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DISKURS/136: Infrastrukturökonomie und Vergesellschaftung - Schlüssel für einen modernen Sozialismus (spw)


spw - Ausgabe 6/2019 - Heft 235
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Infrastrukturökonomie und Vergesellschaftung - Schlüssel für einen modernen Sozialismus

von Arno Brandt und Uwe Kremer[1]


Vorbemerkung

Die nachfolgenden Ausführungen knüpfen an unseren in der vorherigen spw[2] veröffentlichten Text "Demokratische Vergesellschaftung - Revisionen und Hypothesen für einen modernen Sozialismus" an. Inhaltlich verstehen sie sich als Fortführung und methodisch geht es erneut um grundsätzlich angelegte Dispositionen. Im Abschnitt "Progressive Strukturreformen und Sozialisierung" schrieben wir:

"Die Wiederaufnahme des Themas der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft unter Einschluss der Sozialisierung, des Gemeineigentums und der gesellschaftlichen Verfügungsgewalt sollte in Verbindung mit progressiven Strukturreformen "mittlerer Reichweite" erfolgen. Derartige Reformen dienen nicht der Modifikation im Grundsatz vorhandener Strukturen und Mechanismen, sondern sind auf einen grundlegenden Umbau von Strukturen und Mechanismen in den großen gesellschaftlichen Bedarfsfeldern ausgerichtet. In jedem dieser Felder wäre durchzubuchstabieren, in welcher Weise Vergesellschaftung im Sinne einer alternativen Logik wie auch im Sinne öffentlicher und gesellschaftlicher Verfügungsgewalt und Eigentumsformen wirksam werden könnte."

Für eine in dieser Perspektive weiterführende Agenda disponierten wir sodann drei übergreifende Stoßrichtungen, namentlich eine öffentliche Infrastrukturökonomie, eine gesellschaftlich beherrschte Fondsökonomie und eine demokratische Mitwirkung und Beteiligung.

"In erster Linie geht es darum, das übergreifende Verständnis einer öffentlichen Infrastrukturökonomie zu entwickeln, die in allen relevanten gesellschaftlichen Bedarfsfeldern für die wirtschaftliche Um- und Durchsetzung öffentlicher Zielsetzungen und demokratischer Mitwirkung sorgt - von "klassischen" Feldern wie der Wohnungs- und Siedlungswirtschaft oder der Energiewirtschaft über die "Care Economy" bis hin zur Internet- und Datenwirtschaft. Dies setzt eine Klärung der Frage voraus, was wir unter gesellschaftlich relevanten Infrastrukturen verstehen und nach welchen übergreifenden Grundsätzen öffentliche Funktionen in Bezug auf die Ausstattung, die Regulierung und den Betrieb der Infrastrukturen zu bestimmen sind und in welchem Verhältnis sie zu marktwirtschaftlichen Mechanismen und Sektoren stehen."

Im Mittelpunkt steht damit der Brückenschlag zwischen der aktuellen Infrastrukturkrise und der öffentlichen Infrastruktur als Dreh- und Angelpunkt einer Strategie progressiver Strukturreformen. Zeitgleich hat dieses Anliegen einen erheblichen Anschub durch das nun in Deutschland unter dem Titel "Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik" veröffentlichte Werk eines internationalen Autorenkollektivs (und das darin enthaltene Vorwort von Wolfgang Streeck) erfahren. Bei aller erforderlichen Kritik verschiebt das Buch laut Oliver Nachtwey "die Perspektiven einer auf Verteilung ausgerichteten Politik zu einer Politik der Infrastrukturen, der vergesellschafteten Ökonomie. Mit solch einer Strategie könnte die Linke am Alltag der Menschen ansetzen - und zugleich das Bild einer großen Transformation entwerfen." Besser lässt es sich nicht formulieren.

