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FINANZEN/014: Die neue Finanzarchitektur - Auferstanden aus Ruinen? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009

Die neue Finanzarchitektur - Auferstanden aus Ruinen?

Von Elmar Altvater


Über eine lange Zeit waren die USA und der US-Dollar ein "safe haven", in dem es für internationales Kapital lohnenswert war, vor Anker zu gehen. Der Zusammenbruch der amerikanischen Finanzbranche hat das Vertrauen erschüttert. Doch ist deshalb auch schon die US-Hegemonie am Ende?


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Bush sen. hatte auf dem Höhepunkt des Kriegs gegen den Irak zu Beginn der 90er Jahre selbstbewusst den Beginn des "New American Century" verkündet, zumal auch der "Sieg im Kalten Krieg" zu feiern war. Der Sohn hat den Triumph in der Wüste ein Jahrzehnt später verspielt. Die Rezeptur der neokonservativen Ratgeber, jenes Gemisch aus neoliberaler Deregulierung und Liberalisierung der Marktkräfte, Umverteilung von unten nach oben und rücksichtslosem Einsatz militärischer Macht hat sich als Rohrkrepierer herausgestellt.

Es fehlte letztlich an Akzeptanz einer Führungsrolle der USA unter dem Präsidenten Bush jun., denn dieser hat fahrlässig den Konsens über die Grundlinien internationaler Politik unter der Annahme unterminiert, das Drohpotenzial militärischer Macht würde eine breite "Allianz der Willigen" erzwingen und im "Krieg gegen den Terror" könne es sich sowieso keine Regierung irgendeines Landes leisten, aus der Reihe zu tanzen, ohne als "Schurkenstaat" gebrandmarkt zu werden. Die Schwächung der US-Hegemonie nach acht Jahren Bush jun. abstreiten und beschönigen zu wollen, ist wie "lipstick on a pig that has been slaughtered" (Gary Younge im Guardian zu applizieren.

Soziale Bewegungen oder internationale Organisationen und verbindliche Regelwerke, etwa für die in den letzten beiden Jahrzehnten der neoliberalen Globalisierung sich explosiv entwickelnden globalen Finanzmärkte, galten Bush jun. und seinen Beratern als überflüssig, obwohl sie - wie selbst aufgeklärte Finanzspekulanten mahnten - überfällig waren. Es zählten die "freien Märkte" mit ihren ingeniösen Mechanismen und der Machtkomplex von Weißem Haus, Wallstreet und Caltex, der kalifornisch-texanischen Ölindustrie. Aus diesem Machttriangel, das noch um den militärisch-industriellen Komplex ergänzt wird, hat Bush sein Regierungspersonal rekrutiert, das sich mit mediokren Beratern umgab. Die Mühen der Ebene, beispielsweise zu einer tragfähigen globalen Finanzarchitektur zu gelangen, um zu verhindern, dass die immer abenteuerlicher werdenden Kreditpyramiden zu Ruinen verfallen, waren sie nicht bereit, auf sich zu nehmen.

Folglich endete die Amtszeit von Bush jun. im Desaster. Die Niederlage im Irak und die ausweglose Lage in Afghanistan, die verlogene Nahost-Politik, die dazu geführt hat, dass eine neue politische Ordnung im Nahen Osten mit neuen Machtzentren entsteht, die Vernachlässigung Lateinamerikas, die Spaltungsversuche zwischen dem "alten" und dem "neuen" Europa, erzwingen einen Neuanfang in der Außenpolitik der Administration Barack Obama. Die Sprengkraft der sozialen Verwerfungen, insbesondere die vom Zusammenbruch bedrohte Gesundheitsversorgung in den USA, erfordern radikale Reformen, die Obama bereits angekündigt hat. Alles das und vieles andere mehr ist wichtig und bedarf zur Bewältigung heroischer Anstrengungen, um den entgleisten Koloss USA wieder in die Spur zu bringen. Doch das ist nachgerade nichts im Vergleich zu den ökonomischen Herausforderungen, die die USA nun nach Ausbruch der verlustreichen Finanzkrise bewältigen müssen: nach der Bush-Pleite des Schuldenmachens, nach einer Welle von Finanzinnovationen, die alle darauf designt worden sind, möglichst hohe Renditen in möglichst kurzer Zeit von einer Horde von Absahnern einsammeln zu lassen, auch wenn deshalb langfristig notwendige Investitionen unterbleiben, nachdem große Teile der US-Bevölkerung in Armut abgerutscht sind.


