Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → WIRTSCHAFT

DISKURS/089: Gegensteuern in der Krise (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010

Gegensteuern in der Krise

Von Berthold Huber


Weder Finanzmarktkrise noch Wirtschaftskrise sind überwunden, noch sind die strukturellen Herausforderungen in der Automobilindustrie bewältigt. So ist die Wirtschaftsleistung 2009 um 115 Mrd. geschrumpft, und es wird wohl mehrere Jahre dauern, die Wachstumsverluste wieder auszugleichen. Berthold Huber macht Vorschläge für eine neue Wirtschaftspolitik.


Die Umweltprämie half im vergangenen Jahr vor allem Arbeitsplätze in der Autoindustrie zu sichern. Doch die Prämie wirkt 2010 nicht mehr. Wir hatten 2009 bis zu eine Mio. Menschen in Kurzarbeit, was zwar eine Beschäftigungskatastrophe verhindert hat, doch mit zum Teil empfindlichen Einkommenseinbußen der Betroffenen verbunden war. Auch in diesem Jahr wird Kurzarbeit nötig sein, um massiven Arbeitsplatzabbau zu vermeiden. Ein weiteres Problem: Die Bundesregierung vergeudet die knappen Finanzressourcen für überflüssige Steuergeschenke. Die Steuerentlastung für wenige werden viele mit höheren Abgaben, Sozialabbau und Einschränkungen bei der öffentlichen Daseinsvorsorge zu bezahlen haben. Wenn dies verhindert werden soll, müssen Politik und Wirtschaft einen neuen Entwicklungspfad einschlagen.


Regulierung der Finanzmärkte

Öffentliche Interventionen in den Finanzsektor und seine strikte Regulierung sind jetzt umso dringender, weil von den Finanzmarktakteuren selbst keine Einsicht zu erwarten ist. Die Erfahrung der vergangenen zwei Jahrzehnte ist: Jedes Mal war nach der Krise vor der Krise. Jedes Mal war der Krisenverlauf schwerer und die Summe des weltweit vernichteten Geldkapitals um ein Vielfaches höher. Wir standen noch vor wenigen Monaten am Rande des Zusammenbruchs der Weltökonomie. Die Finanzkreisläufe wurden nur aufrecht erhalten, weil die Staaten Bürgschaftsverpflichtungen eingegangen sind, die sie im Ernstfall nie hätten erfüllen können. Die Selbstregulierung der Finanzmärkte kann systembedingt nicht funktionieren, weil die Finanzakteure schon längst wieder kräftig dabei sind, neue spekulative Kartenhäuser zu errichten. Deren Zusammenbruch ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Wir können auf Dauer die massiven ökonomischen Verwerfungen zwischen Finanzmärkten und Realwirtschaft nicht durch eine Verlängerung der Kurzarbeit, innovative Produkte und Steigerung der Energieeffizienz auffangen, auch die Tarifpolitik wäre da ohne Wirkung. Deswegen ist die Frage eines alternativen Entwicklungspfades in Wirtschaft und Gesellschaft hin zu einer solidarischen und nachhaltigen Ökonomie für unsere demokratische Gesellschaftsordnung eine Schicksalsfrage.

Ist es intellektuelle Überforderung, wenn Steuersenkungen für Hoteliers für dringender gehalten werden als die Liquiditätssicherung wertschöpfender Betriebe? Oder ist es mangelnder politischer Wille? Milliardengeschenke für reiche Erben sind offenbar wichtiger als das Bemühen, die Verursacher der Bankenkrise in die Pflicht zu nehmen, so wie das US-Präsident Barack Obama beabsichtigt. Die Finanzkrise war kein Betriebsunfall, sondern eine Konsequenz des Marktradikalismus und einer Politik der Deregulierung. Ein "weiter so" darf es deshalb nicht geben.