1. Definitionen gesellschaftlicher Infrastruktur

Bei öffentlicher Infrastruktur handelt es sich immer um gesellschaftliche Infrastruktur, die zumeist mit dem Begriff des Kollektivgutes assoziiert wird. Kollektivgüter dienen im Gegensatz zu Individualgütern den vorzugsweise gemeinschaftlich zu gewährleistenden Voraussetzungen für soziales Leben und wirtschaftliche Aktivität. Was als Kollektivgut gesellschaftlich anerkannt wird, hängt sowohl von objektiven Umständen, Notlagen und Herausforderungen wie auch interessensgeleiteten Definitionen und Wertvorstellungen ab und ist insofern selbst Gegenstand politischer Auseinandersetzung. Es gibt vor diesem Hintergrund verschiedene Dimensionen in der Klassifizierung gesellschaftlicher Infrastrukturen, die sich nach unserem Verständnis wie folgt skizzieren lassen:

a) nach Sektoren, insbes.
  • Bereitstellung natürlicher bzw. materieller Ressourcen (Energie, Wasser, Abfall; Verkehr, Logistik; Umweltschutz; Wohnungs- und Siedlungswesen usw.)
  • sozialkulturelle personenbezogene Dienstleistungen und die dafür erforderliche physische Infrastruktur (Gesundheit, Bildung, Erziehung, Pflege usw.)
  • Bereitstellung von Informations- und Kommunikationswegen bzw. Medien, zunehmend in Verbindung mit Dateninfrastrukturen
  • Finanzwesen (Banken, Versicherungen usw.)
b) nach Formen
  • baulich-technische Fazilitäten und Systeme
  • humane Fazilitäten und Kompetenzen
  • institutionelle und regulatorische Gefüge
c) nach Ebenen
  • Bereitstellung von Basisinfrastrukturen (Netze, Knotenpunkte und Plattformen)
  • Betrieb von Infrastrukturen (bzw. nutzerbezogene Zurverfügungstellung infrastruktureller Leistungen)
2. Politische Dimensionen der Infrastrukturthematik

Die Infrastrukturthematik ist außerordentlich komplex. In ihrer Behandlung - jedenfalls in einer progressiven bzw. sozialistischen Perspektive - sollten folgende Ebenen auseinandergehalten und im Zusammenhang gesehen werden:

a) Die Bewältigung von infrastrukturellen Bedarfen hängt wesentlich mit der Realisierung von Infrastrukturinvestitionen zusammen. Dabei besteht mit Blick auf den Zustand der Infrastrukturen und den riesigen Investitionsstau mittlerweile ein über politische Lager, ökonomische Interessen und wissenschaftliche Lehrmeinungen hinweg breit gefächerter Konsens, der zunehmend auch die "Schuldenbremse" zur Disposition stellt.

b) Wesentlich umstrittener ist die Art und Weise ihrer Finanzierung, Regulierung, Planung und Programmierung: Hierin eingeschlossen sind Fragestellungen wie die nach Demokratisierung und zivilgesellschaftlicher Beteiligung, nach der Rolle privater Wirtschaftsakteure (s. public private partnerships), nach zentralstaatlichen und kommunalen Kompetenzen, nach dem Umgang mit bürokratischen und korporatistischen Mechanismen u.a.m.

c) Von zentraler Bedeutung sind natürlich die inhaltlichen Ziele und damit verbundenen Funktionslogiken von Infrastrukturen (also z.B. die Frage der Autozentriertheit im Verkehrswesen, der Arztzentriertheit im Gesundheitswesen, des Vorrangs der Eigentumsbildung oder des Mietwohnungsbaus im Wohnungswesen, der raumplanerischen Zielsetzungen im Verhältnis von Stadt und Land u. ä.).

Alles zusammen genommen führt uns dies auf die Ebene progressiver Strukturreformen, die sich mit der Verfassung der gesellschaftlichen Infrastrukturen beschäftigen: Wir haben es eben nicht nur mit einem gewaltigen Investitionsstau, sondern in weiten Bereichen mit einer tiefgreifenden Funktionskrise zu tun, die grundlegende Systemfragen aufwirft.