Mikroökonomisch rational - makroökonomisch irrational

Die Finanzkrise, die vom Zusammenbruch des Hypothekenmarktes für kleine Häuslebauer und -käufer 2007 ausgelöst wurde, sprengt längst alle bislang bekannten Dimensionen, und hat die reale Ökonomie erreicht. Denn die Renditen des fiktiven Kapitals der Finanzsphäre müssen aus den realen, "im Schweiße des Angesichts" erarbeiteten Überschüssen abgezweigt werden. Wenn diese nicht reichen, weil die finanziellen Forderungen jede Bodenhaftung verloren haben, und sich daher als fiktiv erweisen, müssen hohe finanzielle Verluste weggesteckt werden. Die belaufen sich mittlerweile auf mehrere tausend Milliarden US-Dollar, keiner weiß es ganz genau. Doch es geht um viel mehr, nämlich um das Überleben des US-Bankensystems insgesamt und großer Flagschiff-Unternehmen, die einst das Symbol der US-amerikanischen Hegemonie in der Welt waren, Wegmarken des technischen Vorsprungs gesetzt haben, und - wie die krisengeschüttelten Konzerne General Motors und Ford -mit ihren Produkten die US-amerikanischen Konsummuster, den american way of life verkörpern.

Die US-Banken haben für etwa 2.000 Milliarden US-Dollar faule, heute so genannte "toxische Papiere" in ihren Büchern und bringen es insgesamt nur auf ca. 1.400 Milliarden US-Dollar haftendes Eigenkapital. In Deutschland ist die Relation übrigens auf niedrigerem Niveau ähnlich. Finanzinnovationen wie die Hebelwirkung - eine mikroökonomisch rationale Methode - haben die Banken veranlasst, immer mehr Fremdkapital aufzunehmen, auch über die vom "Baseler Abkommen" gesetzten Grenzen des haftenden Eigenkapitals hinaus. Man wich mit speziell für spekulative Geschäfte gegründeten "Zweckgesellschaften" in die schwarzen Löcher der Weltwirtschaft, die Offshore-Finanzzentren aus, wo die Aufsicht, sofern überhaupt vorhanden, äußerst lax gehandhabt wird. Gesamtwirtschaftlich ist das alles irrational, da nun das Eigenkapital nicht mehr reicht, um die Risiken abzusichern, wenn diese denn eintreten. Und sie sind eingetreten. Das ist eigentlich ein Fall für den Konkursverwalter, wären die USA und ihr Bankensystem nicht so zentral für die erschütterungsfreie Funktionsweise der globalen Finanzmärkte und die Stabilität der US-amerikanischen und globalen Finanzarchitektur. Man kann das Bankensystem nicht einfach zusammenbrechen lassen und sich - wie Nero im brennenden Rom am Inferno der ewigen Stadt - an den krachenden Banken und dummen Gesichtern der Ackermänner aller Finanzplätze erfreuen.


