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WOHNEN/090: Ungleichheit und Wohnen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009

Ungleichheit und Wohnen

Von Hartmut Häußermann


Wie und wo jemand wohnt, sagt etwas über seine Position in der Gesellschaft aus - ein- oder ausgeschlossen. Mit welchen Strategien kann der Ausgrenzung begegnet werden?


Die Größe der Wohnung, das Ausstattungsniveau und ihre mehr oder weniger attraktive Lage hängen ab von den materiellen und sozialen Ressourcen, über die ein Haushalt verfügt. Die Wohnung und die Wohnumgebung haben aber auch einen Einfluss auf die Lebenschancen dadurch, dass von ihnen der Zugang zu privaten und öffentlichen Dienstleistungen abhängig ist. Auch das negative Image eines Quartiers kann soziale Ungleichheit verstärken, indem die Bewohner stigmatisiert und in verschiedenen Zusammenhängen diskriminiert werden. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es eine extreme räumliche Konzentration (Segregation) von Haushalten gibt, die mit vielen sozialen Problemen behaftet sind. In den großen Städten überlagert sich in den "Migranten-Vierteln" diese soziale mit einer ethnisch-kulturellen Segregation. Bewohner von Armutsvierteln werden durch den Ort, wo sie wohnen, zusätzlich zu ihren sozialen Problemen benachteiligt. Der Wohnort kann also ausgrenzend wirken.
Die "Wohnungsfrage" war im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Teil der "sozialen Frage". Das Proletariat lebte in Quartieren, die durch schlechte Bausubstanz, Umweltbelastungen und eine hohe Bevölkerungsdichte gekennzeichnet waren. Diese Wohnungsnot wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts weitgehend beseitigt - durch die Erhöhung der Realeinkommen und durch die Förderung von Wohnungsbau durch den Staat. Damit wurden bezahlbare Wohnungen von hoher Qualität auch für die Haushalte mit relativ niedrigen Einkommen geschaffen. Nach wie vor gibt es große Unterschiede in der Wohnungsversorgung zwischen den sozialen Schichten. Die Wohnungen sind je nach Einkommen unterschiedlich groß, unterschiedlich stark belegt und unterschiedlich gut ausgestattet. Insbesondere zwischen Mietern und Eigentümern gibt es deutliche Ungleichheiten, aber auch die Migranten leben im Durchschnitt unter erheblich schlechteren Wohnbedingungen als die einheimischen Haushalte.


Wieder zunehmende soziale Entmischung

Zwar nimmt der Anteil vom Einkommen, der für Wohnkosten ausgegeben werden muss, laufend zu - und dies trifft die unteren Einkommensgruppen stärker als die oberen - dennoch ist das Hauptproblem bei der Wohnungsversorgung nicht mehr die quantitative Versorgung, sondern die zunehmende soziale Entmischung von Quartieren. Während Stadtentwicklung und Wohnungspolitik seit den 20er Jahren und insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch die öffentliche Förderung des Baus von Miet- und Eigentumswohnungen zur Beseitigung von Obdachlosigkeit, zum Abbau von sozialer Segregation und damit zur Integration des Proletariats beigetragen haben, zeigen sich seit etwa zwei Jahrzehnten wieder stärkere Tendenzen zur Herausbildung von Unterschieden in der Wohnungsversorgung, die zur Marginalisierung eines erheblichen Teils der Stadtbevölkerung beitragen können.

Ursachen dafür sind wachsende materielle und ethnisch-kulturelle Unterschiede in den Städten, die sich nach dem Ende der Vollbeschäftigung und mit dem Abbau der staatlichen Intervention in die Wohnungsversorgung auch in einer stärkeren sozial räumlichen Segregation niederschlagen. Die sozialen Unterschiede zwischen verschiedenen Quartieren waren zwar nie ganz beseitigt worden, aber der soziale Wohnungsbau hatte doch akzeptable Möglichkeiten für ein großes Spektrum von Lohnabhängigen in verschiedenen Teilen der Stadt geschaffen. In dem Maße aber, wie im Zuge der Deindustrialisierung viele Industriearbeiter arbeitslos wurden, wurden aus Arbeitervierteln Arbeitslosenviertel. Da vom Abbau der Industrie-Arbeitsplätze in den Städten die Migranten besonders stark betroffen sind, haben sich in den Quartieren mit hohen Migrantenanteilen auch die sozialen Probleme verstärkt.

In Vierteln, in denen die Arbeitslosigkeit hoch ist und die Kaufkraft sinkt, verändert sich das Waren- und Dienstleistungsangebot, und auf den Straßen und öffentlichen Plätzen verstärken sich die Konflikte - insbesondere dann, wenn auch noch kulturelle Konflikte zwischen verschiedenen Lebensstilen, wie etwa zwischen Familien und Alleinlebenden, zwischen Alten und Jungen, zwischen Einheimischen und Migranten dazu kommen. Wenn Einwohner, die über ausreichende Ressourcen verfügen, das Gefühl bekommen, mit ihrem Wohngebiet gehe es "abwärts", suchen sie sich eine Wohnung in einer anderen Gegend, wodurch die Konzentration von sozialen Problemen noch verstärkt wird.

Die Möglichkeiten zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben werden in der Armut und insbesondere in den Vierteln, die durch einen hohen Anteil von Armutsbevölkerung geprägt sind, dadurch eingeschränkt, dass die sozialen Beziehungen immer mehr auf solche Personen beschränkt bleiben, die selbst mit großen sozialen Problemen zu kämpfen haben. Resignation, Apathie und politisches Desinteresse breiten sich aus.


"Normale" Lernprozesse kaum noch möglich

Insbesondere für Kinder und Jugendliche sind solche Wohnquartiere eine sehr ungünstige Umgebung für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und für eine aussichtsreiche Karriere im Bildungssystem. Das Quartier ist immer auch ein Sozialisationsraum, und umso homogener die Bezugsgruppen sind, desto weniger anregend ist die soziale Umgebung. Da häufig auch eine Unterstützung seitens der Familie für erfolgreiche Lernprozesse nicht möglich ist, entsteht ein Milieu, das entmutigend und benachteiligend wirkt. Insbesondere in den Schulen ergeben sich Situationen, in denen "normale" Lernprozesse kaum noch möglich sind.

Die Schulsegregation ist in der Regel sehr viel höher als die Wohnsegregation. Die Schulen haben Familien-Ersatzfunktionen zu übernehmen, und angesichts großer Disziplin-Probleme sinkt das Leistungsniveau aller Schüler, sodass die Quote der Schul-Abbrecher und derjenigen, die überhaupt keinen Schulabschluss erreichen, sehr hoch ist. Insbesondere in Schulen, in denen viele Schüler nicht über die notwendigen sprachlichen Voraussetzungen verfügen, um dem Unterricht zu folgen, werden nicht die Voraussetzungen zum Besuch weiterführender Schulen vermittelt. Eltern aus Familien mit höheren Aspirationen im Bildungssystem nehmen ihre Kinder aus solchen Schulen, und zurückbleiben die "Versagen", deren Bildungs- und Lebenschancen dadurch erheblich beeinträchtigt werden.


Integrierte Politik als Voraussetzung

Ließe man diese Entwicklung einfach laufen, entstünde in diesen Quartieren eine neue städtische Unterklasse. Dies ist weder unter Gesichtspunkten der sozialen Gerechtigkeit noch unter Gesichtspunkten der Entwicklung des Humankapitals für den zukünftigen Arbeitsmarkt, auf dem die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften noch höher als heute sein wird, akzeptabel. In vielen europäischen Ländern, in denen ähnliche Entwicklungen zu beobachten sind, sind seit Mitte der 90er Jahre Programme eingeführt worden, die diese Marginalisierung- und Ausgrenzungsprozesse bekämpfen sollen.

Während in Ländern wie Frankreich und den Niederlanden durch massive Investitionen in den Wohnungsbau die Segregation direkt bekämpft wird, versucht das Programm "Soziale Stadt" in Deutschland, die Quartiere vor dem Abrutschen zu bewahren und den Bewohnern neue Chancen bei der beruflichen Qualifikation und bei der Gestaltung ihrer Quartiere zu eröffnen. Durch Quartiersmanagement sollen die Bewohner neue Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten erhalten, die neue Initiativen und ein neues soziales Engagement bewirken sollen. Darüber hinaus wird in die Infrastruktur und in die öffentlichen Räume investiert, sodass das Gefühl, abgehängt zu sein, bekämpft wird.

Das sind wichtige und richtige Ansätze, aber die Ursachen der Marginalisierung, die hohe Arbeitslosigkeit und die wachsende Armut, können auf Quartiersebene natürlich nicht wirksam bekämpft werden. Der Erfolg im Kampf gegen die Ausgrenzung ist also nicht nur abhängig von lokalem Engagement, sondern auch von einer gesamtgesellschaftlichen Politik, die sich für soziale Inklusion auch dann stark macht, wenn den Bewohnern der Weg über die Integration durch Erwerbsarbeit versperrt ist.

Eine Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus wäre Voraussetzung dafür, dass bezahlbare Wohnungen auch für Haushalte mit geringen Einkommen in allen Teilen der Stadt zugänglich sind. Eine integrierte Politik, bei der sich Sozial-,Familien-, Jugend-, Wohnungs-, Bildungs- und Arbeitspolitik gegenseitig ergänzen und verstärken, wäre Voraussetzung dafür, dass die soziale Ungleichheit, die durch sozialräumliche Ausgrenzung verstärkt wird, abgebaut wird. Ansätze dazu gibt es im Programm "Soziale Stadt", aber ein Durchbruch ist dabei leider noch nicht in Sicht. Der soziale Frieden der Städte ist aber auf eine erfolgreiche Integrationspolitik angewiesen.


Hartmut Häußermann (* 1943) ist Professor (em.) für Stadt- und Regionalsoziologie an der Universität Kassel (1976-78), der Universität Bremen (1978-93) und 1993-2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2007 erschien: Stadtpolitik (zus. mit D. Läpple und W. Siebel)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009, S. 42-45
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2009