3. Infrastruktur, Alltagsleben und soziale Bewegung

Es ist von zentraler Bedeutung, die gesellschaftliche Infrastruktur in ihrer umfassenden Bedeutung für das Alltagsleben der Menschen, ihren sozialen Zusammenhalt wie auch in ihrem Umgang mit humanen und natürlichen Ressourcen zu verstehen. Sie steht für das Gemeinwesen, und zwar - je nach Zustand und Verfassung - für den Wunsch der Menschen nach sozialer Zugehörigkeit und gemeinsamer Bewältigung von Herausforderungen wie auch für die Erfahrung von Abgehängtsein und Handlungsunfähigkeit, wie wir es insbesondere in regionalen Kontexten erleben und mit allen Konsequenzen, die es insbesondere für den Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen mit sich bringt.

In diesem Sinne ist die gesellschaftliche Infrastruktur auch im umfassenden Sinne als ein Kampffeld und insbesondere als ein Feld sozialer Initiativen und Bewegungen zu verstehen. Die Auseinandersetzungen um "Stuttgart 21" gehören hier ebenso hinein wie die Initiativen für die Stärkung des sozialen Wohnungsbaus, die gewerkschaftlichen Kämpfe von ver.di für gute und wertgeschätzte Arbeit im Bereich der sozialen Dienstleistungen ebenso wie Initiativen zur Sicherung von Infrastrukturen in ländlichen Räumen und benachteiligten Stadtteilen. Vermutlich ist die gesellschaftliche Infrastruktur das Terrain, auf dem die für den modernen Kapitalismus entscheidenden sozialen Auseinandersetzungen geführt und die dafür relevanten sozialen Bündnisse formiert werden.

4. Infrastrukturökonomie und Sozialismus: Eine neue Sichtweise

Die herausragende Bedeutung der gesellschaftlichen - öffentlich organisierten oder regulierten - Infrastruktur ist natürlich in keiner Weise eine neue Erkenntnis. Und zweifelsohne kommt der gesellschaftlichen Infrastruktur für die kapitalistische Produktionsweise mit den sie wiederum bestimmenden Sektoren der industriellen Mehrwertproduktion eine hohe funktionelle Bedeutung zu. Aber vielfach führte dies in einigen Teilen der Linken dazu, sie in ökonomischer Hinsicht auf diese Funktionalität zu reduzieren, während andere Teile sie umso mehr gegen eine "Ökonomisierung" schützen wollten. Es geht uns hier und heute aber darum, die gesellschaftliche Infrastruktur selbst als einen ökonomischen und mehr noch als einen eigenständigen ökonomischen Sektor zu verstehen, der gegenüber den Sektoren der industriell bestimmten Mehrwertproduktion eine eigene sozialökonomische bzw. bedarfswirtschaftlich orientierte Logik und ein hohes sozialistisches Potenzial aufweist.

Um eine formationsgeschichtliche Analogie zu bemühen: So wie das kommerzielle Handels- und Bankenwesen (der Fuggers oder der italienischen Seerepubliken) einen ökonomischen Sektor darstellte, der in seiner Eigenständigkeit funktional für die feudal dominierte Gesellschaftsformation war, könnte ähnliches für die Infrastrukturökonomie in ihrem Verhältnis zur kapitalistischen Produktionsweise gelten. Und so wie kommerzielle Sektoren zugleich die Vorstufe und den Ausgangspunkt der kapitalistischen Ökonomie darstellten, so könnte der Infrastruktursektor als Vorstufe und Kern einer nach-kapitalistischen Ökonomie verstanden werden (während die sozialistische Linke früherer Zeiten diesen Kern ganz überwiegend in der industriellen Produktion vermutete).

5. Gesellschaftliche Infrastruktur und kapitalistische Landnahme

Diese veränderte Sichtweise auf den Infrastruktursektor wie auch auf die sozialistischen Potenziale der kapitalistisch bestimmten Gesellschaftsformation erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass sich das anlage- und renditesuchende Kapital seit den 80er Jahren - flankiert von verschiedensten Versionen der neoliberalen Agenda (darunter der sozialtechnokratischen von "New Labour") - immer weniger mit einer Funktionalisierung der in öffentlicher Regie betriebenen oder regulierten gesellschaftlichen Infrastrukturen begnügte, sondern es versuchte, sich selbige zum unmittelbaren Zweck der Kapitalverwertung einzuverleiben. Dieser Versuch war und ist allerdings eine zweischneidige Angelegenheit, insofern die kapitalistische Bewirtschaftung der gesellschaftlichen Infrastrukturen sich - anders als in den industriellen Stammsektoren des Kapitalismus (als Hochburgen der relativen Mehrwertproduktion) - gesamtökonomisch als außerordentlich impulsarm und in weiten Teilen sogar als dysfunktional darstellt.

