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REDE/039: Dr. Ursula von der Leyen zum Haushaltsgesetz 2010, 21.01.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand - 19.01.10

Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen, zum Haushaltsgesetz 2010 vor dem Deutschen Bundestag am 21. Januar 2010 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man internationale Berichte über die Arbeitsmärkte in der globalen Krise liest, ist vor allem ein Tenor einheitlich und durchgehend, nämlich die Verblüffung darüber, dass der deutsche Arbeitsmarkt so robust ist. Die Arbeitslosigkeit ist trotz des drastischen Einbruchs der Wirtschaftsleistung nicht wie befürchtet gestiegen. Das ist die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht ist: Wir sind noch lange nicht über den Berg. Wir werden die Krise am Arbeitsmarkt noch lange spüren. Die Arbeitslosigkeit wird steigen. Aber die Prognosen sind nicht mehr ganz so düster, wie sie es vor einigen Monaten gewesen sind, das heißt, wir werden voraussichtlich bei der Arbeitslosenzahl unter vier Millionen bleiben.

Hinter dieser Entwicklung steht nicht nur die beginnende Erholung der Wirtschaft. Nein, hinter dieser Entwicklung steht ein neuer, ein breiter Konsens in Deutschland: Oberste Priorität hat der Erhalt von Fachwissen und damit der Erhalt von Arbeitsplätzen. Diesen neuen Konsens am Arbeitsmarkt wollen wir als Regierung mit aller Kraft unterstützen.

Das spiegelt der Haushalt ganz klar wider. Mit 146,8 Milliarden Euro müssen wir rund 19 Milliarden Euro mehr einsetzen als im Jahr davor. Der Löwenanteil dieser Steigerung geht in die Arbeitsmarktförderung.

Das setzt sich aus zwei Komponenten zusammen:

Erstens. Mehr Arbeitslose heißt natürlich mehr Ausgaben für die Bundesagentur für Arbeit und weniger Einnahmen. Wir wollen nicht, dass die Bundesagentur für Arbeit mitten in der Krise in eine Schuldenspirale gerät. Wir wollen nicht, dass mitten in der Krise damit der Druck auf den Arbeitslosenbeitrag steigt und damit der Druck auf die Lohnnebenkosten. Das wäre Gift in der Krise. Deshalb planen wir, der BA jetzt, in der Krise, einen Zuschuss von 16 Milliarden Euro zu geben und nicht das übliche Darlehen.

Die zweite Komponente ist das Kurzarbeitergeld. Das kostet Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen, Arbeitgeber, aber auch die Politik viel Geld. Aber natürlich ist es allemal besser, in den Erhalt von Arbeitsplätzen, in Fachwissen, in Familieneinkommen zu investieren, als Kündigung, Arbeitslosigkeit und Kompetenzschwund teuer zu bezahlen.

Dieses konjunkturelle Kurzarbeitergeld ist in der Krise entwickelt worden. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich meinen beiden Vorgängern, Olaf Scholz und Franz Josef Jung, die dieses konjunkturelle Kurzarbeitergeld immer mit Augenmaß und genau abgestimmt auf die Entwicklung der Krise weiterentwickelt haben, gewissermaßen am Puls der Zeit. Wir wollen diesen Weg in der akuten Krise in enger Abstimmung mit den Arbeitnehmervertretungen und den Arbeitgebern weitergehen.

Abgesehen von der akuten Krise ändert sich die Struktur des Arbeitsmarktes langfristig natürlich unaufhaltsam. Die Industriearbeitsplätze werden immer anspruchsvoller. Dienstleistungsberufe nehmen an Bedeutung zu, wachsen in ihrer Zahl, in ihrer Vielfalt. Mehr Frauen arbeiten; das ist gut so. Wir haben mehr Ältere am Arbeitsmarkt; auch das ist gut so. Dieser Wandel findet statt. Wenn wir ihn ignorieren, weil er uns vielleicht nicht passt, dann werden wir von dieser Entwicklung einfach überrollt werden. Deshalb ist es so wichtig, proaktiv zu reagieren und frühzeitig zu erkennen, was es in Zukunft bedarf, wenn wir diesem Strukturwandel am Arbeitsmarkt aktiv begegnen wollen. Das heißt, wir müssen die Menschen viel stärker und viel gezielter für Zukunftsberufe ausbilden. Wir müssen uns vollständig neu aufstellen beim Thema Bildung für Ältere. Wir brauchen mehr flexible Kinderbetreuung und mehr Ganztagsschulen, nicht nur, weil das eine Frage von Bildungschancen ist, sondern auch, weil das die Conditio sine qua non, die Grundvoraussetzung für Eltern ist, dass sie überhaupt Arbeit annehmen können.