Noch ist der Dollar dominierende Reservewährung

Man kann auch nicht die Bildung der Wechselkurse den Märkten und den auf ihnen durchsetzungsfähigen Interessen der großen Banken und mächtigen Fonds überlassen. Sicher, es gab das "Plaza-Abkommen" einer politisch moderierten Anpassung der Wechselkurse an ökonomische Erfordernisse. Das ist inzwischen fast 25 Jahre her. Doch der neoliberale Überschwang der vergangenen Jahrzehnte hat auch zur Folge, dass die EZB zwar die Inflation bekämpfen muss, aber gemäß ihrer Statuten keine aktive Wechselkurspolitik betreiben darf. Die Fed kann die Kursentwicklung nur mit Zinssignalen steuern und ist damit weniger effizient als das Pentagon, das aller Welt mit dem big stick der militärischen Supermacht zeigt, dass die USA und der US-Dollar ein "safe haven" sind, in dem es lohnt, Kapital anzulegen und den Dollarkurs nach oben zu treiben, obwohl die Fundamentaldaten der Leistungsbilanz und des US-Haushalts seit Jahrzehnten den Dollarkurs nach unten verweisen. Die Kapitalbilanz ist also im finanzgetriebenen Kapitalismus wichtiger als die Handelsbilanz, und sie kompensiert auch die negativen ökonomischen Folgen des fiskalischen Defizits. Das funktioniert nur dann, wenn das Militär die Macht unterstreicht. Folglich bleibt daher der US-Dollar trotz fundamentaler Schwäche stark und ist als Reservewährung trotz US-amerikanischer Finanzkrise tonangebend.

Allerdings hat der Kraftprotz eine Achillesferse, und das ist die schon oft geäußerte, aber nie wahr gemachte Drohung einiger Öl exportierender Staaten, den US-Dollar als Ölwährung durch andere Währungen zu ersetzen. Die Folgen wären für die USA dramatisch. Sie müssten entweder neues Kapital zur Finanzierung der Ölimporte aufnehmen, oder aber die Sparquote anheben und das Defizit der Leistungsbilanz und des Staatshaushalts abbauen. Geht das, wenn man die Billionen bedenkt, die Obama in die Ankurbelung der Wirtschaft zu stecken beabsichtigt? Vielleicht, wenn man ein Obama-Fan wie Paul Krugmann ist, der die Einsparungen von 100 Milliarden pro Jahr gegenrechnet, wenn die USA das sündhaft teure Abenteuer im Irak beenden würden. Für die Weltwirtschaft würde dann allerdings ein Teil der Dollarnachfrage ausfallen, die aus Chinas, aber auch von Deutschlands und anderer Länder Exportüberschüssen finanziert worden ist. Wenn man aus der saldenmechanischen Koinzidenz von Überschüssen in den Exportnationen und entsprechenden Defiziten bei den Importeuren eine Kausalbeziehung ableitet, befinden wir uns in den Diskursen von Bernanke und inzwischen auch Krugman, die die Hauptursache der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte und Krisentendenzen im "savings glut" der Exportnationen, in deren Überschüssen von Ersparnissen, also darin, dass sie zu wenig konsumtiv ausgeben, erblicken. Die Veränderungen auf Finanz- und Währungsmärkten haben also realwirtschaftliche, strukturelle Folgen, und die sind schwerwiegend.

Auch wenn bis hierher viele Autoren, die höchst unterschiedliche Richtungen vertreten, übereinstimmen, fangen die Differenzen sofort an, wenn die Zukunftsaussichten der US-Hegemonie auf den globalen Finanzmärkten thematisiert werden. Immanuel Wallerstein und Giovanni Arrighi, die als die luzidesten und prägnantesten Vertreter der Weltsystemtheorie gelten, sagen schon seit geraumer Zeit den Niedergang der US-Hegemonie in den kommenden höchstens zwei Jahrzehnten voraus. Die Begründung für diese starke These wird nie allein aus der politisch-ökonomischen Situation der USA hergeleitet, sondern aus der sehr langfristigen Entwicklung des Weltsystems insgesamt. Der französische Historiker Fernand Braudel hat die "longue durée" von den mittelfristigen "conjonctures" und den aktuellen Ereignissen unterschieden. Auch Hegemoniezyklen folgen der "longue durée", und daher wird der Niedergang der USA seit den 60er Jahren, verstärkt durch die Niederlage in Vietnam, unterbrochen durch den "Sieg im Kalten Krieg" und das Verschwinden der konkurrierenden Supermacht, in absehbarer Zeit zur Ablösung der US-Hegemonie führen, möglicherweise indem China den Staffelstab im globalen Rennen übernimmt. Die Konsequenzen für das globale Finanzsystem wären radikal und gewaltig: die chinesische Währung müsste Funktionen übernehmen, die bislang vor allem der US-Dollar ausübt, nämlich die Funktionen der Leitwährung, der Handels- und der Reservewährung, und obendrein müssten die finanziellen Kontrakte und die Ölgeschäfte (mit "wet oil" an den spot-Märkten, mit "paper oil" an den future-Märkten) in Renminbi fakturiert werden.