Es wird sich zeigen, inwieweit dieser Versuch durch das Vordringen der großen IT- und Internet-Konzerne und der von ihnen verfolgten Strategien eine neue Dynamik und Perspektive bekommen kann. Denn die Digitalisierung transformiert mit Hilfe des "Internets der Dinge" und darauf basierender Industrie 4.0-Konzepte zwar die bislang dominierenden industriell-kapitalistischen Kernsektoren. Vor allem aber verfügt sie über ein riesiges Potenzial in Bezug auf die Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Infrastrukturen - mit der vermeintlichen Fähigkeit der genannten und weiterer "weltverbessernder" Konzerne, die Infrastrukturen an Stelle des Staates in einer quasi-öffentlichen Funktion betreiben zu können. Auch dies zeigt, dass die Infrastruktur sich zum zentralen Kampfplatz gesellschaftlicher - aber auch globaler - Transformationen entwickelt hat.

Anfang Texteinschub
Exkurs:

Wenn wir selbst immer wieder davon sprechen, dass es grundsätzlich einen Antagonismus von rendite- und bedarfsorientierten Logiken des Wirtschaftens gibt, so darf nicht übersehen werden, dass in der Vergangenheit in weiten Teilen der öffentlich bestimmten Infrastrukturen auch Logiken vorherrschten, die sich nicht in diesen Antagonismus einfügen und man als "bürokratisch" (etwa in Teilen der Kommunalwirtschaft) oder "ständisch" (etwa in Teilen des Gesundheitswesens) oder "klientelistisch" (in verschiedensten Teilbereichen) bezeichnen kann und die sich nicht in diesen Antagonismus einfügen bzw. darauf reduzieren lassen. In einer progressiven demokratischen bzw. sozialistischen Perspektive der Infrastrukturökonomie gehören auch derartige Strukturen und Mechanismen auf den Prüfstand.
Ende Texteinschub

6. Infrastruktur, Sozialdemokratie und Staat

Das Infrastrukturthema hat in der Sozialdemokratie schon immer eine zentrale Rolle gespielt - insbesondere auch in Verbindung mit ihrem Sozialstaatsverständnis. Insofern hat es in den vergangenen 25 Jahren für die Sozialdemokratie aber auch gleich zwei politische Katastrophen historischen Ausmaßes gegeben: nicht nur die mit "Hartz IV", "Riesterrente" usw. verbundene Zersetzung sozialer Transfersysteme, sondern auch den vielfachen Rückzug des Staates aus der vorausschauenden Bewirtschaftung und Gestaltung gesellschaftlicher Infrastrukturen.

Zwar gingen die diversen Privatisierungen nicht mit einem grundsätzlichen Verzicht auf die letztendliche infrastrukturelle Gesamtverantwortung des Staates einher, dafür aber mit einem immer komplexer werdenden Gefüge von Pseudo-Märkten, Rahmenregulierungen, Anreizsystemen und Vertragswerken und einem Rattenschwanz an rechtlichen Auseinandersetzungen und finanziellen Folgekosten bei substanziell geschwächter Durchsetzungskraft der öffentlichen Interessen (und vielfach auch bei nachlassendem Durchsetzungswillen). Im Endergebnis haben wir es mit Blick auf die vergangenen beiden Jahrzehnte mit einer verheerenden infrastrukturpolitischen Bilanz zu tun, einem Vertrödeln langfristig absehbarer Problemlagen und Herausforderungen von der Energieversorgung über das Verkehrssystem und das Wohnungswesen bis zum Pflegesektor, und einem Staatsversagen, von dem sich eine Partei, die seit 1998 siebzehn Jahre an der Bundesregierung beteiligt war, nicht frei sprechen kann.

7. Durchsetzungskraft des Staates und öffentlicher Sektor

Vor diesem Hintergrund ist es von zentraler Bedeutung, dass der Staat (inkl. der Kommunen) die Möglichkeit hat bzw. in vielen Fällen wiedererlangen muss, seine demokratisch legitimierten Vorgaben ohne komplizierte, intransparente, rechtsstreitanfällige und häufig extrem teure Regelwerke und ohne weitgehend dysfunktionale Pseudo-Märkte (wie wir sie z.B. aus der Ökonomie der "public private partnerships", aus dem Energiesektor, aber auch aus dem Gesundheits- und Sozialwesen kennen) durchzusetzen. Bei aller Unterschiedlichkeit der verschiedenen Infrastruktursektoren gehören hierfür folgende Elemente zum Mindestbestand einer öffentlich bestimmten Infrastrukturökonomie:

  • die Verstaatlichung der infrastrukturellen Netze, Knotenpunkte und Plattformen (s. beispielhaft den Beschluss der NRW-SPD für die Energienetze oder Labours Pläne zur flächendeckenden Bereitstellung des Internetanschlusses);
  • in jedem Sektor ein starkes öffentliches Kernunternehmen oder eine entsprechende Unternehmensgruppe (insbes. kommunaler Unternehmen), die auch im Betrieb bzw. in der Erbringung infrastrukturell relevanter und kollektiv zu erbringender Leistungen am Kunden tätig sind;
  • in Bezug auf nicht-öffentliche Anbieter privat- und andere gemeinwirtschaftliche Leistungsanbieter ein übergreifendes Regelwerk der öffentlichen Steuerung und Lizensierung unter Beteiligung der Nutzer (ggfs. Weiterentwicklung der in einigen Sektoren bestehenden Regulierungsräte).

In jedem Sektor wäre das Verhältnis staatlicher Infrastrukturnetzwerken und der Rolle des Staates in der Erbringung infrastruktureller Leistungen tabufrei durchzudeklinieren (diesmal aber "tabufrei von links", was z.B. bedeutet, dass auch die von der Linkspartei geforderte Verstaatlichung der Fluggesellschaften, um öffentliche Zielsetzungen im Klimaschutz und in der Verkehrsinfrastruktur durchsetzen zu können, ebenso ernsthaft zu prüfen wäre wie die Etablierung öffentlicher Dateninfrastrukturen und Kommunikationsplattformen).

8. Die zentrale Rolle der Kommunen in der Infrastrukturökonomie

Bei der Entwicklung einer öffentlichen Infrastrukturökonomie wird der kommunalen Ebene eine zentrale Rolle zukommen, entscheiden doch die kommunalen Infrastrukturen und Institutionen der Daseinsvorsorge maßgeblich über die Lebensqualität der Menschen und die Standortbedingungen wirtschaftlicher Aktivität. Eine Revitalisierung der kommunalen und regionalen Infrastrukturpolitik muss dazu beitragen, die Kommunen aus der Logik der Mangelverwaltung herauszuführen und zu einem lebendigen Ort demokratischer Zukunftsgestaltung werden zu lassen. Elementare Voraussetzung dafür ist eine Reform der kommunalen Finanzen, die zu einer grundlegenden Verbesserung der Einnahmenseite und zu einer konsequenten Anwendung des Konnexitätsprinzips führen muss.

