeiter_innen in ihrer täglichen Arbeit an einem Prozess mitwirken, der auch umweltpolitisch gestaltet werden kann. Bislang findet der wesentliche Teil gewerkschaftlicher Umweltpolitik jedoch auf Basis staatlicher oder europäischer Politik statt, der vorrangig auf die Industrie im Allgemeinen fokussiert. Die Arbeitsprozesse im Betrieb zusammen mit den Beschäftigten stärker in den Blick zu nehmen, wäre ein nächster Schritt.

Wenn gerechte Übergänge für die Beschäftigten gestaltet werden sollen, anstatt ihnen die Kosten der Transformation einseitig aufzubürden, könnten die Möglichkeiten der Mitbestimmung auch um ökologische Fragen erweitert werden. Betriebsrät_innen sind hier als Agent_innen des Strukturwandels gefragt, mit Rückenstärkung sowohl durch die Gewerkschaft als auch von Umweltverbänden. Ziel wäre es, unter Einbezug der Belegschaften und humanen Arbeitsbedingungen ökologisch sinnvolle Produkte herzustellen. Damit diese am Markt platziert werden können, sind sozial-ökologische Investitionsprogramme notwendig. Zur politischen Gestaltung gerechter Übergänge gehören auch Qualifizierungsmaßnahmen, wo im Bereich der Digitalisierung die Programmierschule bei VW in Wolfsburg zu nennen ist. Hinsichtlich ökologischer Themen sollten die Beschäftigten nicht nur im Bereich der Umwelttechnik weitergebildet werden, sondern sich auch reflexiv über das Verständnis industrieller Arbeit im Verhältnis zum Umwelt- und Klimaschutz auseinandersetzen. Insofern müssen Gewerkschaften nicht mehr nur mit den Sozialpartnern, sondern auch mit Umweltpartnern verhandeln und von ihnen einfordern, auch die soziale Dimension des Wandels stärker in den Blick zu nehmen.

Der Stellenwert von Umwelt- und Klimaschutz im Wertesystem der Beschäftigten wird von den Gewerkschafter_innen unterschiedlich eingeschätzt. Einige betonen, dass die hohe Bedeutung von Arbeitsplatzsicherheit und guten Tariflöhnen nicht gegen ein Interesse an Umweltschutzfragen spricht. Andere gehen allerdings davon aus, dass ein zu hohes Maß gewerkschaftlicher Umweltpolitik abschreckend auf ihre Mitglieder wirken oder sie gar zu einer Verlagerung politischer Einstellungen nach rechts veranlassen könnte. Ein durchaus gewichtiges Argument angesichts des Erstarkens sowohl der umweltpolitischen als auch der rechtspopulistischen Kräfte, denn beide stehen sich in ihren politischen Zielen beinah komplementär gegenüber und können soziale Spaltungen in dem Land weiter vertiefen - eine Polarisierung, der die IG Metall ihren gesellschaftspolitischen Ansprüchen zufolge entgegen wirken will. Gleichwohl schließt diese sozialpolitische Entwicklung nicht aus, dass sich die Gesellschaftspolitik von Gewerkschaften auch weiter der Sorge um eine intakte Umwelt widmet. Dies hat sie bereits in der Vergangenheit getan, wenn dies - wie z. B. im Fall der Debatte um die Atomkraft - auch eine umstrittene Thematik in der Organisation sein kann.

Das Potential der hier im Fokus stehenden Industriegewerkschaft als Akteur einer sozialökologischen Transformation lässt sich mit dem Begriff der industriellen Naturverhältnisse fassen. Im gewerkschaftlich zentralen Wert der Industrie lassen sich neben Orientierungen am Tauschwert (sprich an kapitalistischer Wertschöpfung) auch solche an den Gebrauchswerten industrieller Produktion identifizieren. Letztere sind im kulturellen Gedächtnis der Gewerkschaft sedimentiert (vgl. Schuppert 2008: 362), existieren aber nur latent, oder werden nicht (selbst-)bewusst nach außen getragen. Demgegenüber stehen gewerkschaftliche Orientierungen an technischen Lösungen von Umweltproblemen, vorrangig des Klimaschutzes. Diese orientieren sich am Paradigma der ökologischen Modernisierung, das sich gegenwärtig im Ringen um gesellschaftliche Hegemonie vor allem gegenüber fossilistischen Kapitalfraktionen aber auch Rechts-Autoritären durchzusetzen versucht. In dieser Neujustierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse will auch die Gewerkschaft nicht den Anschluss verlieren. Die ambivalenten Naturverhältnisse der Gewerkschaft, die einerseits instrumentell und zweckrational, andererseits wertrational ausgerichtet sind, verweisen auf eine moralische Ökonomie (vgl. Thompson 1971) der sich die Gewerkschafter_innen verpflichtet fühlen. Wenngleich ihnen die konkreten Ideen für sozial-ökologische Umbauprozesse oft fehlen, da es zunächst darum geht, dem Renditedruck zu entkommen, wenn bei Verhandlungen mit Unternehmen mit Verlagerungen oder Arbeitsplatzabbau gedroht wird. Auch hier bleibt zu konstatieren, dass eine umfassende Transformation nur mit gemeinsamen, solidarischen Anstrengungen anderer gesellschaftlicher Akteure gelingen kann.


Literatur

• Görg, Christoph (2003): Regulation der Naturverhältnisse. Zu einer kritischen Regulation der ökologischen Krise: Münster.

• Räthzel, Nora; Uzzell, David (2011): Trade unions and climate change: The jobs versus environment dilemma. In: Global Environmental Change 21 (4), S. 1215-1223.

• Schuppert, Gunnar Folke (2008): Politische Kultur:
Baden-Baden.

• Thompson, Edward P.(1971): The moral Economy of the english Crowd in the eighteenth Century. In: Past & Present Nr. 50: 76-136. Zugriff: 11.2.2019.

• Voß, Gerd Günter (2010): Was ist Arbeit? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs. In: Böhle, Fritz/Voß, Gerd Günter/Wachtler, Günther (Hg.): Handbuch Arbeitssoziologie. Wiesbaden. Zugriff: 29.8.2021.


Zur Autorin:
[1] Jana Flemming ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe "Globalisierung, Arbeit und Produktion" am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB). Dort ist sie als PostDoc mit den Auswirkungen von Automatisierung und Digitalisierung in der Arbeitswelt in Folge der COVID-19-Krise befasst. Sie promovierte mit einer Arbeit über politisch-kulturelle Orientierungen gewerkschaftlicher Akteur_innen in sozial-ökologischen Transformationsprozessen. Auf dieser Untersuchung basieren die folgenden Ausführungen, die unter dem Titel "Industrielle Naturverhältnisse. Politisch-kulturelle Orientierungen gewerkschaftlicher Akteure in sozial-ökologischen Transformationsprozessen" im oekom-Verlag erscheinen wird. Ein Artikel zum Thema ist in ähnlicher Form in den WZB-Mitteilungen 4/2021 erschienen.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2021, Heft 247, Seite 18 - 20
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
Abo-/Verlagsadresse:
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Westfälische Straße 173, 44309 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Internet: www.spw.de
 
Die spw erscheint mit 6 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 7,-
Jahresabonnement Euro 39,-
Auslandsabonnement Euro 49,-

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang