Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

JUGEND/320: Kinder- und Jugendschutz durch offene Jugendarbeit (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2014 - Nr. 106

Kinder- und Jugendschutz durch offene Jugendarbeit

Von Christian Peucker, Liane Pluto und Eric van Santen



Jugendzentren dienen nicht direkt dem Kinder- und Jugendschutz. Sie können Heranwachsende aber dabei unterstützen, eine eigenverantwortliche und unabhängige Persönlichkeit zu entwickeln und sich dadurch gegen Gefahren zu wappnen.


Das Angebot der offenen Kinder- und Jugendarbeit ist vielfältig. Es existiert zum Beispiel in Form von Jugendzentren, Jugendclubs, Häusern der offenen Tür, Spielmobilen, Bauwägen, Abenteuerspielplätzen oder Freizeitheimen. Junge Menschen nehmen dieses Angebot freiwillig und unregelmäßig wahr und schätzen es wegen der offenen Inhalte und Arbeitsweisen sowie der geringen Reglementierung (Sturzenhecker 2004). Die offene Kinder- und Jugendarbeit richtet sich grundsätzlich an alle Kinder und Jugendlichen und somit auch - aber nicht nur - an junge Menschen, die besonderen Gefährdungen ausgesetzt sind.

Der Kinder- und Jugendschutz steht nicht unmittelbar im Fokus der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Aber sie leistet einen wichtigen Beitrag dazu: durch die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen sowie durch ihre Unterstützungsangebote und ihre Brückenfunktion zu anderen sozialpädagogischen Institutionen. Genauso wie in anderen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe besteht ein Beitrag der offenen Kinder- und Jugendhilfe in der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zum Kinderschutz (Schindler 2013). Dies schließt unter anderem den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdungen nach Paragraph 8a des Achten Sozialgesetzbuchs (SGB VIII) ein. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen sind also wie alle Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe dazu verpflichtet zu reagieren, wenn junge Menschen in ihren Augen als gefährdet gelten, zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch oder schwerer körperlicher Gewalt (Kindler/Lillig 2011).

Die Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit bieten Kindern und Jugendlichen einen Ort, an dem sie ihre Freizeit nach ihren Bedürfnissen und Interessen verbringen und selbstorganisiert ihre Freizeit gestalten können. Die Orientierung an den Interessen von Kindern und Jugendlichen, die nach dem Prinzip der Selbstorganisation gefördert werden sollen, ist gesetzlich verankert: Nach Paragraph 11 SGB VIII sind "jungen Menschen (...) die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen." Die offene Jugendarbeit bietet damit in einem pädagogisch unterstützten Rahmen zum einen die Chance, auch riskantes Verhalten kennenzulernen und auszuprobieren, und zum anderen, Kompetenzen wie Entscheidungsfähigkeit und Eigenverantwortung zu vermitteln und damit einen Beitrag zu einer gesunden Identitätsentwicklung zu leisten, die junge Menschen vor gefährdenden Einflüssen schützen kann.


Doppelter Auftrag: junge Menschen integrieren und ihnen Freiräume bieten

Die historische Entwicklung der Jugendarbeit zeigt, dass diese Orientierung nicht immer im Zentrum der Jugendarbeit stand. In den Anfängen der offenen Jugendarbeit ging es vor allem darum, Jugendliche, die als Problem für die Gesellschaft betrachtet wurden, "mit erzieherischen Integrationsangeboten in die gesellschaftliche Ordnung hereinzuholen" (Hafeneger 2013, S. 37). Damals waren dies insbesondere männliche Jugendliche, die als sozial auffällig und verwahrlost galten. Auch heute stellen männliche Besucher in Einrichtungen der offenen Jugendarbeit die Mehrheit, auch wenn sich die Angebote breit ausdifferenziert haben. Die Geschichte der Jugendarbeit ist bis heute gekennzeichnet durch das Spannungsfeld, in dem sie ihre Aufgabe wahrnimmt: Einerseits soll sie der Gesellschaft dienen, indem sie Jugendliche beaufsichtigt (als normativ orientierte Kontrollinstanz). Andererseits soll sie Kindern und Jugendlichen Freiräume bieten, die sie zur Entfaltung einer eigenständigen Persönlichkeit brauchen. Dieser Gegensatz führt auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Jugendarbeit immer wieder zu Diskussionen: Inwiefern darf und soll die offene Jugendarbeit Risikoverhalten von Jugendlichen Raum geben und darauf vertrauen, dass Kinder und Jugendliche sich positiv entwickeln, wenn sie in einem geschützten Rahmen eigene Erfahrungen machen können?

