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DISKURS/127: Globale Ungleichheit - eine Enthüllungsgeschichte (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2016

Globale Ungleichheit - eine Enthüllungsgeschichte

von Michael Dauderstädt


"Das reichste 1% der Welt besitzt mehr als der gesamte Rest der Menschheit", beklagte eine Studie, die Oxfam beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos vorstellte. Sie ist nur eine von zahlreichen Analysen zur Ungleichheit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung, die in den letzten Jahren erschienen sind. Seit der globalen Finanzmarktkrise hat das Interesse daran stark zugenommen. Die Krise hat nicht nur die fatalen Folgen schlecht regulierter und intransparenter globaler Kapitalmärkte enthüllt, sondern auch ihre Wurzeln in einer immer ungleicheren Verteilung von Einkommen und Vermögen.

Lange Zeit war es in den Wirtschaftswissenschaften geradezu verpönt, Verteilungsfragen zu diskutieren. Die Verteilung galt als quasinatürliches Ergebnis effizienter Märkte, die jede Leistung nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen optimal bewerten. Eingriffe in diesen Prozess konnten demnach Wachstum und Wohlstand nur gefährden. Der sogenannte Washington Consensus unter der Führung der großen internationalen Organisationen Weltwährungsfonds (IWF), Weltbank und OECD forderte daher die Deregulierung von Märkten, insbesondere für Arbeit und den Rückbau der angeblich leistungsfeindlichen staatlichen Umverteilung.

Von links war diese fragwürdige Einseitigkeit schon lange kritisiert worden. Bereits 2009 erregte das Buch Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind von Kate Pickett und Richard Wilkinson Aufsehen. Auffällig ist nun, dass seit einigen Jahren auch die Institutionen des Mainstreams alarmiert sind. Die OECD veröffentlichte gleich mehrere große Berichte: 2011 erschien "Divided We Stand - Why Inequality Keeps Rising", worin gezeigt wird, wie die Ungleichheit zunahm, den sozialen Aufstieg behindert und dass die Armen vom Wachstum kaum profitieren. 2015 legte sie mit "In It Together: Why Less Inequality Benefits All" nach, in der die OECD für eine gerechtere Verteilung im Interesse aller plädierte. Auch der traditionell anders gestrickte IWF überraschte mit Studien, dass Umverteilung Wachstum fördern kann. Selbst der liberale Economist ist besorgt und widmet dem Thema immer mehr Raum.

2013 schlug ein Buch wie eine Bombe ein: Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert. Der Autor zeigt darin das dramatische Wachstum der globalen Vermögen, die von ihrem relativen Tiefstand 1950, als sie das Dreifache des Welteinkommens ausmachten, inzwischen auf fast das Fünffache angestiegen sind und sich wieder den Werten von 1910 nähern. Er stellte fest, dass die Renditen auf diese gigantischen Vermögen in der Regel höher sind als die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts, was die Einkommensverteilung weiter zugunsten der Reichen verschiebt.

Wie hat sich die Verteilung nun tatsächlich entwickelt? In den meisten Ländern der Welt hat die Ungleichheit zugenommen. Der meist genutzte Indikator für Ungleichheit ist der Gini-Koeffizient. Er variiert zwischen 0 (völlige Gleichverteilung) und 100 (das gesamte Einkommen fließt einem Individuum oder Haushalt zu). Im OECD-Durchschnitt stieg der Gini in den letzten drei Dekaden von 28,9 auf 31,3. Typisch ist die Entwicklung in der größten Volkswirtschaft, den USA. Unter den entwickelten, reichen Ländern hat es die ungleichste Verteilung: Der Gini stieg seit 1985 von 34 auf 41 an. In Deutschland stieg er von 25,1 auf 29,1. Beunruhigend ist auch der starke Anstieg in traditionell egalitären Ländern wie Schweden (von 19,8 auf 27,4). Nur wenige EU-Länder konnten diesem Trend entgehen (Belgien, Niederlande, Frankreich). In den ärmeren Ländern ist die Ungleichheit meist noch höher. In Lateinamerika sind Gini-Werte von 50 üblich, in Afrika von 45. Die gute Nachricht hier ist, dass die Ungleichheit in einigen Ländern zurückging, so etwa in Brasilien. In China hat dagegen im Zuge des spektakulären Wachstums zwar die Zahl der Armen abgenommen, aber die Ungleichheit ist dramatisch gestiegen (der Gini stieg von 33,5 auf 53,6!).