Am Arbeitsmarkt hat unser Land das notwendige Maß an Flexibilität gewonnen. Wir haben viele Diskussionen darüber geführt, was Flexibilität am Arbeitsmarkt bedeutet. Das wird immer ganz unterschiedlich interpretiert, etwa: Ist das positiv oder negativ? Ich finde es ganz wichtig, dass wir jetzt sehen, dass Flexibilität nicht gleichbedeutend sein muss mit dem Drohszenario "hire and fire": Weil es Flexibilität gibt, mal eben schnell entlassen, weil ja schnell wieder eingestellt werden kann. Nein, wir sehen: In der Krise findet genau das Gegenteil statt. Weil auf der betrieblichen Ebene viel mehr Absprachen im Konsens möglich sind, zeichnet sich Deutschland inzwischen auch im internationalen Vergleich durch eine sehr hohe betriebsinterne Flexibilität aus. Da sind zu nennen: das Kurzarbeitergeld, der Abbau von Überstunden, Arbeitszeitkonten.

Ich sage aber auch ganz deutlich: Dieses Mehr an Flexibilität muss immer in einer Balance mit dem notwendigen Schutz der Beschäftigten stehen. Soziale Marktwirtschaft heißt, der Wirtschaft Freiheit zu geben, aber immer im richtigen Rahmen. Das bedeutet im Alltag: Wir brauchen keine starren Pauschalvorschriften beim Mindestlohn, sondern wir brauchen das Vertrauen - das muss auch entwickelt werden - auf das, was Gewerkschaften und Arbeitgeber miteinander vereinbaren. Sie sind die Experten in der eigenen Sache, sie wissen genau, wo die Untergrenze des Marktlohns liegt, damit Arbeitsplätze nicht zerstört werden, damit es andererseits auch Schutz in der jeweiligen Branche gibt. Ich sage deutlich: Wenn es einstimmige Vereinbarungen gibt, dann hilft die Politik, diese Vereinbarungen auf den Rest der betreffenden Branche zu übertragen, um die Beschäftigten zu schützen, aber auch die Unternehmen vor Konkurrenten, die zu Hungerlöhnen Arbeit anbieten, zu schützen. Deshalb haben wir bei der Abfallwirtschaft bewusst diesen Weg gewählt und den Mindestlohn jetzt wieder verankert. Ich glaube, das war die richtige, das war eine gute Entscheidung.

Bei der Zeitarbeit ist es weiterhin richtig und wichtig, zu sagen: Sie hat ihren Platz, damit Unternehmen schnell auf Auftragsspitzen reagieren können. Aber das darf nicht heißen, dass die Zeitarbeit zur dauernden Billigkonkurrenz für die eigene Belegschaft wird. Ich sage Ihnen: Wenn die Zeitarbeit, die ich - wenn es den richtigen Schutzrahmen gibt - für grundsätzlich richtig halte, von einzelnen Unternehmen zum Schaden der Beschäftigten missbraucht wird, dann müssen und werden wir die Gesetze ändern. Denn das ist nicht im Sinne des Gesetzgebers gewesen.

Auch bei der Arbeitsvermittlung hat sich viel Gutes getan. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit leisten gute Arbeit. Ich glaube, man muss sagen - wir alle haben unsere Vorurteile über die Bundesagentur für Arbeit -: Diese schwerfällige Behörde ist ein moderner Dienstleister geworden. Es ist, glaube ich, an der Zeit, manches Vorurteil abzubauen. Ich will Ihnen eine Zahl nennen, die mir ins Auge gefallen ist. Wenn man die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit im Boomjahr 2006 mit der im Krisenjahr 2009 vergleicht, dann sieht man, dass Arbeitssuchende im Krisenjahr 2009 im Durchschnitt 36 Tage weniger arbeitslos gewesen sind als in der guten Zeit 2006. Das heißt, trotz Krise werden die Arbeitssuchenden deutlich schneller vermittelt als früher. Ich denke, diese Arbeit der Bundesagentur sollte man auch anerkennen.

Wir können noch besser werden. Der alte Grundsatz, dass man nicht unbedingt mehr Geld, sondern mehr Effizienz braucht, gilt natürlich auch bei der aktuellen Diskussion über die Vermittlung der Langzeitarbeitslosen. Ich sage ganz klar: Unsere Aufgabe ist es, gerade denen, die schon lange arbeitslos sind, bestmöglich zu helfen und sie nicht über einen Kamm zu scheren. Ja, ich weiß, es gibt in Einzelfällen Menschen - dies beobachtet man überall -, die staatliche Hilfen auf Kosten anderer ausnutzen. Aber schon jetzt können die Jobcenter in solchen Fällen die Leistungen kürzen, im Extremfall auf null, und sie tun das auch. Der Normalfall sieht doch ganz anders aus: Die große Mehrheit der Langzeitarbeitslosen will raus aus Hartz IV. Sie können es aber nicht, weil ihnen die Kinderbetreuung fehlt, weil ihnen der Schulabschluss fehlt, weil ihnen die Berufsausbildung fehlt. Da müssen wir genau hinschauen und besser werden. Das muss unser erklärtes Ziel sein.