Es geht aber auch um die Revitalisierung der kommunalen Ökonomie unter Führung des öffentlichen Wirtschaftssektors - eine Revitalisierung, die in Verbindung mit der Fondsökonomie zu sehen ist, von der Nutzung der EU-Strukturförderung für revolvierende regionale Fonds bis hin zu einem nationalen Zukunftsfonds, der als öffentliche Beteiligungsgesellschaft für kommunale Unternehmen in zentralen Infrastrukturfeldern fungiert (siehe z.B. den Vorschlag von Tom Krebs zu einem "staatlichen Zukunftsfonds für eine erfolgreiche sozial- ökologische Transformation der Gesellschaft" im ZBW-Wirtschaftsdienst 8/2019). Die Rekommunalisierung von infrastrukturellen Leistungen wie auch die Erschließung neuer infrastruktureller Aufgabengebiete (z.B. im öffentlichen Gesundheitswesen und in den digitalen Infrastrukturen) sollte unter Nutzung des öffentlichen Beschaffungswesens auch zu gänzlich alternativen Modellen von "public private partnerships" führen - zu Netzwerken der gemeinschaftlichen Daseinsbewältigung, in denen zivilgesellschaftliche Initiativen und gemeinwirtschaftliche Einrichtungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die Unternehmen des lokalen Mittelstands.

9. Gesellschaftliche Infrastruktur und gesamtwirtschaftliche Innovation

Die Infrastrukturökonomie wirkt in zweierlei Hinsicht auf Transformationen und Innovationen in anderen ökonomischen Sektoren und in der gesamten Volkswirtschaft und damit auch auf die Herausforderungen eines solidarisch-ökologischen Umbaus.

  • Zum einen steht sie für infrastrukturelle Voraussetzungen und Problemlösungen für grundlegende Transformationsprozesse, die sich insbesondere auf den Feldern der Dekarbonisierung, der Digitalisierung, der Mobilität und der Ernährungswirtschaft stellen.
  • Zum anderen beeinflusst sie die Nachfrage nach Gütern und Leistungen aus anderen Sektoren - entweder als unmittelbarer Nachfrager zuliefernder Branchen (z.B. Fahrzeuge für den ÖPNV) oder indem sie mit ihren infrastrukturellen Vorgaben die Nachfrage nach komplementären Gütern und Leistungen (z.B. PKW) beeinflusst.

Es ist daher vor allem die Infrastrukturökonomie, über die der Staat eine aktive und gestaltende Rolle wahrnehmen kann und - um den Preis des Staatsversagens - wahrnehmen muss. Der Infrastrukturstaat ist verantwortlich für infrastrukturelle Systeminnovationen und am ehesten in der Lage, sich auf damit verbundene Unsicherheiten und Risiken einzulassen und frühzeitig wie auch langfristig zu investieren. Er kann damit auch die Entwicklung neuer Produkte und Problemlösungen sowie die Entstehung neuer Märkte begünstigen. Ihm kommt eine ebenso unternehmerische wie planerische Rolle zu, indem er strategische Ziele für die innovationsrelevanten Akteure und Institutionen vorgibt und Leitprojekte definiert, die aus einem breiten gesellschaftlichen Verständigungsprozess hervorgehen.

10. Infrastrukturökonomie und Fondsökonomie

In der Perspektive progressiver Strukturreformen und eines modernen Sozialismus besteht eine enge Beziehung zwischen einer öffentlichen Infrastrukturökonomie und einer gesellschaftlich beherrschten Fondsökonomie, die in Bezug auf die großen Investitionsströme für die Um- und Durchsetzung gesellschaftlicher Zielsetzungen und eine öffentliche bzw. gesellschaftliche Beteiligung am Produktivkapital sorgt (siehe dazu in unserem vorgängigen Papier zur "Demokratischen Vergesellschaftung" die These 21).

Derartige Investitions- und Beteiligungsfonds stehen für eine institutionelle Sammlung von Finanzmitteln für bestimmte Zwecke im öffentlichen und privaten Sektor und finden in der aktuellen Debatte auch als Mechanismen zur Erweiterung des finanzpolitischen Handlungsspielraums der öffentlichen Haushalte immer größeren Anklang. Investitionsfonds können sich aber auch darüber hinaus zu einem integralen Bestandteil einer diversifizierten, pluralen und demokratisch verfassten Ökonomie entwickeln und die Basis für die künftige Infrastrukturökonomie systematisch erweitern. Dies gilt in Bezug auf die Realisierung und Programmierung von Investitionen in den Zukunftsfeldern der gesellschaftlichen Infrastruktur wie auch zwecks Stärkung der Kapitalbasis von öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Unternehmen (ggfs. auch privaten Unternehmen im Rahmen neuer Kooperationsformen in der kommunalen Ökonomie). Sie werden damit - zusammen mit dem öffentlich-rechtlichen und gemeinwirtschaftlichen Finanzsektor (darunter insbesondere die Sparkassen) - selbst zu einem integralen Teil der gesellschaftlichen Infrastruktur.