Der sogenannte offene Treff ist gewissermaßen das Synonym für die Freiräume, die die offene Kinder- und Jugendarbeit jungen Menschen zur Verfügung stellt. Er bietet für Kinder und Jugendliche einen geschützten Rahmen, in dem sie sich treffen, ausprobieren und ihre Wirkung auf andere testen können, ohne dass sie von Erwachsenen umgeben sind oder zum Objekt einer wie auch immer gearteten Pädagogik werden. In 86 Prozent der Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit gibt es, wie die 2011 durchgeführte bundesweite Befragung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) bei über 1.100 Jugendzentren zeigt, einen offenen Treff (www.dji.de/jhsw). Jede siebte Einrichtung stellt solche offenen Treffs nicht explizit zur Verfügung, obwohl es eine Kernaufgabe offener Kinder- und Jugendarbeit ist, Freiräume zur Verfügung zu stellen. Sie arbeiten stärker mit pädagogisch vorstrukturierten Angeboten wie zum Beispiel kreativ-künstlerischen Kursen, Musikveranstaltungen oder Sprachkursen. Inwieweit dieses Ergebnis einen Trend anzeigt, dass offene Angebote derzeit für weniger wichtig gehalten werden und stattdessen wieder verstärkt gesellschaftliche Aufträge (zum Beispiel Integration oder Prävention) in den Vordergrund treten, ist noch offen.


Ganztagsschulen sind eine neue Konkurrenz für "offene Treffs"

Eine Anforderung, der viele Jugendzentren heute gegenüberstehen, ist die Beteiligung an einer verlässlichen Nachmittagsbetreuung in Kooperation mit Schulen: Ob sich das Aufgabenspektrum und das Selbstverständnis der offenen Jugendarbeit dadurch ändern wird, muss sich noch zeigen. Zum Zeitpunkt der DJI-Studie bot ein Drittel der Einrichtungen eine verlässliche Nachmittagsbetreuung an - und der Anteil ist seit dem Zeitpunkt der Erhebung sicher weiter gestiegen. Die steigende Beteiligung der offenen Jugendarbeit an der verlässlichen Nachmittagsbetreuung von Kindern und Jugendlichen - zum Teil mit Anwesenheitspflicht - hat an einigen Stellen Auswirkungen auf die Grundprinzipien offener Jugendarbeit: 16 Prozent der Einrichtungen sehen das Prinzip der Freiwilligkeit infrage gestellt und ein Drittel verzeichnet dadurch zeitliche und personelle Engpässe. Auch geben knapp ein Drittel der Einrichtungen, die verlässliche Nachmittagsbetreuung für Schülerinnen und Schüler anbieten, an, dass dadurch die Besucherschaft jünger geworden ist. Verlieren Jugendzentren gerade für Jugendliche durch Einschränkungen des offenen Betriebs, der Freiwilligkeit und der Altersstruktur der Besucherinnen und Besucher ihren Charakter als Orte, wo sich Jugendliche ausprobieren können und Gelegenheiten zur selbstbestimmten Freizeitgestaltung haben?