Da der Gini-Koeffizient wenig anschaulich ist, benutzen viele Studien stattdessen das Quintilverhältnis, das die Relation zwischen dem Einkommen des reichsten und ärmsten Fünftels der Bevölkerung angibt. Dessen Werte liegen für Schweden bei 3,4, für Deutschland bei etwa fünf, für die USA bei 8,4 und für China bei 9,6.

All diese Werte geben die Verteilung des verfügbaren Einkommens an, also des Einkommens nach Steuern und einschließlich der Transferzahlungen (Sozialhilfe, Rente, Arbeitslosenunterstützung etc.). Die Ungleichheit der Markteinkommen ist noch deutlich stärker, die Gini-Werte liegen etwa zehn Prozentpunkte höher. Für die USA betragen sie 45,3, für Deutschland 42 und für Schweden 38,8. Die Umverteilung über Steuern und Sozialsysteme reduziert also die Ungleichheit erheblich, allerdings nicht überall. In manchen Ländern (z.B. Chile oder Korea) sind die Unterschiede minimal oder in Ausnahmefällen sogar negativ (Brasilien).

Die Vermögen sind noch erheblich ungleicher verteilt als die Einkommen. Die Gini-Werte liegen in fast allen Ländern über 60, also etwa doppelt so hoch wie beim Einkommen. Für Schweden liegt er bei 80,9, für Deutschland bei 77,5, für die USA bei 85 und in Russland bei 91,2. Die Konzentration der Vermögen ist am obersten Ende der Verteilung besonders hoch. Die obersten 10 % besitzen oft die Hälfte des gesamten Vermögens eines Landes, das oberste eine Prozent davon die Hälfte, die reichsten 0,1 % davon wiederum die Hälfte. Obwohl also von Stufe zu Stufe die Anzahl der Personen sich auf ein Zehntel reduziert, halbiert sich das Vermögen lediglich. Das Vermögen pro Person wächst also exponentiell um den Faktor fünf.

Globale Ungleichheit ist noch deutlich dramatischer

So bedrückend das Bild ist, dass diese Zahlen über die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen innerhalb von Ländern bieten, so harmlos ist es im Vergleich zur globalen Ungleichheit. Denn in der Weltgesellschaft kommt zur ungleichen Verteilung innerhalb von Ländern noch die noch viel ungleichere zwischen Ländern hinzu. Schließlich leben im globalen Süden der Welt noch eine Milliarde Menschen von weniger als einem Euro am Tag, während es in den reichen Ländern eher 50 bis 100 Euro sind. Wie es Branko Milanovic, einer der führenden Analytiker der globalen Einkommensverteilung, formuliert: Der Ort der Geburt ist für den wahrscheinlichen Platz in der globalen Einkommenspyramide noch wichtiger als die Klasse.

Kombiniert man beide Verteilungen, um die Verteilung zwischen Personen innerhalb einer Region wie Europa oder der ganzen Welt zu bestimmen, so enthüllen sich dramatische Niveaus der Ungleichheit. Die reichsten 20 % Europas verdienen fast zehnmal soviel wie das ärmste Fünftel, obwohl diese Relation im Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten nur fünf beträgt. Und für die Welt ist dieser Faktor noch fünfmal höher. Das Einkommen des global reichsten Fünftels ist 50-mal größer als das des ärmsten Fünftels. Würde dieses reichste Fünftel nur 2 % seines Einkommens an die ärmsten abgeben, so würde dies deren Einkommen verdoppeln und die globale Ungleichheit halbieren. Die gute Nachricht ist hier aber, dass die globale Ungleichheit dank des starken Wachstums in armen Ländern, vor allem in China, etwas zurückgegangen ist. Die Abnahme der Ungleichheit zwischen Ländern hat deren Zunahme innerhalb von Ländern mehr als kompensiert.