Wir haben in den vergangenen fünf Jahren bei dieser kontroversen Diskussion viel gelernt. Ich möchte deutlich sagen: In diesen Jahren hat sich bei den Jobcentern ein Erfahrungsschatz herausgebildet, der unverzichtbar ist. Deshalb will ich zur Reform der Jobcenter jetzt nur so viel sagen: Nicht wir haben vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Wir halten die Arbeit vor Ort, so wie sie strukturiert ist, für richtig und gut. Das sollte man noch einmal gemeinsam hier in diesem Saal festhalten.

Jetzt zwingt uns das Urteil zum Handeln. Klar, aus der Sicht der meisten Arbeitsmarktpolitikerinnen und -politiker wäre eine Grundgesetzänderung richtig, um das zu erhalten, was man will. Aber aus der Sicht der meisten Rechtspolitikerinnen und -politiker wäre sie aus rechtspolitischen Gründen nicht richtig.

Ich will Ihnen deutlich sagen: Wir müssten dazu nicht nur eine Mehrheit finden - es wird ja immer gesagt, es gebe sie bereits -, sondern diese Mehrheit müsste sich auch auf ein und denselben Text einigen. Da liegt der Hase im Pfeffer. Das ist zwei Jahre lang erfolglos versucht worden. Es hat sich nichts bewegt. Deshalb ist jetzt Pragmatismus gefragt.

Ich kann Ihnen zur allgemeinen Beruhigung sagen: Für die Betroffenen wird sich nicht viel ändern; das ist das Entscheidende - wir führen eine sehr statische Diskussion: Die Arbeitslosen werden in den allermeisten Fällen in dasselbe Gebäude gehen wie jetzt. Sie werden zu ein und demselben Arbeitsvermittler gehen wie jetzt. Sie werden über den Flur in das nächste Zimmer zu ein und derselben Schuldnerberaterin gehen wie jetzt. Wenn in den Kommunen die Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit offensichtlich - bisher allerdings unter gesetzlichem Zwang - so ausgezeichnet geklappt hat, dass sie jetzt alle erhalten wollen, warum soll sie nicht auch weiterhin freiwillig mit kooperativen Verträgen funktionieren? Um dies zu gewährleisten, werde ich Anfang kommender Woche Vorschläge für die neue Jobcenterorganisation vorlegen.

Mir liegen vor allem noch zwei Themen am Herzen; deshalb muss ich sie ansprechen.

Wir haben uns vorgenommen, die Situation für Menschen mit Behinderung zu verbessern. Unsere Vorgabe ist die UN-Behindertenrechtskonvention. Wir wollen sie umsetzen und entwickeln, und zwar gemeinsam mit den Beteiligten, die es angeht. Mir ist wichtig, auch einen Bewusstseinswandel herbeizuführen, unsere Perspektive zu verändern und weiterzuentwickeln: weg von der Fürsorge, hin zu einer Sichtweise, nach der die selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe der Menschen mit Behinderung eine Voraussetzung ist. Das heißt, wir wollen die Inklusion gemeinsam mit den Menschen mit Behinderung zur erfahrbaren Wirklichkeit machen, und zwar in allen Lebensbereichen.

20 Millionen Rentnerinnen und Rentner in unserem Land, die sich ein ganzes Leben lang angestrengt haben und an ihrer Einkommenssituation jetzt nichts mehr ändern können, erwarten zu Recht eine verlässliche Rente. Das Fundament dafür ist gelegt. Die gesetzliche Rentenversicherung ist stabil und generationengerecht. Ich glaube, man sollte zur Kenntnis nehmen, dass sie gerade jetzt, in der Krise, stabiler ist als erwartet und sich auch im internationalen Vergleich sehr viel besser hält als die Systeme anderer Länder. Wenn man berücksichtigt, dass die Löhne und Gehälter in Deutschland zum ersten Mal seit 50 Jahren gesunken sind, kann man erahnen, welch hohen Wert die Rentengarantie hat, indem sie gewährleistet, dass die Renten nicht sinken, obwohl die wirtschaftliche Entwicklung so negativ war.

Zum Schluss sage ich: Ja, es liegen schwierige Aufgaben und schwierige Monate vor uns. Wir sind uns hier im Hohen Haus einig, dass Deutschland stärker aus dieser Krise hervorgehen muss. Mir ist wichtig, dass die Menschen am Ende dieser Krise sagen: Es war eine schwierige Zeit, aber wir haben das gemeinsam geschafft.


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Quelle:
Bulletin Nr. 07-1 vom 21.01.2010
Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen,
zum Haushaltsgesetz 2010 vor dem Deutschen Bundestag am 21. Januar 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2010