Jugendzentren haben eine Reihe von Angeboten, die explizit dazu dienen, junge Menschen bei konkreten Fragen und Problemen zu unterstützen. Dazu gehören zum Beispiel Schulungen zur Vorbereitung auf das Berufsleben (dies bieten 64 Prozent der offenen Einrichtungen an), Angebote zur schulischen Förderung (51 Prozent) oder Streetwork beziehungsweise mobile Jugendarbeit (27 Prozent). Fast neun von zehn Jugendzentren (87 Prozent) bieten ihren Besucherinnen und Besuchern zudem Beratung an. Die jungen Menschen suchen Beratungsgespräche meist nicht ausdrücklich, wenn sie in ein Jugendzentrum gehen. Die Gespräche ergeben sich meist aus einem Vertrauensverhältnis zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Jugendzentrum und den Jugendlichen. Darin geht es um eine breite Palette, angefangen von jugendtypischen Themen wie Beziehungen und Freundschaft oder den Übergang von der Schule in den Beruf bis zu auch für den Kinder- und Jugendschutz relevanten Themen wie Drogen, Sucht und Mobbing.

Die Hemmschwelle, die junge Menschen überwinden müssen, um bei Erwachsenen um Rat zu fragen, ist hier deutlich geringer. Die offene Kinder- und Jugendarbeit unterstützt junge Menschen mit Problemen gerade durch diese niedrigschwellige und alltagsorientierte "Beratung zwischen Tür und Angel". Sie findet in Form von beiläufig stattfindenden Unterhaltungen bis hin zu fest verabredeten Beratungsgesprächen mit Mitarbeitenden oder Externen statt, an die das Jugendzentrum weitervermittelt. Für einen Teil der Jugendlichen sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der offenen Jugendarbeit die Einzigen, an die sie sich bei Problemen wenden wollen.

Die offene Kinder- und Jugendarbeit leistet einen wichtigen Beitrag zu den Zielen des Kinder- und Jugendschutzes - dies funktioniert, weil sie ein offenes Angebot darstellt, das die Interessen der jungen Menschen berücksichtigt, Freiräume bietet und zugleich für alle Besucherinnen und Besucher, die Rat und Hilfe zu alterstypischen Fragen suchen (wie etwa Beziehungs- und Schulprobleme, Probleme mit Eltern und der Familie oder beim Übergang in Ausbildung und Beruf), ein niedrigschwelliges Unterstützungsangebot sein kann. Eine Herausforderung besteht darin, die offene Jugendarbeit mit ihren Grundprinzipien zu erhalten, damit sie diese Funktion auch in Zukunft wahrnehmen kann.


DIE AUTORIN, DIE AUTOREN

Christian Peucker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung "Jugend und Jugendhilfe" am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe und der Umgang der Kinder- und Jugendhilfe mit Migration.

Dr. Liane Pluto ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung "Jugend und Jugendhilfe" am DJI. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Strukturen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, Partizipation, Kinderschutz.

Dr. Eric van Santen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung "Jugend und Jugendhilfe" am DJI. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Hilfeverläufe, inter-institutionelle Kooperation, Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe.
Kontakt: pluto@dji.de


Literatur

Hafeneger, Benno (2013):
Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit seit 1945. In: Deinet, Ulrich/Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.): Handbuch offene Kinder- und Jugendarbeit. 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Wiesbaden, S. 37-47

Kindler, Heinz/Lillig, Susanna (2011):
Kinderschutz bei Jugendlichen? Schutzauftrag, Gefährdungsformen und Hilfen jenseits des 14. Lebensjahres. In: IzKK-Nachrichten, Heft 1, S. 10-16

Schindler, Gila (2013):
Kinderschutz in der offenen Kinder- und Jugendarbeit - Umsetzung der Paragraphen 8a und 72a SGB VIII. In: Deinet, Ulrich/Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 3. Auflage. Wiesbaden, S. 629-640

Sturzenhecker, Benedikt (2004):
Strukturbedingungen von Jugendarbeit und ihre Funktionalität für Bildung. In: neue praxis, Heft 5, S. 444-454


DJI Impulse 2/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

*

Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2014
- Nr. 106, S. 22-24
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2014