Bei der Vermögensverteilung sieht es global noch skandalöser aus als bei den Einkommen. Der globale Gini-Wert ist 91 (ähnlich wie der russische). Die reichsten 10 % der Weltbevölkerung besitzen 87,6 % des Weltvermögens, das reichste Prozent etwas über 50 %. So ergeben sich die haarsträubenden Enthüllungen von Oxfam, dass die reichsten 62 Milliardäre ebensoviel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Im Gegensatz zur globalen Einkommensverteilung hat sich die weltweite Ungleichheit der Vermögen in letzter Zeit noch verschärft.

Die wachsende Ungleichheit hat bedenkliche Folgen. Auf viele haben schon Pickett und Wilkinson (s.o.) verwiesen. Joseph Stiglitz hat 2012 in seinem Buch Der Preis der Ungleichheit auf die negativen Effekte für soziale Mobilität, Wachstum und demokratische Legitimität hingewiesen. Dass Ungleichheit zu globaler Stagnation und neuen Finanzkrisen führen könnte, beunruhigt auch den Mainstream (vgl. oben OECD und IWF).

Die Politik trägt die Hauptverantwortung

Zum Schluss seien noch zwei Fragen beleuchtet, die jede Enthüllungsgeschichte provoziert: Wer ist schuld an dem Skandal? Was kann man dagegen tun?

Die Ursachen liegen zwar auch in der Globalisierung und technologischen Veränderungen, aber letztlich trägt die Politik die Hauptverantwortung. Sie hat in den letzten 40 Jahren die Reichen systematisch entlastet. Spitzensteuersätze wurden halbiert, Unternehmenssteuern gesenkt, Vermögenssteuern abgeschafft, der Sozialstaat "verschlankt", Arbeitsmärkte "liberalisiert". Sie hat das mit der Begründung gemacht, damit Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen und den Wohlfahrtsstaat langfristig zu sichern. Manche Politiker haben das wohl auch geglaubt. Aber diese Hoffnungen resultieren aus einer Diskurshoheit liberaler Theorien, die sich mit der Krise als hohl entpuppt haben. Doch wenn etwa die amerikanische Wirtschaft jährlich drei Milliarden für Lobbying ausgibt, bleibt das auf Diskurse und Politik eben nicht ohne Wirkung.

So hat die Politik auch den Weg für Globalisierung und die digitale Transformation des Kapitalismus in einer Weise freigemacht, die die Ungleichheit verschärft hat. Die Reallöhne stagnierten, der Anteil der Löhne am Volkseinkommen, die Lohnquote, sank, die Lohnspreizung nahm zu. Spitzenmanager verdienen nicht mehr 40- sondern 400-mal so viel wir ihre Beschäftigten. Stars in Kultur und Sport bedienen globale digitale Märkte, auf denen gilt "The Winner Takes It All". Steuervermeidung ist im globalen Kapitalismus ein Dauerbrenner (Oh, wie schön ist Panama). Die Politik hat lange darauf verzichtet, diesen Entwicklungen gegenzusteuern.

Damit beantwortet sich auch die zweite Frage: Um die Ungleichheit zu bekämpfen, muss die Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen verbessert, die Rechte der Beschäftigten gestärkt, mehr in die Bildung und Gesundheit der Ärmsten investiert und die staatliche Umverteilung effektiver gestaltet werden.


Michael Dauderstädt war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der FES. Geschäftsführer des Verlages J.H.W. Dietz Nachf.
michael.dauderstaedt@fes.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2016, S. 32 - 35
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2016

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