Vorschläge der IG Metall

Um aktuell die Krisenfolgen zu bewältigen und Beschäftigung zu sichern, hat die IG Metall folgende Vorschläge:

1. Kurzarbeit brauchen wir noch auf längere Zeit, denn derzeit sind in der Metall- und Elektroindustrie 20 bis 30% der Kapazitäten unausgelastet. Das gefährdet bis 2012 über 700.000 Arbeitsplätze. Weitere Arbeitszeitverkürzungen bei Teillohnausgleich durch die Bundesagentur für Arbeit könnten eine befristete Anschlusslösung sein. Zudem muss Kurzarbeit stärker mit Qualifizierung verbunden werden. Viele Unternehmen sind nicht nur von einer konjunkturellen Krise betroffen, sondern sie stehen vor einem Strukturwandel, der nur mit einer qualifizierten Belegschaft, neuen Produkten und intelligenteren Produktionsprozessen bewältigt werden kann.

2. Die Krise trifft junge Beschäftigte und diejenigen, die unmittelbar vor dem Einstieg in das Arbeitsleben stehen, besonders hart. Wir dürfen diese Generation nicht ins Abseits stellen. Wir schlagen deshalb zwei unmittelbar wirksame Maßnahmen vor: Betriebliche und tarifliche Übernahmeregelungen für Auszubildende wollen wir mit Instrumenten der Kurzarbeit und Qualifizierung verbinden. Und zweitens brauchen wir weiterhin die Altersteilzeit als Beschäftigungsbrücke zwischen Jungen und Älteren.

3. Die SPD hatte sich schon in der Wahlauseinandersetzung auf das Ziel orientiert, in Bildung zu investieren. Das war richtig, auch wenn das bislang noch nicht die nötige Resonanz gefunden hat. Nach wie vor bleiben 70.000 Jugendliche jährlich ohne Schulabschluss. Bundes- und Landesregierungen sind in der Verantwortung, diesen Bildungsnotstand zu beseitigen und die aufgelaufenen Modernisierungsrückstände im Schul- und Hochschulsystem abzutragen.

4. Die Kreditklemme vieler Betriebe ist keine Medienerfindung, sondern ein reales Problem. Da wirkt es naiv, beim Kanzleramt oder beim Wirtschaftsministerium einen Kreditmediator anzusiedeln, der das alles besser richten soll. Wir brauchen vielmehr einen umfassenden Rettungsschirm für die Betriebe, damit nicht ganze industrielle Wertschöpfungsketten brechen. Dieser Rettungsschirm hat drei zentrale Elemente. Erstens: Die Vergabepraxis des bereits bestehenden "Wirtschaftsfonds Deutschland" muss vereinfacht werden. Zweitens brauchen wir einen Public-Equity-Fonds, denn die Eigenkapitaldecke vieler mittelständischer Unternehmen ist extrem dünn. Viele Firmen brauchen neues Kapital. "Public Equity" ist "geduldiges Kapital" aus öffentlicher Hand, das keine unrealistischen Renditeforderungen erhebt. Wir können uns hier keine Dogmen und ideologischen Tabus mehr leisten. Die öffentliche Hand sollte bereit sein, sich zeitlich befristet an Unternehmen zu beteiligen, nicht direkt, sondern über einen Beteiligungsfonds. Zum dritten könnten auch Mitarbeiterkapitalbeteiligungen als Sanierungsbeitrag der Beschäftigten sinnvoll sein. Das ist zwar keine Lösungsperspektive für alle, aber ein spezielles Kriseninstrument für Einzelfälle.

5. Die weitere Prekarisierung der Arbeitswelt muss gestoppt und der Trend gewendet werden. Viele Millionen Menschen, vor allem jüngere, sind betroffen. Befristete Arbeitsverhältnisse, untertarifliche Bezahlung und Lohndumping gefährden die Existenz von Menschen, zerstören Zukunftsplanungen und höhlen den Sozialstaat aus. Die Deregulierung der Arbeitsmärkte - unter Rot-Grün wie auch unter Schwarz-Rot - war ein schwerer Fehler. Sie hat Verarmung und Unsicherheit gefördert, sie gefährdet auf Dauer den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unser demokratisches Gemeinwesen. Hier ist eine politische Korrektur unverzichtbar. Dabei geht es nicht um pro oder contra Agenda 2010, sondern um Maßnahmen, die wirklich helfen. Das betrifft genauso die Verlängerung von ALG I wie ein armutsfestes ALG II. Dieses Thema darf man nicht den Populisten überlassen.


