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FINANZEN/109: Sinnlose Finanzwetten schrittweise unterbinden (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 29/2010
Forum der Universität Tübingen
November 2010

Sinnlose Finanzwetten schrittweise unterbinden

Von Ferdinand Kirchhof


In der Öffentlichkeit läuft die Suche nach den Schuldigen für die Finanzkrisen. Doch wichtiger wäre es, die Ursachen zu klären und die Therapie einzuleiten. Vorgeschlagen wird, die Staatsverschuldung einzudämmen, die Banken stärker an Eigentümerinteressen auszurichten und schrittweise die ökonomisch sinnlosen Finanzwetten zu verbieten.


Innerhalb von nur zwei Jahren haben zwei Finanzkrisen die Märkte erschüttert. 2008 ließ die erste Krise den weltweiten Kreditmarkt versiegen. Die zweite Krise ging 2010 vom Euro aus, gefährdete jedoch ebenfalls das globale Finanzsystem. Die Öffentlichkeit konzentrierte sich leider auf die Suche nach den »Schuldigen«. Gewiss waren gierige Anleger, verantwortungslose Finanzmanager und leichtsinnige Banken, Investmenthäuser, Versicherungen oder Rating-Agenturen Mitverursacher. Die Fahndung nach den Schuldigen dient aber eher dem Bedürfnis der Öffentlichkeit, Täter zu bestrafen, als dem Ziel, künftige Finanzkrisen zu vermeiden. Zu diesem Zweck muss man die Ursachen beider Finanzkrisen emotionslos untersuchen und nach einer distanzierten Diagnose zur Therapie schreiten.

Die objektiven Ursachen beider Krisen lassen sich recht rasch identifizieren. Ausgangspunkt der Finanzkrise des Jahres 2010 war zweifelsohne die übermäßige Verschuldung des griechischen Staats. Dass der hohe Staatskredit von heute in eine übermäßige Steuerlast von morgen mündet und der jetzigen Generation erlaubt, auf Kosten künftiger zu leben, ist bekannt. Weil sich das griechische Staatsdefizit in Euro darstellte, schwappte die Krise zugleich auf den gesamten Raum der europäischen Währung über. Es liegt auf der Hand, dass Eindämmung und Abbau der Staatsverschuldung und die Einrichtung eines europäischen, zuverlässigen Mechanismus zur Vermeidung übermäßiger Verschuldung unerlässlich sind.


Neigung zu riskanten Geschäften

Zwei weitere Hauptursachen sollten rasch vom Staat und seiner Rechtsordnung geändert werden, um künftig Krisen zu vermeiden. Dabei handelt es sich zum einen um das in den ökonomischen Wissenschaften längst bekannte »Principal-Agent«-Problem, das sich wegen der weltumspannenden Finanzmärkte und der Neuerungen bei den Finanzinstrumenten erheblich verschärft hat. Private Banken und Versicherungen tragen zur Instabilität des Finanzmarkts bei, weil ihre leitenden Organe von Managern besetzt werden, die nicht ihre Eigentümer mit Kapitalrisiko und entsprechendem Interesse an der Erhaltung des Unternehmens sind. Die Ziele eines Bankenvorstands, der nur durch Dienstvertrag an sein Unternehmen gebunden ist, sind von kurzfristiger Natur. Er ist an Boni interessiert, an guten Quartalsbilanzen und hohen Renditen. Er neigt deshalb eher zu riskanten Geschäften und verliert das langfristige Unternehmensinteresse aus dem Auge. Leitet hingegen der Eigentümer selbst sein Unternehmen, wird er seine Geschäftspolitik auf langfristige Erfolge und Kapitalerhaltung ausrichten. Selbstverständlich ist es heute weder möglich noch angebracht, Banken als Einzelunternehmen oder Personengesellschaft zu gründen. Deren Aufgaben können heutzutage nur noch Kapitalgesellschaften im Fremdmanagement wahrnehmen. Man kann es aber gesetzlich wieder an die Eigentümerinteressen eines Finanzinstituts heranführen. Hierzu gibt es schon erfolgversprechende Vorschläge und Regelungen gegenüber erhöhten Boni oder zur Haftung des Managements.


