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KIND/123: Ungeliebt und ausgegrenzt, das schwere Los von Waisen in Kaschmir (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. November 2015

Indien: Ungeliebt und ausgegrenzt - Das schwere Los von Waisen in Kaschmir

von Umar Shah


Bild: © Umer Asif/IPS

Kinder beim Sonntagsessen in einem der größten Waisenhäuser Kaschmirs
Bild: © Umer Asif/IPS

SRINAGAR (IPS) - In einem überfüllten Klassenzimmer bemüht sich der 13-jährige Sahil Majeed, einen Text seines Lehrers von der Tafel abzuschreiben. Als er sieben Jahre alt war, wurde sein Vater von Soldaten in der indischen Bürgerkriegsregion Kaschmir entführt. Da seine Mutter nicht genug Geld hatte, um für Sahil und die beiden jüngeren Schwestern zu sorgen, kam der Junge in ein Waisenhaus in der Stadt Srinagar.

Die Stimme des Teenagers zittert, als er erzählt, unter welchen Umständen sein Vater verschwand. "Ich schlief, als Armeesoldaten in unser Haus eindrangen. Sie nahmen ihn mit, und wir haben nie wieder etwas von ihm gehört." Seine Mutter suchte überall nach ihrem Mann, konnte ihn jedoch nicht finden. "Ich vermisse meine Schwestern", gesteht Sahil. "Seit drei Monaten habe ich sie nicht mehr gesehen. Am liebsten würde ich von hier weglaufen."

Die Leitung des Waisenhauses berichtet, dass der Junge manchmal aggressiv reagiert und laut zu schreien beginnt. Bei einer Routineuntersuchung stellten Ärzte im vergangenen Jahr bei Sahil eine beginnende Depression fest.

Der zwölfjährige Haseeb erfuhr vor vier Jahren, dass sein Vater, der auf Seiten der Rebellen kämpfte, getötet worden war. Der Junge aus dem Gebiet Baramulla im Norden Kaschmirs kam wie Sahil in ein Waisenhaus, weil seine Mutter das Schulgeld nicht zahlen konnte. Wenn er seine Familie zu Hause besuchen darf, will er anschließend nicht mehr zurück. "Nach jedem Besuch weint er. Wenn wir versuchen, ihn zu trösten, wird er wütend und fängt an, seine Bücher zu zerreißen", sagt Asif, der im selben Heim wie Haseeb untergebracht ist.


Bürgerkrieg seit mehr als 25 Jahren im Gang

Der 1989 ausgebrochene Bürgerkrieg hat verheerende Auswirkungen auf den Alltag der Bevölkerung in Kaschmir. Die Rebellen fordern einen von Indien unabhängigen Staat oder eine Eingliederung des indischen Teils Kaschmirs in Pakistan. Nach 1989 stockte Indien seine Militärpräsenz in Kaschmir rapide auf, um die Unruhen zu beenden. Seither kommt es zu verlustreichen Kämpfen, bei denen nach unterschiedlichen Schätzungen bisher zwischen 40.000 und 100.000 Menschen getötet worden sind.

Laut einer 2014 veröffentlichten Studie der Hilfsorganisation 'Save the Children' leben im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir etwa 215.000 Kinder, deren Eltern im Krieg umkamen oder eines natürlichen Todes starben. Ungefähr 15 Prozent von ihnen leben in Waisenhäusern. Dem Bericht zufolge haben 37 Prozent von ihnen einen Elternteil oder sogar Vater und Mutter durch den Konflikt verloren.

Eine kürzlich vom 'International Journal of Education and Psychological Research' durchgeführte Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass mehr als 26 Prozent der Waisen hochgradig depressiv sind, während bei 46 Prozent die depressiven Symptome ein mittleres Niveau erreicht haben. "Krieg, Angst, Tod und Zerstörung belasten die seelische Gesundheit von Waisen in Kaschmir erheblich", heißt es in der Studie.

Aus einer Untersuchung einer Behörde in Jammu und Kaschmir geht hervor, dass 57,3 Prozent der Waisen Angstzustände haben, 53,3 Prozent depressiv sind und mehr als 54 Prozent an Schlafstörungen leiden.

Der renommierte Soziologe Bashir Ahmad Dabla, der 300 Waisen beobachtete, stellte in seinem Bericht fest, dass 48 Prozent von ihnen nach dem Tod des Vaters in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen lebten. Über 13 Prozent von ihnen erklärten, nicht genug Liebe und Zuneigung zu erhalten. 86 von 300 befragten Waisen erhielten immerhin finanzielle Unterstützung von Verwandten, 67 von der Regierung, 36 von Hilfsorganisationen und 24 von Nachbarn und sonstigen Wohltätern. Alle übrigen Waisen sind auf sich allein gestellt.

Wie in einem Gefängnis fühlt sich der 15-jährige Jameel Ahmad im Heim. Sein Vater, der Schäfer war, starb vor fünf Jahre bei der Explosion einer Landmine in seinem Dorf nahe der Grenze. "Ich vermisse meinen Vater und träume immer von ihm", erzählt er. "Ich möchte aus dem Waisenhaus weglaufen und wieder zu Hause wohnen." Auch Jameel wurde von seiner Familie getrennt, weil seine Mutter nicht aus eigener Kraft finanziell für ihn sorgen konnte.


Psychiater kritisieren Zustände in Waisenhäusern

Waisenhäuser könnten die seelischen Bedürfnisse von Kindern nicht erfüllen, sagt Arshid Hussain, in Kaschmir die größte Autorität auf dem Gebiet der Psychiatrie. "In Familien würde es ihnen wesentlich besser gehen. Es gibt allerdings viele Kinder, die nicht einmal bei ihren Verwandten unterkommen können. Deshalb wäre es nicht gut, die Waisenhäuser zu schließen. Dennoch sollten wir über alternative Lösungen nachdenken."

Der Psychiater Mushtaq Margoob führte kürzlich eine Untersuchung über die Waisenhäuser in Kaschmir durch. Demnach leiden etwa 41 Prozent der Kinder an einer posttraumatischen Belastungsstörung, der in einem Viertel der Fälle eine schwere Depression folgte. "Kinder in Kaschmir sind emotional besonders verwundbar. Der Verlust eines Elternteils führt zu psychischen Störungen, die sich manchmal in kriminellem Verhalten äußern."

Margoob wies zudem darauf hin, dass viele Waisen vorzeitig die Schule abbrechen, keine angemessene Gesundheitsversorgung erhielten, bereits als Kinder arbeiten müssten und Drogen nähmen. Wie der Kinderpsychologe A G Madhoosh erklärte, trägt die soziale Ausgrenzung von Waisen dazu bei, die Belastungen durch den Tod der Eltern weiter zu verschlimmern. (Ende/IPS/ck/11.11.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/10/haunted-and-depressed-the-struggle-of-orphans-in-kashmir/

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IPS-Tagesdienst vom 11. November 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2015

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