11. Programmierung, Digitalisierung, Demokratisierung

Die gesellschaftlichen Dimensionen der Digitalisierung erschließen sich zuvörderst in Verbindung mit der Infrastrukturökonomie. Damit ist nicht nur die digitale Transformation des infrastrukturellen Teilsektors "Medien, Kommunikation, Internet" gemeint, die damit schon zu einem Leitsektor moderner Infrastrukturökonomie geworden ist (ohne dass die öffentliche Beeinflussung geschweige denn Bewirtschaftung damit Schritt gehalten hätte). Vielmehr kommt der auf Künstlicher Intelligenz basierenden Digitalisierung eine überragende Bedeutung für die gesamte moderne Infrastrukturökonomie zu, erst recht, wenn sie einem ökologisch-sozialen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft verpflichtet sein sollte.

  • Zum einen geht es um die Programmierung komplexer und nachhaltiger Infrastrukturentwicklungen und der mit ihnen verbundenen Investitionen, also z.B. darum, wie man den vorsorgenden Sozialstaat und das Gesundheitswesen mit Hilfe vorausschauender Datenanalytik organisiert, die energetischstofflichen Ver- und Entsorgungssysteme mit Hilfe datenbasierter Simulationen in ökologische Kreisläufe transformiert, oder wie man Verkehrs- und Siedlungssysteme mit Hilfe digitaler Planungsmechanismen nachhaltig umbaut.
  • Zum anderen geht es um die netzwerkbasierte Demokratisierung unter Einbeziehung von Beschäftigten und der Nutzer als KoAkteure der "Produktion" infrastruktureller Dienstleistungen: Die Möglichkeiten zur Generierung und Simulation von Planungsalternativen wie auch für ein kontinuierliches Nutzerfeedback in sozialen Netzwerken (die ihren Namen wirklich verdienen) nehmen sprunghaft zu und eröffnen neue Perspektiven einer qualifizierten demokratischen zivilgesellschaftlichen Beteiligung.

Eine stärkere öffentliche Präsenz in Medien-, Daten- und Internet-Infrastruktur zusammen mit der systematischen Aufbereitung der im öffentlichen Sektor lagernden Datenbestände und einer Vergesellschaftung von Datenpools und Regelwerken hätte somit erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Infrastrukturökonomie.

Ein kurzes Fazit

So essenziell die sozialen Transfersysteme als Mechanismus der Umverteilung und so bedeutsam die Demokratisierung in den Sektoren der Produktions- und Konsumgüterproduktion sind und bleiben, so sehr sind wir der Überzeugung, dass sich die Perspektive sozialistischen Wirtschaftens, von Vergesellschaftung und demokratischer Planung nur auf dem Terrain der gesellschaftlichen Infrastrukturen erschließen lässt - verstanden

  • als Orte gemeinschaftlicher Wertschöpfung und Ökonomie,
  • als Bezugspunkte der großen volkswirtschaftlichen Investitionsströme,
  • als Faktoren gesamtwirtschaftlich wirksamer Nachfrage,
  • als Gegenstand gesellschaftlicher Willensbildung und Planung,
  • als Motoren sozialökologischer Innovationen und Transformationen,
  • als Feld sozialer Auseinandersetzungen und Partnerschaften

in der Perspektive dessen, was wir in dieser Zeitschrift früher einmal als Bündnis von Arbeit, Wissenschaft und Kultur bezeichnet haben.


Anmerkungen

[1] Dr. Arno Brandt ist Regionalökonom und lebt in Lüneburg.
Dr. Uwe Kremer ist Sozialwissenschaftler und Mitherausgeber der spw.

[2] spw Heft 233, Ausgabe 4/2019, S. 75.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2019, Heft 235, Seite 21-27
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2020

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