Ein neuer Entwicklungspfad für Politik und Wirtschaft

Die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, auf die Menschen hören, ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen und ihre Interessen vertreten - das ist der Weg, auf dem die Politik dazu beitragen kann, Krisenlasten zu bewältigen, neue Krisen zu verhindern und eine treibende Kraft für Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt in unserem Land zu werden. Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hat gezeigt: Renditewahn und kurzfristige Gewinnvorgaben von Investoren und Spekulanten sind als Steuerungsinstrument von Volkswirtschaften und Unternehmen untauglich. Wir brauchen deshalb auch im Unternehmensrecht Änderungen, die eine einseitige Orientierung auf den Shareholder Value verhindern. Nötig ist eine Änderung des Aktienrechts, um Vorstände auch auf das Wohl der Beschäftigten und der Allgemeinheit zu verpflichten. Roland Pofalla hat dazu voreilig angemerkt, so etwas würde die Wirtschaftsordnung "aus den Angeln heben". Doch wir setzen damit die Marktwirtschaft wieder "auf die Angeln". So hatten es die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes vorgesehen, als sie der Sozialpflichtigkeit des Eigentums Verfassungsrang gaben. Auch deshalb ist es nötig, wieder für mehr Unternehmensmitbestimmung zu streiten. Mitbestimmung soll für alle Unternehmen unabhängig von ihrer jeweiligen Rechtsform ab 1.000 Beschäftigten gelten (ab 200 bis 1.000 Beschäftigte gilt die Drittelparität). Ins Aktienrecht muss ein Katalog von zustimmungspflichtigen Geschäften aufgenommen werden. Wichtige Entscheidungen - z.B. Betriebsschließungen, Standortverlagerungen und Massenentlassungen - sollten dabei künftig von einer Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat abhängig sein. Zudem ist erweiterte betriebliche Mitbestimmung unverzichtbar, wenn es um Beschäftigungssicherung und Betriebsänderungen geht. Schließlich geht es um andere Entscheidungsrationalitäten in Unternehmensvorständen. Das muss sich auch bei der Ausgestaltung von Vorstandsvergütungen niederschlagen.

Zur Überwindung der Wirtschaftskrise gehört, unverzichtbar, eine Stärkung der Binnennachfrage - gerade weil wir in den Exportindustrien massive Einbrüche zu verkraften haben. Eine Stärkung der Binnennachfrage betrifft die staatliche und private Nachfrage genauso wie die Unternehmensinvestitionen. Zur Sicherung der Kaufkraft ist zweierlei unverzichtbar: Erhalt von Arbeitsplätzen - ohne die hätten die Beschäftigten überhaupt kein Arbeitseinkommen - und Sicherung der Realeinkommen. Der drohende Arbeitsplatzabbau in der Metall- und Elektroindustrie stellt gesamtwirtschaftlich eine Riesengefahr für die Kaufkraft dar. Dieser Schaden ließe sich durch Tarifpolitik gar nicht korrigieren. Deshalb ist Beschäftigungssicherung - auch makroökonomisch betrachtet - der entscheidende Weg und ergänzt alle Bemühungen um Sicherung von Binnenkaufkraft durch Einkommensverbesserungen. Beides ist ein Gebot der Stunde für das Gegensteuern in der Krise. Der Staat muss seine Rolle als Investor, Rahmensetzer und Garant sozialer Demokratie gegen die ökonomischen Nutzenkalküle kapitalistischer Wirtschaft behaupten. Und die Wirtschaft muss ihre Verpflichtung auf das Gemeinwohl durch höhere Verantwortung für Beschäftigung, Ausbildung und Innovation erfüllen.


Berthold Huber (* 1950) ist seit 2007 Erster Vorsitzender der IG Metall.
(Berthold.Huber@igmetall.de)


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010, S. 49-52
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2010