Abgekoppelt von der Realwirtschaft

Zum anderen dürfte aber die entscheidende Ursache in den Finanzinstrumenten liegen, die sich seit den 1980er Jahren gebildet und mittlerweile den Finanzmarkt erobert haben: den Finanzwetten. Bei einer Wette setzt der eine auf den Eintritt eines bestimmten Ereignisses, der andere dagegen auf dessen Ausbleiben. Der gesetzte Geldbetrag geht an den Gewinner, der Gegenspieler verliert sein eingesetztes Kapital. Auf dem Finanzmarkt finden sich solche Finanzwetten in Form von Derivaten, Optionen und Zertifikaten. Sie weisen jeweils eine eigene Grundstruktur auf, dienen aber meistens allein dem Wettziel. Derivate sind Verträge über die Veränderung eines beliebigen Basiswerts, zum Beispiel von Rohstoffpreisen oder Aktienkursen in einer Branche. Anders als bei einer Aktie oder bei einem Rohstoff ist der Anleger aber gar nicht mehr am realen Austausch von Gütern und Dienstleistungen oder am ökonomischen Erfolg eines Unternehmens beteiligt und interessiert. Er benutzt deren ökonomische Daten nur, um nach Ablauf einer bestimmten Zeit aus deren Veränderung Gewinn zu erzielen. Der Vorgang ist ökonomisch völlig sinnlos, schafft keinen Mehrwert an Gütern oder Dienstleistungen, sondern befriedigt lediglich das Spiel um Gewinn. Ähnliches gilt für Optionen, bei denen keiner der Vertragspartner die Ware tatsächlich geliefert haben will, sondern nur auf die Preisdifferenz zum Optionszeitpunkt wettet. Gesteigert werden die Risiken, wenn man die Verträge verbrieft und damit als Wertpapier handelbar macht. Die so entstehenden Zertifikate bringen keine neuen Inhalte, begründen aber eine zusätzliche Gefahr für den Finanzmarkt, weil sie Derivate und Optionen in Form eines Wertpapiers zum unbegrenzten Handel frei geben. Sie verstärken die negativen Wirkungen der Finanzwetten.

Diese Wetten koppeln sich von der Realwirtschaft völlig ab und errichten einen selbstreferentiellen Markt. Schon Josef Schumpeter hatte erkannt, dass die Realwirtschaft der Herr und die Finanzwirtschaft der Hund sei, dass also die Finanzwirtschaft allein eine dienende Funktion für die Realwirtschaft haben dürfe. Gegen Hedging-Geschäfte zur Absicherung eines realwirtschaftlichen Güteraustauschs ist nichts einzuwenden; gegen ihren von der Realwirtschaft völlig abgekoppelten Einsatz als Wette sollte man einschreiten. Wie unsinnig Finanzwetten sind, zeigen eindringlich ihre Auswüchse. Wenn ein Spekulant sich gegen den Ausfall griechischer Staatsanleihen sichert, obwohl er gar keine gekauft hat, dann will er nicht als Kreditgeber einen Verlust für sich vermeiden, sondern setzt im Gegenteil darauf, dass der Kredit ausfällt oder der Kreditnehmer seine Bonität verliert. Denn nur dann zahlt die Versicherung ihm etwas aus. Eine an sich vernünftige Kreditversicherung mutiert unter der Hand zum Spekulationsgeschäft. Man braucht derartige Finanzwetten nicht einmal aus der moralischen Perspektive zu verdammen; es genügt bereits die Feststellung, dass sie für eine Volkswirtschaft unnütz sind und sogar Wirtschaft und Staat zum Kollaps bringen können.

Derartige Finanzwetten waren früher nach deutschem Recht verboten. Gesetzesänderungen in den letzten beiden Jahrzehnten haben sie erst für das Publikum zugelassen. Sie führen sogar zu einem Widerspruch in der deutschen Rechtsordnung. Der Staat hält den Bürger grundsätzlich von Wetten fern. Sogar die im Verlustrisiko geradezu harmlosen Lotterien werden beim Staat monopolisiert. Die §§ 284 ff. des Strafgesetzbuchs stellen unerlaubte Glücksspiele, § 287 die unerlaubte Veranstaltung von Lotterien unter Strafe. Es bleibt unerfindlich, warum das grundsätzlich verbotene Glücksspiel in Form von Derivaten und Optionen für das allgemeine Publikum zugelassen und deren Verbriefung in Form von Zertifikaten vom Staat geduldet wird. Hier wäre es dringend an der Zeit, die sinnlosen und gefährlichen Finanzwetten zu unterbinden. Man wird dabei in Zwischenschritten vorgehen müssen, also etwa Banken und Investmenthäusern den Eigenhandel untersagen, sie zu einem bestimmten Eigenbehalt verpflichten und verhindern, dass sie diese gefährlichen Geschäfte aus ihrer Bilanz herausdrücken und in Conduit-Gesellschaften parken. Ferner könnte man eine Zulassungspflicht für Derivate, Optionen und Zertifikate an der Börse einführen, ihre Standardisierung gesetzlich erzwingen oder den Handel mit ihnen auf Kaufleute beschränken. Eine erwägenswerte Alternative wäre es auch, wie beim Wechsel für den Handel mit Zertifikaten eine Indossierungspflicht vorzusehen, sodass derjenige, der durch sein Indossament ein Zertifikat weitergibt, dem Nacherwerber für die Bonität des Papiers haftet. Ein partielles Verbot von Finanzwetten wird heute vorgesehen mit der Untersagung der Leerverkäufe von Aktien oder des Abschlusses von Kreditversicherungen durch Dritte, die den Kredit gar nicht vergeben haben. Es gibt genügend Techniken, sich schrittweise dem Verbot von Finanzwetten zu nähern und es dann vollständig durchzusetzen. Wichtig ist nur, dass die Gemeinschaft der Staaten endlich entschlossen handelt, damit wir nicht in die nächste Finanzkrise schlittern.


Ferdinand Kirchhof ist seit 1986 Professor für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Tübingen. Er war von 2003 bis 2007 Mitglied des baden-württembergischen Staatsgerichtshofs und ist seit 2007 Richter des Bundesverfassungsgerichts, seit 2010 dessen Vizepräsident.


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Quelle:
attempto!, November 2010, S. 14-15
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2011