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DISKURS/097: Wachstum und Wohlfahrt (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010
Wohlstand durch Wachstum? Wohlstand ohne Wachstum? Wohlstand statt Wachstum?

Wachstum und Wohlfahrt

Bruttoinlandsprodukt und Alternativen

Von Hans Diefenbacher


Auch in Deutschland hat die Diskussion um Alternativen zu einem traditionellen Verständnis von Wirtschaftswachstum in den letzten beiden Jahren neu begonnen, wenn auch zunächst nur zögerlich - nachdem Anfang der Neunziger Jahre eine wissenschaftliche Debatte um das Konzepts eines "Öko-Sozialprodukts" weder von der Politik noch von der amtlichen Statistik aufgenommen worden war.


Im vergangenen Jahr sind jedoch einige beachtenswerte Äußerungen deutscher Politiker zu verzeichnen: So sagte der damalige Bundespräsident Köhler in seiner "Berliner Rede" vom 24. März 2009: "Wir haben uns eingeredet, permanentes Wirtschaftswachstum sei die Antwort auf alle Fragen. (...) Wir wollen Zufriedenheit und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nicht länger nur von einem quantitativen 'Immer mehr' abhängig machen." Dennoch: Auch heute konzentrieren sich Politik und Medien viel stärker auf die Frage, ob über ein "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" der Schwarz-Gelben Regierung die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise aufgefangen werden können.

Indessen verbirgt sich hinter den Steigerungsraten des BIP in den letzten Jahren gleich eine doppelte Illusion, die in der aktuellen Debatte auch nicht annähernd reflektiert wird:

1. Die erste Illusion betrifft die Wachstumsraten, die in hoch entwickelten Volkswirtschaften tendenziell sowieso absolut sinken. Dafür sind einige grundlegende Effekte verantwortlich. Zumindest in den USA und Großbritannien war die jahrelange Steigerung des BIP an private und öffentliche Verschuldung in einem ungeahnten Ausmaß sowie an die Generierung letztlich virtueller Finanzprodukte gekoppelt, die weder zu einer nachhaltigen Entwicklung noch zu einer Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt führten. Vielmehr entstand ein scheinbarer Wohlstand, der sich nicht auf produzierendes Kapital sondern auf Schulden des öffentlichen und privaten Sektors gründete: Allein in den USA liegen die privaten Schulden bei ca. 42 Billionen Dollar.

Mit den politischen Entscheidungen, nun zusätzlich staatliche Maßnahmenprogramme in einer bislang einmaligen Höhe zur Stabilisierung der Weltwirtschaft aufzulegen, rückt das Thema der faktischen Gestaltung einer nachhaltigen oder nicht-nachhaltigen Ökonomie auf die politische Agenda: Angesichts riesiger Konjunkturprogramme von über 2,8 Billionen US-Dollar weltweit nimmt die politische Abhängigkeit von positiven wirtschaftlichen Wachstumsraten eher noch zu.

2. Die zweite Illusion beruht auf dem Verdrängen der negativen sozialen und ökologischen Folgen quantitativen Wachstums. Defensive Kosten und negative externe Effekte, die allenfalls von zukünftigen Generationen kompensiert werden, können jedoch faktisch die rein rechnerisch erzielten Wachstumsraten wieder aufzehren. Mit der Aufnahme des BIP als Wirtschaftsindikator in die bundesdeutsche Nachhaltigkeitsstrategie entzündete sich die genau in diesem Punkt lange bestehende Skepsis neu. Eine vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) und Umweltbundesamt (UBA) initiierte Studie (Diefenbacher/Zieschank (2009): Wohlfahrtsmessung in Deutschland - ein Vorschlag für einen nationalen Wohlfahrtsindex) ergibt jetzt aktuell, dass seit dem Jahr 2000 zwar das BIP tendenziell weiter steigt, eine Berechnung eines alternativen nationalen Wohlfahrtsindex unter Einbeziehung sozialer Kosten sowie ökologischer Belastungen jedoch einen kontinuierlichen Rückgang zeigt. In die Berechnung fließen unter anderen die Einkommensverteilung mit ein; soziale Variablen wie die Kosten von Kriminalität oder von alkohol- und drogeninduzierten Krankheiten werden abgezogen, gleichfalls ökologische Belastungen wie Kosten der Emission von Luftschadstoffen und von Kohlendioxid und ein Wertansatz für den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen. Diese Faktoren führen zwar zu einer Steigerung des BIP, aber offensichtlich nicht zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Auch Hausarbeit und ehrenamtlicher Arbeit werden - als positive Faktoren - im nationalen Wohlfahrtsindex berücksichtigt; die Zunahme dieser Faktoren konnte aber die Bilanz angesichts der sich verschlechternden Einkommensverteilung und der steigenden ökologischen Kosten nicht wenden.

Angesichts dieses Befundes wird erneut deutlich, dass das BIP als Maß für die Wohlfahrt eines Landes nicht taugt. Allerdings war das BIP von den Statistikern auch nie als Wohlfahrtsmaß gedacht gewesen - durch die starke Konzentration von Politik, Medien und Öffentlichkeit auf dieses Maß der über den Markt vermittelten wirtschaftlichen Wertschöpfung ist es jedoch immer stärker als ein Wohlfahrtsmaß verwendet worden. Daher ist es dringend erforderlich, dem BIP ein alternatives Maß gegenüberzustellen - und sei es auch nur, um die Diskussion darüber, was in einem industriell hoch entwickelten Land als wohlfahrtsfördernd betrachtet werden kann, neu zu beleben.

Eine politische Umsetzung des alternativen nationalen Wohlfahrtsindex steht noch aus, aber jedenfalls stellt sich die Frage nachhaltigen Wirtschaftens sozusagen "systemimmanent" in neuer Intensität. Die zusätzlich anführbaren "politisch-normativen" (externen) Argumente angesichts der Korrelation von Treibhausgasemissionen, Flächenverbrauch, Artenschwund und Umweltbelastung mit dem weltweiten Wirtschaftswachstum unterstreichen die Brisanz einer Umorientierung noch weiter.


Der Autor ist apl. Professor für Volkswirtschaftslehre am Alfred Weber Institut der Universität Heidelberg und stellv. Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.

Der Rundbrief des Forums Umwelt & Entwicklung, erscheint vierteljährlich, zu beziehen gegen eine Spende für das Forum.


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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010, S. 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2010