Ist eine so radikale Ablösung der USA bei der Gestaltung der Geschicke der Welt wahrscheinlich? Leo Panitch und viele andere kritische Beobachter der US-Politik würden mit einem glatten "Nein" antworten. Denn weder ist der ökonomische und politische Niedergang der USA so eindeutig wie von Wallerstein und anderen unterstellt. Auch die Konkurrenzfähigkeit der US-Ökonomie sei keineswegs erodiert und obendrein würden die USA und insbesondere die Fed das Geschehen auf den globalen Finanzmärkten dominieren. Auch in der gegenwärtigen Finanzkrise hat Ben Bernanke, der Chef der Fed, aktiv die Finanzmärkte mit den ausgesendeten Zinssignalen beeinflusst, und zwar von Washington aus weltweit. Die EZB hat sich dabei zurückgehalten, sie erkennt also die Führungsrolle der USA in der globalen Währungs- und Finanzpolitik an.

Damit wäre die Frage nach einer neuen Finanzarchitektur schnell erledigt. Aus den Ruinen der in der globalen Finanzkrise zusammengekrachten neoliberal konzipierten Regulation des globalen Finanzsystems ist Neues auferstanden. Dazu gehören etwa die Kontrolle von Offshore-Zentren, das Verbot hochriskanter Wetten, die Errichtung von öffentlich-rechtlichen Rating-Agencies, das Außerkraftsetzen von Prämiensystemen, die die Kurzfristigkeit von Entscheidungen belohnen. Und die Verstaatlichung von Banken ist kein Tabu mehr. Das ist sicherlich zu wenig, wenn man Ursache und Tragweite der Krise bedenkt. Denn es wären die Renditeforderungen der Finanzmärkte so zu beschneiden, dass die Leistungsfähigkeit der realen Überschussproduktion nicht überlastet wird. Nicht die reale Ökonomie bedient die Finanzinstitutionen, sondern die Finanzmärkte sollen der realen Ökonomie dienen. Zu einer tragfähigen globalen Finanzarchitektur gehört also vor allem die Regulierung der Schnittstelle zwischen Finanz- und realer Ökonomie zwischen Lohneinkommen, Profiteinkommen und finanziellen Renditen, also eine Verteilungspolitik, durch die die horrenden, und die Krise mit bewirkenden Einkommen der Finanzakteure beschnitten und die Masseneinkommen gestärkt werden - auch um den Sparüberschuss ("savings glut") in die Konsumnachfrage zu lenken.


KASTEN
spot- und future-Märkte

An spot-Märkten beziehen sich die dortigen Notierungen auf die sofortige Auslieferung der betreffenden Rohstoffe. An future-Märkten werden Vertragsgegenstände zu einem festgesetzten Zeitpunkt in der Zukunft geliefert, deren Preis jedoch schon beim Vertragsabschluss festgelegt wurde. Wet oil ist physisches Öl, paper oil ist ein Tauschwert, der an future-Märkten als Kauf- und Verkaufsoption dient.


Elmar Altvater (* 1938) war 1970 bis 2004 Professor für Politikwissenschaften an der FU Berlin. Zahlreiche Publikationen über Globalisierung, globale Umweltprobleme und Finanzmärkte sowie die Zukunft der europäischen Integration.
altvater@zedat.fu-berlin.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009, S. 25-29
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2009